Читать книгу Mord à la carte in Schwabing - Jörg Lösel - Страница 10
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ОглавлениеMan hatte Tom in einem Großraumbüro einen kleinen Schreibtisch mit einem Dienstcomputer zugewiesen. Neonlicht, miese Luft und laute Telefonate sorgten bei ihm für das Gefühl, in einer Legebatterie gelandet zu sein. Er musste sich den PC mit anderen Autoren teilen, und da diese keine Frischlinge mehr waren und in den normalen Arbeitsalltag eingebunden, musste er sich hinten anstellen. Er hatte sich fest vorgenommen, am nächsten Tag sein Laptop mitzubringen. Da hatte er zwar keinen Zugang zu den Presseagenturen, die für die Themenfindung wichtig waren, aber er konnte wenigstens unkompliziert recherchieren und schreiben.
Er saß verloren auf einem Stuhl neben dem kleinen Schreibtisch, Eike benötigte den Computer erst einmal für sich. Bei der morgendlichen Redaktionssitzung war keine Arbeit für Tom abgefallen. Karen war wieder mit im Redaktionsteam – auf der Stirn ein transparentes Pflaster und auf dem Gesicht eine Miene, als würde sie nun zu den hässlichen Entlein gehören und niemand, vor allem kein Vorgesetzter, würde noch ein Auge auf sie werfen.
Als Tom sie fragte, wie es ihr denn ginge, funkelten ihre blauen Augen vernichtend, und sie giftete ihn an: »Wegen dir musste ich mich von Neuwirt beschimpfen lassen. ›Wie kannst du so jemanden vor die Kamera lassen? Das wäre beinahe in die Hose gegangen‹, hat er gesagt. Und von meiner Verletzung wollte er gar nichts wissen.«
Mit diesen Worten warf sie die blonden Haare über die Schulter, drehte sich um, und ließ Tom geknickt zurück.
Während er dem Konflikt mit Karen noch in Gedanken nachhing, hörte er plötzlich von Eike: »Wow! Das ist ja ’n Ding!«
Eike druckte eine Meldung aus dem News-Portal aus.
»Was ist los?«, fragte Tom.
»Der Franzose ist tot, Monsieur Lalonge, der dein Auto vollgekotzt hat. Bei der Obduktion hat man Reste von Liquid Ecstasy gefunden, das für seinen Tod mitverantwortlich sein soll. Das ist doch ’ne Bombe! Und es kommt noch besser! Weißt du, was er von Beruf war? Tester vom Guide Michelin! Ausgerechnet so einer stirbt im Sterne-Restaurant an Rauschgift. Komm, wir gehen zum Chef!«
Neuwirt saß lässig, die Füße auf den Schreibtisch gelegt und mit einem Zahnstocher in Mund, in seinem Büro und sah sich eine Sendung vom Vorabend an. Flapsig fragte er: »Was wollt ihr denn schon wieder von mir?«
Eike setzte sich dem Redaktionsleiter gegenüber auf einen Stuhl, Tom blieb mit einem Sicherheitsabstand dahinter stehen. Als Neuwirt die Geschichte um den Tod des Testers von Eike gehört hatte, stimmte er einem Dreh sofort zu. »Setzt euch dran, bestellt bei der Kameradispo ein Team. Wir brauchen diese Story. Eike, Sie machen den Beitrag!«
Vorsichtig räusperte sich Tom. »Ich hätte da noch eine Idee.«
»Und welche?«
»Ich könnte als Augenzeuge interviewt werden. Ich war der Einzige, der Lalonge beim Verlassen des Lokals gesehen hat, ich habe ihn mit versorgt, und ich habe den Notarzt rufen lassen.«
Neuwirt nahm seine Füße vom Tisch, warf den Zahnstocher in einen Abfalleimer und rieb sich die Hände. »Sie sind wohl auf den Geschmack gekommen.« Er richtete sich in seinem Sessel auf und fixierte Tom. »An einem Tag Reporter im On, am nächsten Augenzeuge in derselben Sache, das ist merkwürdig, da kriegen wir ein Glaubwürdigkeitsproblem, Herr Kollege.«
Tom sah betroffen auf den Boden, Neuwirts Argumentation klang für ihn recht plausibel. Dass er da selbst nicht dran gedacht hatte …
Eike, der den Disput angespannt verfolgt hatte, rettete für ihn die Situation. »Ich könnte Tom aber gut für eine schnelle Recherche brauchen.«
»Natürlich, wenn Sie eine Verwendung für ihn haben.«
Kaum hatten die beiden Neuwirts Büro verlassen, sagte Eike zu Tom: »Ich finde deinen Vorschlag gar nicht schlecht. Sonst suchen wir immer Augenzeugen, jetzt hätten wir einen im Haus, und dann darf man ihn nicht nehmen.«
»Das Glaubwürdigkeitsproblem ist keins, meinst du das?«
»Genau. Du warst ja dort, du bist ein Zeuge.«
»Wahrscheinlich wollte er nach dem gestrigen Bericht nicht, dass ich noch mal im On erscheine.«
Eike klopfte Tom auf die Schulter. »So schlecht war das fürs erste Mal nicht.«
Als Tom und Eike mit dem Teamwagen beim Odeon ankamen, wimmelte es dort von Polizeifahrzeugen. Tom hatte recherchiert, dass der Einsatzleiter im Fall Lalonge autorisiert war, ein Statement abzugeben, und er machte sich auf die Suche nach dem Mann. Zunächst lief ihm Ben Williams über den Weg. Da er mitgeholfen hatte, Lalonge vor zwei Tagen vor dem Restaurant zu versorgen, fragte ihn Tom, ob er bereit wäre, etwas darüber in die Kamera zu sagen, aber das wies der »Chef de la réception« weit von sich: »Gehen Sie zur Polizei, die hat das Sagen.«
»Wo finden wir den Einsatzleiter?«
»Der ist sicher in der Küche. Die durchsuchen dort alles.«
Ben Williams drängte sich übellaunig an Tom vorbei Richtung Restaurant-Büro.
Tom und Eike sahen rund ein Dutzend Männer, die die Küche auf den Kopf stellten. Sie hatten zahlreiche schwarze und blaue Plastikkisten mitgebracht, sortierten Obst, Gemüse, Fleisch und Fisch in kleine Plastikbeutel und beschrifteten sie. Schränke standen offen, auch Kühlschränke, und auf den Tischen lagen Berge von Rhabarber, Heidelbeeren, Salaten, Eiern, Mandeln, Gewürzen, Hummer, Morcheln, Spargel, Bohnen, Blumenkohl- und Wirsing-Köpfen, dazwischen Töpfe und Pfannen jeglicher Größe, Messer, Pfannenwender, Siebe und alle möglichen anderen Kochutensilien.
Als einer der Männer, ein bulliger Typ mit rotem Gesicht, Bierbauch und schwarzer Lederjacke, die beiden Journalisten entdeckte, kam er auf sie zu und sagte unwirsch: »Das ist eine polizeiliche Ermittlung! Was wollen Sie hier? Sie haben hier nichts verloren.«
Eike stellte sich vor und erkundigte sich nach dem Einsatzleiter, aber der Rotgesichtige legte Eike die Pranke auf die Schulter und schob ihn vor sich her. »Gehen Sie jetzt! In den Gastraum! Ich informiere den Kollegen.«
Kokett und auch für den Polizisten gut vernehmbar sagte Eike zu Tom: »Was für ein roher Kerl. Und dann fasst er mich auch noch an …!«
Nach fast einer halben Stunde kam ein kleiner Mann auf die beiden Reporter zu. Er hatte eine sehr große Nase, einen an den Spitzen nach oben gezwirbeltem Schnurrbart, kurz geschnittene graue Haare und steckte in einer zu großen Jeans, bei der Hosenträger das Rutschen verhinderten. Er sagte in breitem Bayerisch: »Ich hab g’hört, Sie woll’n was von mir. Ich bin der Einsatzleiter, Obermeier, Georg.«
»Wir würden gerne für den Sender TV 1 über den Todesfall Lalonge berichten, und die Pressestelle sagte uns, Sie könnten etwas über den Stand der Ermittlungen sagen. In die Kamera, meine ich.«
»Oh, hallo, ja sauber. So viel kann i da gar ned sag’n.«
»Ich verstehe, dass Sie zu den Ergebnissen der Ermittlungen nicht viel sagen können, aber sicher etwas zum Stand der Ermittlungen.« Ein wenig belehrend hatte Eike geklungen, als ob er diesen Satz schon x-mal von sich gegeben hätte.
»Und wo soll das passieren?«, fragte Obermeier.
»Am besten machen wir das Interview vor dem Restaurant. Das steht ja jetzt im Mittelpunkt Ihrer Untersuchungen.«
»Gut, ich überleg mir was.«
Nachdem der Kameramann mit seinem Assistenten einen geeigneten Platz vor dem Odeon für die Aufnahme gefunden und die Kamera aufgebaut hatte, stellten sich Eike und Obermeier in Positur.
»Und wie schau’g i aus?« Obermeier zog an seiner Hose.
»Wir machen nur ein Brustbild. Man sieht Sie nicht ganz.«
»Passt mei Schneizer?«
»Sehr symmetrisch. Alles gut«, antwortete Eike.
Dann kamen die Kommandos – Kamera ab, Kamera läuft, bitte sprechen!
Eike fragte: »Wie ist der Stand der Ermittlungen im Fall Lalonge?«
»Wir sind von der Staatsanwaltschaft in Kenntnis gesetzt worden, dass Herr Lalonge durch einen Herzinfarkt zu Tode gekommen ist, der eventuell durch Zuführung von Liquid Ecstasy mitverursacht wurde. Die Substanz ist normalerweise nur schwer festzustellen, aber bei der Obduktion wurden Reste davon im Urin gefunden. Sie ist ihm möglicherweise hier im Restaurant zugeführt worden, denn Herr Lalonge bekam beim Verlassen des Restaurants einen Herzanfall, der dann zum Herzinfarkt führte. Deshalb müssen wir die Lokalität gründlich durchsuchen. Natürlich wissen wir nicht, wo ihm das Liquid Ecstasy zugeführt wurde oder ob er es vielleicht selber eingenommen hat. In seinem Hotelzimmer haben wir jedenfalls keine Spuren davon gefunden.«
»Haben die Vorwürfe gegen den Sternekoch Steineberg, es gäbe Haschisch in seinen Menüs, etwas mit der heutigen Untersuchung zu tun?«
Obermeier schüttelte den Kopf. »Das ist auszuschließen. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun!«
Eike signalisierte dem Kameramann, dass er die Aufzeichnung stoppen solle. »Wir machen das Ganze noch einmal. Vielleicht können Sie es etwas knapper formulieren.«
Obermeier zog den lippenlosen Mund zu einer Schnute. »War’s ned gut? Ich hob mir Mühe gehm, dass i ned zu boarisch sprech.«
»Doch, es war sehr schön, aber wenn es knapper ginge, wäre es besser. Wir sind eng bemessen in unserer Fernsehzeit.«
Tom beobachtete ungeduldig die weiteren Versuche, und schließlich entließ Eike Obermeier in seinen polizeilichen Alltag. Eine bessere Version als die erste hatte der Mann nicht zustande gebracht.
Als der Einsatzleiter verschwunden war, ahmte Eike gefrustet in Obermeiers Tonfall das bürokratische Deutsch des Polizisten nach: »… die Zuführung von Liquid Ecstasy mitverursacht.« Tom lachte und Eike wiederholte die Floskel noch mal. Das Team hatte schon begonnen, die Kamera vom Stativ zu schrauben, da rief Eike plötzlich: »Baut noch nicht ab! Tom, du musst deine Geschichte erzählen. Von Obermeiers Statement kann ich nur einzelne Sätze nehmen.«
»Du weißt, dass Neuwirt das nicht will!«
»Das Material wird nicht reichen. Und die Art, wie sich Zwergnase präsentiert hat, ist auch kein Knüller. Einschläfernd wirkt er – wie ein Beamter auf Urlaub.«
»Eike, das ist offener Widerstand gegen die Heeresleitung – oder?«
»Keine Sorge, ich rede mit Neuwirt.«
»Von mir aus können wir es gerne versuchen, du musst es ja nicht nehmen.« Tom wollte kein Kollegenschwein sein, und auf dem Bildschirm zu erscheinen, hatte ihm auch sehr gefallen.
Ein paar Stunden später saßen Tom und Eike im Schneideraum und warteten auf die Abnahme durch Neuwirt. Als er energiegeladen mit einem süffisanten Lächeln den Raum betrat, wusste Tom, warum er die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen gehabt hatte.
Eike hatte tatsächlich seine Aussage in den Beitrag hineinschneiden lassen, das hatte der Geschichte zu mehr Authentizität verholfen. Mit Bauchgrimmen wartete Tom darauf, wie Eike das Statement erklären würde.
»Herr Neuwirt, ich habe doch zwei Sätze von Tom mit hineingenommen. Ich denke, so ist das Stück besser. Schauen Sie es sich einfach einmal an.«
Augenblicklich verfinsterten sich Neuwirts Gesichtszüge, und als er den Beitrag gesehen hatte, fing er an zu poltern: »Ich habe laut und deutlich gesagt, dass das nicht geht. Schneiden Sie das Zeug wieder raus!« Er musterte Tom finster vom Kopf bis zu den Füßen. »Für einen Neuling in der Redaktion lehnen Sie sich aber ganz schön weit aus dem Fenster.« Eiligen Schrittes verließ er den Schneideraum und warf geräuschvoll die Tür hinter sich zu.
Niedergeschlagen und mit zittrigen Fingern tastete Tom nach seiner Zigarettenschachtel in der Lederjacke. Eike machte sich verlegen mit dem Cutter an die Arbeit.
Missmutig hatte sich Tom die Ausstrahlung des Beitrags noch im Sender angesehen. Als Eikes Stück gelaufen war, packte er seinen Rucksack mit allen Unterlagen, die er zu dem Fall zusammengetragen hatte, und verließ die Redaktion. Er wollte nur nach Hause, duschen und dann Lisa anrufen.
Im Auto steckte er sich eine Zigarette an und ließ auf dem Nachhauseweg seinen Tag nochmals Revue passieren. Ihm machten die Fernseharbeit, die Recherchen, das Drehen, der Schnitt und das Texten Spaß, die Arbeit war einfach fabelhaft. Aber wie sollte er sich durchsetzen gegen einen Mann, der ihm keine Chance ließ, jedoch die Macht auf seiner Seite hatte? Was hätte er dagegen sagen können? Dass Eike die Aufnahmen von ihm gefordert hatte? Er hatte seinen Kollegen nicht bloßstellen wollen. Er grübelte darüber, wie er mit Schlagfertigkeit die Situation hätte entspannen können. Doch ihm fiel nichts ein. Er war auf sich allein gestellt und ein unbeschriebenes Blatt. Er hatte einfach schlechte Karten.
Seine Mutter hatte ihn gestern noch in den höchsten Tönen gelobt. Das war ihm in seinem Leben bisher kaum einmal passiert. Wenn sie wüsste, dass sich schon heute seine Aussichten auf einen Job beim Fernsehen rapide verschlechtert hatten?!
Der Star zu Hause war immer Jan gewesen, der ältere Bruder. Wenn Tom und Jan sich über irgendetwas gestritten hatten, hatte seine Mutter immer Jan recht gegeben. Einmal hatte sein Bruder Zahnpasta an die Türklinken geschmiert und danach behauptet, Tom wäre es gewesen – die Mutter hatte Jan geglaubt. Er war der Liebling, sie war vernarrt in ihren Erstgeborenen, für Tom blieb da nicht mehr so viel Liebe übrig.
Jans Tod hatte sie nie überwunden. Dadurch wurde er überhöht wie ein Heiliger, und keiner durfte eine noch so kleine Kritik an ihm äußern. Zu seinem Grab auf dem Vaterstettner Friedhof ging sie jeden Tag. Tom hatte sie einmal beobachtet. Sie stand vor Jans Ruhestätte mit gefalteten Händen und betete oder sprach mit ihm. Danach richtete sie die Blumen, sammelte heruntergefallene Blätter auf, trug sie zum Kompost, zündete das Grablicht an, das unter dem Bild Jans stand. Sie sprach noch ein Gebet, die gesamte Zeremonie dauerte über eine halbe Stunde. Toms Eindruck war, dass die Trauer und der Kummer seiner Mutter sich zu einem inhaltsleeren Ritual entwickelt hatten. Seine innere Distanz zu ihr war im Laufe der Zeit deutlich gewachsen. Immer freudloser war seine Mutter geworden, weinte öfter still vor sich hin und aß immer weniger. Ihre Gesichtszüge, die früher schon streng gewesen waren, hatten sich verhärtet, die Wangen waren eingefallen und ein Netz von Krähenfüßen spannte sich um ihre Augen. Ihr Mund wirkte verbissen und ihr Rücken war gebeugt. Ihr Mann war ihr keine Stütze gewesen. Tom wusste, dass sein Vater selbst als ein emotionaler Krüppel durchs Leben ging. Musste er sich bei so einer Sozialisation über Selbstzweifel wundern, die ihn immer wieder überkamen?
Tom hatte das Bedürfnis, Lisa anzurufen. Allein ihr Anblick würde genügen, dass er sich wieder über etwas freuen konnte. Weil er nicht wusste, ob sie schon frei hatte, schickte er ihr eine Nachricht über Whatsapp:
»Liebe Lisa, hast du Lust und Zeit, mich zu treffen?«
Darunter setzte er ein Smiley und schickte die Nachricht ab.
Abgearbeitet und mit betrübter Miene saß Lisa Tom gegenüber in einer gut besuchten Bar, die nur wenige Meter vom Odeon entfernt lag. Lisa hatte ihre Lippen noch einmal nachgezogen, am etwas verschmierten Kajal und dem geröteten Weiß in ihren Augen bemerkte Tom, dass sie geweint hatte. Eine Bedienung mit hochgesteckten roten Haaren und einem hinter das Ohr tätowierten grünen Schmetterling brachte ihnen zwei Bier an den Tisch, fürs Hintergrundrauschen sorgte Mark Forster, der trällernd kundtat, dass er 194 Länder sehen wollte.
»So einen Scheißtag wie heute habe ich schon lange nicht mehr erlebt. Die Polizei hat jedes Salatblatt umgedreht, Proben von allem genommen, was da war, und wir müssen in das Chaos jetzt wieder Ordnung bringen. Der Chef hat eine Laune … Jeden hat er angemotzt. Als mir ein Wirsingkopf auf den Boden fiel, hat er mich angeschrien, ich würde ihn noch seine Sterne kosten.« Lisa hatte ihre Hände zu Fäusten geballt, dann nahm sie sich sichtlich zusammen und machte eine Wischbewegung vor ihrer Stirn. Unsicher legte Tom ihr eine Hand auf den Arm.
Er wusste nicht, wie er sie trösten konnte. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen, aber er spürte, dass sie gerade in ihrer eigenen Welt war.
»Morgen geht’s weiter mit dem Aufräumen. – Und wann der Laden wieder öffnen kann, wissen wir auch noch nicht.«
Tom hörte jetzt stärker als sonst ihren fränkischen Dialekt.
Lisa schob mit einer schnellen Bewegung alte Brotkrümel vom Tisch, als wären damit alle Arbeitsprobleme auch wie weggeblasen. Sie richtete sich auf, streckte ihren Busen heraus und nahm ihr Bierglas in die Hand. »Prost! Jetzt habe ich die ganze Zeit gejammert. Wie geht es denn dir?«
Tom verschränkte die Arme, legte die Stirn in Falten und hoffte, dass er Lisa mit seiner Leidensgeschichte ein bisschen Trost spenden könnte. »Auch beschissen. Ich habe mich zu einem Interview überreden lassen, obwohl es der Redaktionsleiter untersagt hatte. Als er mich in dem Beitrag gesehen hat, gab es richtig Knatsch. – Das hat meine Chancen, beim Fernsehen zu bleiben, nicht gerade vergrößert.«
»Hast du einen Plan B?«
»Nicht wirklich. Ich muss mich halt bei anderen Sendern bewerben. Und du?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Und uneigentlich?«
»Na ja, am liebsten würde ich selber ein Restaurant aufmachen.«
»Das ist doch eine gute Idee!«
»Aber eine teure. Man braucht jede Menge Euronen.« Lisa sah in die Ferne und wirkte angespannt, als würde sie den Mietvertrag für ihr neues Restaurant gleich unterschreiben müssen. »Und Leute, die für einen arbeiten und die man bezahlen muss. Ist schwierig.«
»Du müsstest das vielleicht im Team machen, du kennst doch sicher genug Menschen in der Branche.«
»Ich glaub, ich trau mir das noch nicht zu.«
»Du musst auf vegetarische und vegane Gerichte setzen. Da entsteht ein großer Markt.«
»Da hast du recht, inzwischen existieren rund drei Dutzend von guten vegetarischen und veganen Restaurants in München, aber wenn du etwas Besonderes anbieten willst, musst du Seeteufel, Hummer, Wasserschnecken, Täubchen, Kaninchen oder ausgefallene Sachen wie Kalbsbries auf der Speisekarte stehen haben. Ohne Fleisch und Fisch hast du wesentlich weniger Variationsmöglichkeiten für die Gerichte.«
Tom tätschelte ihre Hand. »Du willst gleich einen Stern?«
Lisa zog die Schultern hoch. »Na ja, lassen wir das. Man darf ja träumen.«
Sie war auf ihr Bierglas konzentriert und wischte das Kondenswasser darauf mit einer Serviette weg, während Tom sich verlegen am Kopf kratzte.
»Haschisch im Essen und jetzt offenbar Liquid Ecstasy – das muss doch jemand aus eurer Mannschaft gewesen sein. Kannst du dir nicht vorstellen, wer das war und warum?«
Automatisch verspannte sich Lisas Körper, sie richtete sich auf und erhob Tom gegenüber abwehrend eine Hand. »Wieso fragst du das?«
»Ich denke, wenn wir das wüssten, wäre allen gedient.«
Lisa hatte sich wieder in ihr Schneckenhaus zurückgezogen.
Tom unterbrach das Schweigen. »Warum macht jemand so etwas? Dadurch werden der Koch und das Restaurant diskreditiert. Jemand will Steineberg schaden. Aber ich verstehe nicht warum! Bezahlt er zu schlecht, überfordert er seine Mitarbeiter, hat er Dreck am Stecken? Warum will man seinen Laden ruinieren? Was ist beispielsweise mit diesem Edgar? Das ist doch ein komischer Typ.«
»Ach Edgar, der hätte so einen Plan gar nicht auf dem Schirm. Der ist eher einfach gestrickt.«
»Und wie kommt der in ein Sterne-Restaurant?«
»Unser Chef ist ein Oldtimerfan. Er lässt diese alten Kisten bei einem Mechaniker in Emmering restaurieren. Der hat ihn wohl gefragt, ob er nicht einen Job für seinen Sohn hätte.«
»Weißt du mehr über ihn?«
»Na ja, er ist sicher nicht der Hellste. Ich glaube, er ist in mich verliebt. Jedenfalls stottert er immer dann, wenn er in meiner Nähe ist.«
Tom lächelte. »Ist das alles, was du über ihn weißt?«
Lisa schwieg, Tom spürte ihr Misstrauen, dennoch fragte er hartnäckig nach.
»Was hat er für Freunde? Hat er Umgang mit Kriminellen? Was macht er in seiner Freizeit? Wo wohnt er?«
»Hör auf, du machst mich zur Quelle für deine Recherche. Das stört mich.«
»Sorry.«
»Er wohnt irgendwo beim Goetheplatz … im Schlachthofviertel. So, und ich gehe jetzt nach Hause.« Lisa winkte der Kellnerin, um zu zahlen.
»Ich fahre dich gerne heim. Liegt ja fast auf meinem Weg.«
»Einverstanden, aber reden wir nicht mehr über unsere persönlichen Dramen. Erzähl mal was Lustiges!«
In diesem Moment ging die Tür auf und Edgar betrat das Lokal.
Lisa stieß Tom an. »Lass uns schnell aufbrechen.«
Aber Edgar hatte Lisa schon entdeckt. Während er auf sie zu lief, hellte sich sein Gesicht auf. »Das ist ja ’ne Ü-Ü-Überraschung!«, brachte er euphorisch hervor.
»Sorry, Edgar, wir gehen gerade. Bis morgen.«
Lisa stand bereits, Edgar fletschte wütend die Zähne, als der frech grinsende Tom sich von seinem Stuhl erhob und an seinem Widersacher mit einer geschmeidigen Bewegung vorbeischob.
»Los, komm endlich!«, rief Lisa unwirsch an der Ausgangstür.
Tom hatte Lisa vor ihrer Wohnung abgesetzt und sich auf den Heimweg gemacht, da bemerkte er im Rückspiegel ein Motorrad. Mal ließ es sich ein Stück weit zurückfallen, dann klebte es fast an Toms Stoßstange. Als er in eine Nebenstraße einbog, tat es der Motorradfahrer auch.
Werde ich verfolgt? Wer kann das denn sein? Warum fährt jemand hinter mir her? Habe ich etwas angestellt?
Tom fand einen Parkplatz in der Nähe seiner Wohnung. Der Motorradfahrer war ebenfalls stehen geblieben. Er trug einen schwarzen Helm mit einem verspiegelten Visier, sodass Tom das Gesicht nicht erkennen konnte. Er beschloss, den Mann zu täuschen; er wollte ihn nicht wissen lassen, in welchem Haus er wohnte, ging auf ein gegenüberliegendes zu und versteckte sich hinter einem Müllhäuschen. Alles blieb ruhig. Der Motorradfahrer wartete immer noch mit laufendem Motor, das Licht hatte er ausgeschaltet. Angriff ist die beste Verteidigung, dachte Tom, packte eine Schaufel, die neben dem Müllhäuschen stand, und rannte auf den Motorradfahrer zu. Dieser ließ sofort seine Maschine aufheulen, zeigte Tom den Mittelfinger und fuhr mit Karacho davon.
Tom konnte sich nur Teile des Nummernschildes merken, das M für München und die letzten Ziffern waren acht und sieben, aber er war sich sicher, der Motorradfahrer war Edgar.