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Einführung

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Analysiert man das Geschehen in Unternehmen und Organisationen, so wird man zunächst zwei ›Bühnen‹ vorfinden. Auf der ersten, sichtbaren Bühne findet das beobachtbare, quasi offizielle Geschehen statt. Auf der zweiten, unsichtbaren Bühne findet der informelle, deshalb aber nicht weniger wirksame Teil des Geschehens statt. So mag zum Beispiel ›Sagen‹ und ›Tun‹ bei einigen Personen weit auseinander liegen, aber es ist nicht möglich oder statthaft, dies anzusprechen. Geschieht es – wie zuweilen im Falle neuer, noch nicht an die Routinen und ungeschriebenen Gesetze der unsichtbaren Bühne gewöhnten Mitarbeiter – dennoch, so lernen die Betreffenden schnell, was man sagen darf und was nicht.

An sich ist das ganz normal: Sobald Menschen zusammenkommen und miteinander arbeiten, bilden sich Verhaltensmuster und Regeln heraus, die sich mit der Zeit festigen und zur Gewohnheit werden. Die zwangsläufigen Diskrepanzen zwischen individuellem Wollen und den Routinen und Gesetzen der Gemeinschaft führen zur Existenz der beiden Bühnen. Grob gesagt: Das (Arbeits-)Leben ist ein Rollenspiel.

Im regulären Arbeitsalltag ist es weder sinnvoll noch notwendig, die strategischen Verhaltensweisen und etablierten Rollenspiele der ersten Bühne stören oder gar verändern zu wollen. Anders ist das jedoch, wenn sich mit den Jahren die Rollen so verfestigen, dass mit externen Veränderungserfordernissen (neue Produkte, veränderte Kundenwünsche) oder internen Impulsen (Vorschläge, Lernen aus Fehlern) nicht mehr adäquat umgegangen werden kann.

Ein beinahe klassisches Beispiel

Die Produktentwicklungsabteilung eines mittelständischen Unternehmens wird im Zuge starken Wachstums vergrößert und erhält einen neuen Chef. In den ersten Jahren entwickelt die Abteilung immer wieder neue Konzepte und trägt wesentlich zum Wachstum bei. Dann festigen sich die Kundenbeziehungen und man beginnt, mehr auf Kundenwünsche zu reagieren als aktiv den Markt mit neuen Ideen zu gestalten. Nach einigen weiteren Jahren verändert sich der Markt, und Wachstumspotenziale sind nicht mehr bei den etablierten Kunden, sondern in einer Branche zu erkennen, mit der das Unternehmen noch keine Erfahrungen hat. Der Geschäftsführer weist in strategischen Runden immer wieder auf das neue Potenzial hin, doch es passiert wenig. Nach einem weiteren Jahr wird eine Person angestellt und als Stabsstelle direkt an der Geschäftsleitung angebunden, die sich mit der avisierten Wachstumsbranche auskennt und die entsprechenden Aktivitäten nun als ›Projekt‹ aufbaut. Die Schwierigkeiten mit der etablierten Abteilung und insbesondere mit dem Leiter sind zwar vorprogrammiert, werden aber vom Geschäftsführer wissend in Kauf genommen.

Ein solcher Ansatz, im Problemfall ›Bypässe‹ zu legen, kann funktionieren; oft genug tut er das jedoch nicht. In jedem Fall kommt es zu einer Vergrößerung der Diskrepanzen zwischen der ersten Bühne (was ist erlaubt zu sagen) und der zweiten Bühne (was möchte man eigentlich erreichen). Und an solchen Stellen ist es notwendig, das Geschehen auf der zweiten Bühne – zumeist geht es da um Ängste oder die Folgen von Angst, also um Gewinnen oder Verlieren – ansprechbar zu machen. Werden Interventionen notwendig, müssen also ›Tun‹ und ›Sagen‹, zumindest vorübergehend, zusammenfinden.

In der Realität von Unternehmensveränderungen wird die zweite (verdeckte oder informelle) Bühne häufig ausgeblendet oder ihre Existenz wird schlicht verneint. Darin liegt die Ursache, warum viele Veränderungsvorhaben an den menschlichen Faktoren scheitern. Doch ganz gleich, ob der Veränderungsimpuls durch – was weit häufiger der Fall ist – technische oder – was die selteneren Anlässe sind – zwischenmenschliche Probleme ausgelöst wurde: Beide Faktoren beeinflussen sich gegenseitig.

Wird beispielsweise eine neue Software eingeführt, so ist dies nicht nur eine technische Herausforderung. Nach unserer Erfahrung ist die technische Seite die leichter umsetzbare. Komplizierter wird es bereits bei der Analyse der Auswirkungen der neuen Software auf die unternehmensinternen und -externen Prozesse bzw. beim Design der entsprechenden Prozessanpassungen. Die dritte und höchste Hürde bilden erfahrungsgemäß die menschlichen Faktoren: Die individuelle Motivation, die neue Software zu benutzen oder die Dynamik von Widerständen, etwa in Form kollektiver Ablehnung der Software in Teams oder ganzen Abteilungen, haben entscheidenden Einfluss auf den Erfolg eines solchen Projekts.

Unsere Schlussfolgerung aus den bisherigen Darstellungen lautet deshalb: Technische, betriebswirtschaftliche und menschliche Belange stehen in unmittelbarer Wechselwirkung und müssen integriert betrachtet werden. Veränderungsvorhaben sind, so technisch oder ›zahlenlastig‹ ihr Anlass auch sein mag, immer auch Organisationsentwicklungsprojekte. Und Organisationsentwicklungsprojekte haben immer auch einen Einfluss auf die technischen und betriebswirtschaftlichen Kenngrößen. In der Regel sind die Abläufe und die menschlichen Faktoren zusammenhängend betroffen. Eine Trennung der Dimensionen in Abhängigkeit vom Auslöser gibt es nicht. Es braucht Menschen, die als Führungskräfte in der Lage sind, die beschriebene ›Nichttrennbarkeit‹ zu erkennen und ethisch bzw. vorbildhaft zu führen. Diese Sichtweise ist im Grunde nicht neu – es sei stellvertretend auf den soziotechnischen Ansatz verwiesen –, jedoch haben sich die Lösungsansätze für betriebswirtschaftliche und technische Fragestellungen einerseits und für die menschlichen Facetten organisationaler Veränderungen andererseits in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend getrennt voneinander entwickelt und sich dementsprechend immer weiter voneinander entfernt. Angesichts der Komplexität heutiger Unternehmenslagen erscheinen integrierte bzw. interdisziplinäre Betrachtungen zwar dringend geboten, ein Blick in die Fachdisziplinen legt jedoch die Vermutung nahe, dass dies derzeit kaum versucht wird (vgl. Halek 2012; Heidig 2012). Das möchten wir ändern, indem wir die zu bearbeitenden fachlichen Belange mit den Arbeitsabläufen, den menschlichen Faktoren sowie den Führungshaltungen und Wertvorstellungen im Zusammenhang betrachten.

Prozesspsychologie

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