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In ihrem Traum ging sie an einem weißen Strand spazieren und blickte über das türkisfarbene Meer. Sie spürte Wasser und Sand zwischen ihren Füßen verrinnen und fühlte den warmen Sommerwind zärtlich wie Fingerspitzen über ihre Haut streicheln. Alle Fragen hatte ihr der Wind beantwortet und alle Sorgen waren wie weggeweht. Erleichtert atmete sie auf.

Doch die Realität kennt keine Gnade.

Auch wenn der Wind ihr nicht die Sorgen der vergangenen Wochen nahm, Gundis muss aufstehen.

Groggy richtet die zierliche Sängerin sich von der unbequemen Schlafcouch auf und verlässt das Gästezimmer ihrer eigenen Wohnung.

Bevor sie ins Bad schleicht, lauscht sie noch an der Schlafzimmertür, hinter der David die zweite Nacht allein schläft. Doch alles ist Mucksmäuschenstill und Gundis atmet, wie schon im Traum, erleichtert durch.

Im Bad wäscht sie mit lauwarmem Wasser ihr leicht herbes Gesicht, schminkt die Wimpern ihrer blauen Augen mit schwarzer Tusche und kämmt ihr langes, blondes Haar.

Obwohl ihr Teint frisch wirkt und ihre Haut sichtbar weich ist, findet sie sich blass und überlegt, etwas von dieser bräunenden Make-up-Creme aufzutragen. Verunsichert, sich Chemie aufs Gesicht zu packen, öffnet sie die Schublade in der Badezimmerkommode.

»Mom hatte recht«, flüstert sie, während sie die Tube herausnimmt und ihr Kopf die Worte ihrer Mutter nochmal abspult: »David«, sagte sie damals, »steckt in einem ziemlich dicken Dilemma und braucht dringend Hilfe.«

»Oh, bitte verschone mich mit deinem psychologischen Geschwafel, Mama, und hör auf, ihn wie einen deiner Patienten zu behandeln«, sagte Gundis nur und schenkte dem Rat ihrer Mutter als Psychologin kein Ohr. »David hat ein paar Fehler gemacht«, fuhr sie fort. »Doch er hat sie eingesehen und mir versprochen, sich zu ändern!«

»Ja«, mischte ihr Vater sich ein. »Das haben mir schon so viele gesagt, ’ich werde mich ändern’, und kaum habe ich ihren Freispruch durchgeboxt, fingen die meisten genau da an, wo sie aufgehört hatten.« Er sprach wahre Worte aus seiner dreißigjährigen Anwalt-Erfahrung.

Das war vor zwei Jahren. Kurz danach hatte sie sich mit David das Eheversprechen gegeben. Auch wenn ihre Beziehung damals durch seine Spielsucht enorm belastet war, wirkte sich die Verantwortung ihres Versprechens positiv aus und schaffte neuen Schwung, um das Problem in den Griff zu bekommen. Zumindest hatte sie es so empfunden. Fakt war jedoch, dass die Sensibilität für ihre eigene Beziehung versagt hatte. Dreimal hintereinander in den ‚Top Ten‘ zu sein, hat ihr den realistischen Blick geraubt und sie glauben lassen, alles sei okay, auch dann noch, als David vor einem Jahr begann, wie ein Irrer Überstunden zu machen und fast jeden Abend zwei, drei Stunden später nach Hause kam. Erst als er anfing, auch an den Wochenenden in der Druckerei zu arbeiten, wurde Gundis stutzig und hakte eindringlicher nach. David erklärte ihr, dass es in der Druckerei Probleme gäbe, über die er nicht sprechen dürfe. Er müsse sich täglich mit einem Mann aus New York treffen, der ihm angeblich aus der Führungsetage der Druckerei zur Seite gestellt wurde. Gundis fand das merkwürdig und hatte trotzdem den Verdacht, dass er die Überstunden bei einer anderen ablegt oder vielleicht wieder der Spielsucht verfallen ist und jetzt dringend Geld braucht. Aber um ihn auf das Thema Spielsucht anzusprechen, fehlte ihr bislang der Mut – wahrscheinlich deshalb, weil sie seine Antwort ohnehin schon kennt. »Gundis«, würde er ihren Namen in weiche und sensible Töne packen, »Schatz, deine Liebe hat mich aus der Sucht befreit und mich auf ewig vom Spielen fortgerissen. Der verdammte Sturm der Arbeit wird vergehen. Er wird wie der frühe Nebel am Morgen von der Sonne vertrieben und dir sagen, du brauchst dich nicht zu Sorgen, der Drops mit dem Spielen ist gelutscht.«

Zumindest äußerte er sich das letzte Mal so poetisch inkompetent, als sie ihn auf das Thema ansprach und er dabei auch noch so tat, als wäre er unwiderstehlich und als sei es eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass sie ihn damals mit ihrem Geld aus den Klauen der Kredithaie zog.

Gundis fragt sich, was schlimmer für sie wäre: dass er es mit einer anderen treibt oder heimlich wieder spielt und Berge von Geld verzockt. In beiden Fällen bliebe jedenfalls, dass er abermals lügt, ihr angeschlagenes Vertrauen missbraucht und dass ihre Mutter recht hatte. »Die Beziehung«, sagte sie damals, »wird sich im Kreis drehen.«

Genauso ist es gekommen. Der Schwung ihrer Verlobung kam zum Stillstand. Die gemeinsamen Visionen vom eigenen Heim, Familie und Kindern sind genau wie in den vier Jahren davor kümmerlich wie eine Pflanze ohne Wasser verdorrt.

Auch wenn ihr das am Ende bewusst war, wollte sie nicht aufgeben und unterbreitete David den Vorschlag, ihre Beziehung, wie schon bei ihrer Verlobung, auf einem stabileren Fundament namens Ehe zu bauen – es zumindest mal in Erwägung zu ziehen, anstatt auf ewig so zu leben, als sei die Ehe noch nicht erfunden worden.

Mit Augen, die so groß und erschrocken waren, als hätte er ein Gespenst gesehen, sah er sie an und schwieg wie ein Grab. Derweil sind zwei Wochen vergangen. Gundis glaubte bis vorgestern, dass David das Thema unter den Tisch schweigen würde. Doch da hat sie sich geirrt. Ausnahmsweise riss er sich an diesem Nachmittag mal pünktlich von der Arbeit oder der Geliebten los und kam mit einem falschen Lächeln auf den Lippen zu ihr ins Wohnzimmer. Er baute sich, stolz wie Oskar und so, als sei er der Friedensstifter des Jahrhunderts, vor ihr auf und drückte ihr einen Umschlag in die Hand. »Hey«, sagte er so, als wäre dies ihr Glückstag. »Ich habe Urlaub für dich gebucht. In drei Tagen geht es los, drei Wochen Ägypten, nur du allein. Ja, ich bin schuldig im Sinne der Anklage und...« Er stockte plötzlich. »Welche Anklage?«, dachte Gundis.

»Und«, fuhr er fort, »ich gestehe, dass ich mir gelegentlich mal ein Spielchen gönne. Aber ich möchte es wiedergutmachen und schenke dir deshalb diese Reise.«

Gundis war so geschockt, dass sie das Ticket auch noch annahm. Erst hinterher fragte sie sich, warum er nichts zu ihrem Vorschlag gesagt hat und plötzlich zugibt, wieder zu spielen. Ihr war klar, dass sein Reden nur aus Floskeln bestand und dass das Flugticket weder eine Antwort auf ihren Vorschlag noch eine Entschuldigung dafür war, sie ein zweites Mal belogen zu haben.

»Wieso Ägypten?« Gundis fragt ihr Spiegelbild so, als könne es ihr eine Antwort geben, warum er sie in ein Land schickt, für das sie sich nicht interessiert. Natürlich findet sie die Pyramiden faszinierend, aber nicht so, dass sie eine Reise dorthin buchen würde. Jedenfalls kann sie sich nicht daran erinnern, vor David jemals erwähnt zu haben, den Arabern dort einen Besuch abstatten zu wollen. Gundis schüttelt den Kopf und murmelt vor sich hin: »Womöglich dachte er: O Gott, heiraten, schick sie und ihre dumme Idee bloß weg, versteck sie irgendwo in den Pyramiden, wo sie keiner findet.«

In ihren Augen sammeln sich Tränen.

»Ach was soll‘s«, sagt sie leise und wischt die entronnene Träne von ihrem Gesicht.

»Warum zerbreche ich mir den Kopf. Ich fliege doch so nicht.«

Wütend wirft sie die selbstbräunende Make-up-Creme in die Schublade zurück.

»Die brauch ich nicht«, sagt sie.

Gundis schaut ein letztes Mal in den Spiegel und spielt arrogant.

»Hübsch! Viel zu hübsch für Ägypten und... viel zu hübsch für David.«

Wie so oft in den letzten Tagen denkt sie an die Anfangszeit ihrer Beziehung.

Was war es, was ihr damals so den Kopf verdrehte? War es seine männliche, ungezähmte Erscheinung? War es der Dreitagebart? Waren es die dunkelgrünen Augen, der schulterlange braune Haarschopf? Fruchtete seine Attraktivität vielleicht doch aus der Mischung des sportlichen Basketballspielers und charmanten Machos mit einem IQ von hundertsiebzig? Mit einunddreißig schon Qualität-Chef der staatlichen Geldnoten-Druckerei Kanadas zu sein, schmeichelte nicht nur den Frauen.

Doch wer David kannte, wusste, dass er ein Maulheld war, der sich bei den Leuten mit Intelligenz, schlauen Sprüchen und leeren Versprechungen vergebenes Vertrauen erkaufte. Gundis Eltern haben das früh erkannt. Als Davids Spielsucht im vierten Jahr ihrer Beziehung entlarvt wurde und er sich strikt weigerte, einer Therapie beizuwohnen, hatten zumindest sie das Ende schon vor Augen.

Mit dem Gedanken, es wäre besser gewesen, auf ihre Mutter zuhören, verlässt sie ohne ein lautes Geräusch das Badezimmer und harrt dann kurz vor der Schlafzimmertür aus – immer noch ist kein Mucks von David zu hören.

»Gut«, denkt sie und lässt leise den angehaltenen Atem aus ihrem Körper.

Auf Zehenspitzen tappt sie weiter und sucht alles, was sie heute im Studio braucht, zusammen. Nachdem sie ihren Aktenkoffer gepackt hat, eilt sie auf leisen Füßen zur Wohnungstür. Gerade als sie hinauswill, steht David hinter ihr.

»Wo willst du denn so früh hin?«, fragt er.

Sportlich wie er ist, steht er nur in Pyjamahose da und bindet sich das schulterlange Haar zu einem Zopf. Gundis verdreht mit dem Türgriff in der Hand die Augen.

»Na, wohin schon, ins Tonstudio«, sagt sie, bemüht, höflich zu bleiben.

»Ja, aber musst du denn nicht packen?«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich diese idiotische Reise mache?«, giftet sie und schaut ihn fest entschlossen an.

Gundis zuckt zusammen, als in Davids Augen plötzlich Panik aufblitzt.

»Ja«, zögert er eine Sekunde. »Das wäre das Beste«, erwidert er dann aber unerwartet ruhig.

»Das Beste für wen, für dich?«

»Nein, für uns. Aber ich denke dabei in erster Linie nur an dich. Es wäre das Beste für dich.«

»So ein Quatsch! Als wenn du dir je Gedanken darüber gemacht hättest, was für mich oder uns das Beste wäre. Du hast unsere Beziehung doch immer nach deinen Vorstellungen gelebt! Tatsache ist, dass du mich seit sechseinhalb Jahren belügst! Wer weiß, was noch für dunkle Geheimnisse in dir schlummern, angesichts dessen, dass wir keinen Sex mehr haben. Von wegen, ich brauche Zeit, von wegen, ich bin noch nicht reif für Ehe und Kinder! Die Wahrheit ist, dass du deine verdammten Überstunden bei einer anderen schiebst!« Sie schluckt. »Aber okay! Ich akzeptiere das! Es ist dein Leben und deine Entscheidung.«

David schweigt.

»Danke für die ehrliche Antwort,« sagt sie leise.

Er tritt gegen den fadenscheinigen Teppich, schaut sie nicht direkt an. »Nein, so ist es nicht.«

Sie hebt ihr Gesicht. Alle Muskeln darin sind angespannt. »Wie ist es denn?«

»Du verstehst das falsch...«

»Ich verstehe das falsch? Wer mich sechs Jahre lang anlügt, bei dem verstehe ich nichts falsch! Du brauchst dich um nichts zu kümmern, wenn ich nächste Woche hier ausziehe.«

Bevor David etwas sagen kann, verlässt Gundis die Wohnung.

»Blöde Kuh«, murmelt er ärgerlich und geht zurück ins Schlafzimmer.

Ungewohnt früh betritt Gundis wenig später die Kantine des Tonstudios und wird von den Angestellten dort neugierig angeschaut. Mit Kaffee und einem belegten Brötchen nimmt sie irgendwo in der leeren Kantine Platz.

Bis auf das schwarze Gold in ihrer Tasse fehlt ihr aber jeglicher Appetit. In der Frage versunken, was noch, außer Davids Plan mit der Geliebten durchschaut zu haben, die blanke Panik in seinen Augen aufblitzen ließ, kommt ihr plötzlich der Gedanke, ob er krumme Geschäfte macht.

»Im Leben nicht«, flüstert sie.

Gundis kennt David genau und weiß, dass er nie taff genug wäre, um ein krummes Ding bis zum Ende durchzuziehen.

»Nein«, sagt sie sich. »Da ist eine Andere im Spiel! Hübsche Frauen laufen ihm in der Druckerei wohl genug vor der Nase rum.« Gundis schlägt, den Tränen nahe, die Hände vors Gesicht. »Soll er doch«, flüstert sie dabei. »Soll eine Andere sich ihr Leben versauen und seinen charmanten Lügen glauben. Wer auch immer es ist, wird schon herausfinden, dass David eine vergoldete Mogelpackung ist, die viel verspricht und wenig hält!«

»Versuchst du gerade, dein Brötchen mit Jedi-Kräften anzuheben?«

Hinter Gundis geschlossenen Augen erscheint zu der Stimme gestochen scharf das kakaobraune Gesicht ihrer besten Freundin Tina.

»Ja, verdammt«, sagt sie. »Ich frage mich die ganze Zeit, wie das der kleine grüne Knirps wohl macht.«

»Weißt du eigentlich, dass deine Yoda-Nachahmungsversuche genauso beschissen aussehen wie du?«

»Danke.« Gundis lacht. »Setzt du dich trotzdem einen Moment zu mir?«

»Na klar. Lass mich raten. Dein Problem sind nicht die Jedi-Kräfte, sondern David.«

»Ja«, sagt Gundis und berichtet, was noch hinzugekommen ist.

Tina schüttelt empört den Kopf.

»Und jetzt weißt du nicht, was du machen sollst?«

»Na klar, ich zieh aus, sagte ich doch gerade.«

»Nein, ich meine mit der Reise.«

»Was soll ich in Ägypten?«

»Dir auf seine Kosten ein paar schöne Tage machen! Ich spreche in der Zeit mit meinem Schwager. Er kennt einen Immobilienmakler, der dir mit Sicherheit ein schönes Apartment besorgen kann. Und wenn du in drei Wochen wieder da bist, räumen wir zwei deine Sachen aus seiner blöden Bude und hey, wer weiß, vielleicht wartet ja der voll heiße Urlaubsflirt auf dich.«

Gundis schaut in ihren Kaffee und weiß, dass Davids Geschichte mit den Überstunden und der Anordnung, absolutes Stillschweigen über seine derzeitige Arbeit zu leisten, genauso blödsinnig sind wie der Mann aus New York, mit dem er sich ja dauernd treffen muss – der Mann ohne Gesicht, wie Gundis sagt, der wie ein Phantom im Dunkeln bleibt, ist garantiert eine Frau.

»Du hast Recht, Tina«, sagt Gundis. »Wenn er sein Geld unbedingt loswerden will, dann mache ich die Reise.«

Tina lacht. »Das ist die Gundis, die ich kenne.«

Tribut der Wahrheit

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