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Sechs Stunden später warteten Eike und Tom im Schneideraum auf die Abnahme durch Neuwirt. Die Cutterin nutzte die Pause für ein von zu Hause mitgebrachtes Käsebrot und einen Schluck Tee aus der Thermoskanne. Eike hatte damit begonnen, für eine Story zu recherchieren, die er für den nächsten Tag realisieren sollte. Tom saß herum, sah auf seinem Laptop die Meldungen auf Spiegel Online und anderen Nachrichtenwebsites durch und freute sich auf seine Taekwondo-Stunde, bei der er hoffte, Lisa zu treffen. Endlich erschien Neuwirt gut gelaunt, als hätte er gerade eine Gehaltserhöhung erhalten.

Eike trug ihm den Text zu seinem Filmbericht vor, und Neuwirt hatte nichts auszusetzen. Tom war richtig überrascht, dass er den Beitrag uneingeschränkt lobte: »Dass Sie ein Statement von Steineberg bekommen haben, ist schon richtig gut!«

»Die Idee dazu kam von Tom«, bemerkte Eike.

Neuwirt hob den Daumen und sagte spitz: »Sehr gut, Herr Umweltaktivist!«

Kaum hatte Neuwirt den Schneideraum verlassen, begann Tom zu strahlen. »Vielen Dank für den Support. Jetzt hab ich endlich mal etwas richtig gemacht.«

»Heute hat er einen seiner besseren Tage.«

»Aber ich verstehe immer noch nicht, warum er mich als Umweltaktivist bezeichnet; einmal einen Vorschlag gemacht aus dem Bereich der Ökologie …«

»Mach dir nichts draus«, meinte Eike, »das sagt er auch zu anderen Kollegen. Ich glaube, da hat er ein Trauma. Als Student hatte er sich einmal beim ›Bund für Umwelt und Naturschutz‹ engagiert. Das sieht er heute offenbar als Jugendsünde. – Die Kollegen haben das rausgefunden.«

»Ha, das kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Leute ändern sich, vor allem, wenn sie in solche Positionen kommen. Durch ein ökologisches Engagement wurde man lange Zeit auf der linken Seite der Gesellschaft eingeordnet, und das führte bei den Regierenden eher zu einem Punktabzug. Diese Scharte aus der Vergangenheit wollte und will Neuwirt wohl auswetzen, aber vielleicht ändert er sein Verhalten auch bald wieder, nachdem das Thema ›Klimawandel‹ sogar bei den Neoliberalen angekommen ist.«

»Das klingt nach einer Menge Lebenserfahrung«, neckte ihn Tom, der seinen politischen Einsatz für den Klimaschutz während des Studiums lieber nicht preisgeben wollte.

»Pass auf, du Grünschnabel, dass du dir keinen Satz heiße Ohren holst.«

Die Taekwondo-Stunde leitete ein 70-jähriger Koreaner, der als Koryphäe in dieser Sportart galt. Er hatte den Trainingsraum in einem Hinterhof der Hohenzollernstraße mit einem ganzen Panoptikum von skurrilen Gegenständen ausstaffiert – an den Wänden hingen neben Hirschgeweihen Lebensweisheiten auf Chinesisch, in einer Ecke stand ein metergroßer Wolpertinger aus Stoff mit Fuchskopf und Adlerflügeln. Es roch nach altem Schweiß, und nach dem Training musste man sich an den zwei verfügbaren Duschen anstellen. Billigend nahmen die Schüler diese einfachen Umstände angesichts des Renommees des Großmeisters in Kauf.

Tom hatte Glück gehabt, Lisa war auch gekommen, und sie beschlossen, nach den schweißtreibenden Übungen in einem Wirtshaus einzukehren.

Sie schlenderten die Einkaufsstraße zwischen Kurfürstenplatz und Leopoldstraße entlang, vorbei an hippen Klamottenläden, Supermärkten, Friseurgeschäften, Cafés und chicen Restaurants. Tom hatte vor allem Augen für Lisa, freute sich an ihrem ebenmäßigen Profil und ihren Brüsten, die straff unter ihrem graublauen Pullover hervortraten.

Dabei erzählte er ihr von seinem erfolgreichen Tag.

Auch Lisa war wieder zuversichtlicher als bei ihrem letzten Treffen. Steineberg hatte eine einstweilige Verfügung gegen die Schließung seines Restaurants erwirkt, und nun konnte das Odeon seine Tore wieder öffnen. Lisa berichtete, sie hätten schon einen Großteil des Chaos beseitigt, das durch den Polizeieinsatz entstanden war, und bald könnten sie wieder normal arbeiten. Zumindest erst einmal war das Gespenst einer drohenden Arbeitslosigkeit abgewendet.

Endlich standen sie vor dem Weinbauer, einem der urbayerischen Wirtshäuser, die in Schwabing immer seltener wurden. Eine Bedienung in bayerischer Tracht wies ihnen in dem gut besuchten Lokal einen Platz an einem Tisch zu, an dem schon ein anderes Paar saß, und fragte nach ihren Wünschen. Auf der Speisekarte standen vornehmlich bayerische Gerichte wie Jungschweinebraten, Tellerfleisch oder Rahmschwammerl. Tom bestellte eine Ochsensuppe mit Nudeln und Rindfleisch, Lisa einen gemischten Salat mit Hähnchenbrustfilet. Ihren Durst löschten sie mit je einem leichten Weißbier.

Tom plagte noch ein Problem, bei dem er sich von Lisa Hilfe erhoffte, aber er hatte Gewissensbisse, da er wusste, wie gereizt und zurückhaltend sie reagierte, wenn es um ihre Arbeit ging.

Nach den ersten Schlucken Bier fragte er sie: »Dieser Edgar war doch heute auch im Odeon, als wir mit Steineberg gedreht haben?«

»Ja, schon. Warum?«

»Fährt der Motorrad?«

»Ja. – Wieso willst du das wissen?«

»Weil mich jemand mit einem Motorrad gestern Nacht verfolgt hat, und ich bin mir sicher, dass er das war.«

»Warum sollte er das tun?«

»Keine Ahnung.«

Lisa zuckte mit den Schultern. »Wenn er dich wirklich verfolgt hat, war es vielleicht Eifersucht? Ich glaube, er mag mich, und es stört ihn, dass ich mit dir ausgehe.«

»Vielleicht stört ihn, dass ich beim Fernsehen arbeite und an einer Geschichte recherchiere, bei der Drogen eine Rolle spielen? Der Typ ist doch nicht wirklich koscher!«

»Na ja, die ersten Artikel in den Boulevardzeitungen waren schon ein Schock für uns.«

»Wie fing das denn eigentlich an?«

Lisa seufzte, rückte näher zu Tom und sprach leise, damit die anderen Gäste sie nicht verstehen konnten. »Vor etwa vier Monaten gab es bei uns als Dessert eine Schokoladenterrine mit leicht gerösteten Hanfsamen.«

Tom zog die Augenbrauen hoch. »Dann stimmt es doch: Dope in der Sterneküche!«

»Das dachten viele, und Steineberg hat sicher auch ein wenig auf so eine Reaktion gehofft und wollte dem Odeon damit einen medialen Kick verpassen. Hanfsamen sind ausgesprochen gesund, schmecken nussig und enthalten kein THC, sind also kein Haschisch.«

»Oh!« Tom war beinahe enttäuscht.

»Wir hatten einen Schauspieler zu Gast, der so reagierte wie du, und ihm wurde das gesagt, was ich dir gerade gesagt habe. Er aß seine Schoko-Hanf-Terrine und etwa eine viertel Stunde später hatte er einen Lachanfall. Alle Gäste bekamen das mit. Schließlich zahlte er und ging.«

»Wer war der Schauspieler? Und wie ging’s weiter?«, fragte Tom gespannt.

»Das war Baldur Kröninger, der mal im Tatort, mal in ›Hubert und Staller‹ kleinere Rollen spielte. Er behauptete, noch nie gekifft zu haben. Auf seinem Nachhauseweg ist er mit einem Radler zusammengestoßen, weil er bei Rot über die Ampel gelatscht war. Der Radler hatte sich aufgeschürft, und unser Schauspieler hatte sich eine Platzwunde am Kopf zugezogen, mit der er in die Klinik ging. Dort hatte man den Verdacht, dass er stoned war. Man hat ihm – wohlgemerkt mit seinem Einverständnis – Blut abgenommen, und fand eine ziemlich große Menge von THC. Daraufhin nutzte er seine Chance auf Publicity, ging zur Boulevardpresse, und sprach über Berufsausfall wegen der Verletzung im Gesicht und solche Dinge. Er zeigte Steineberg an.«

»Nun weiß man nicht, ob das THC bei euch im Restaurant in sein Essen gelangte oder ob der Schauspieler sich irgendwo einen Joint durchgezogen hat?«

»Die Zeitspanne zwischen dem Verlassen des Odeon und dem Unfall war nicht sehr groß.«

»Also ist es doch bei euch passiert?«

»Wir vermuten, dass es Haschischöl war. Da kann man sich leicht mit der Menge vertun.«

»War das Haschischöl also im Essen?«, fragte Tom ungeduldig.

Lisa rückte noch ein Stück näher an Tom heran und flüsterte: »Ich glaube, dass er es sich selbst ins Essen getan hat. Wahrscheinlich hat ihn jemand dazu angestiftet, aber wir wissen es nicht. Ein krummes Ding, das zum Himmel stinkt! – Jedenfalls hatte die Presse jetzt ein Thema, man konnte ständig von Hanfsamen, Haschischöl und vielen anderen Rauschgiften lesen, immer war das Odeon mit dabei im Gerede. Außerdem wurden schon damals Ermittlungen und Untersuchungen angestellt, aber man fand nichts bei uns. Steineberg behielt die Schoko-Hanf-Terrine auch weiter auf der Speisekarte – wie als trotzigen Beleg für seine Unschuld.«

Lisa presste die Lippen fest zusammen, als hätte sie zu viel erzählt. Tom schien plötzlich einer anderen Person gegenüberzusitzen, einer, aus der alle Energie gewichen war.

Er war sehr unsicher geworden, wie er sich nun verhalten sollte. Hatte Lisa vielleicht vor etwas Angst? Hatte sie ein dienstliches Redeverbot von Steineberg erhalten? Tom wusste, dass sie ihre Erzählung große Überwindung gekostet hatte.

»Deine Mundwinkel hängen ganz schön runter. Sieht aus, als müsste man dich auf den Kopf stellen, damit du wieder lachst«, versuchte er sie aufzumuntern.

Während Lisa Tom fest am Jackenärmel packte, sagte sie eindringlich: »Das sind Interna, Tom, die sind nicht fürs Fernsehen gedacht – ist das klar?«

»Okay, ich verstehe.«

Draußen hatte es zu regnen begonnen. Tom schulterte seine Sporttasche und versuchte Lisa in den Arm zu nehmen, aber sie wehrte ihn ab. »Das geht jetzt nicht. Lass uns nach Hause fahren. Aber jeder zu sich«, fügte sie mit schelmischer Miene hinzu.

Tom ließ enttäuscht von ihr ab. Eigentlich war doch alles so gut gelaufen an diesem Tag. Nun hatte er noch eine Kerbe erhalten. War wohl nicht der richtige Augenblick. Was sie wohl bedrückte? Schweigend, aber schnellen Schrittes gingen beide zur nächsten U-Bahn-Station.

Mord à la carte in Schwabing

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