Читать книгу Mord à la carte in Schwabing - Jörg Lösel - Страница 8
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ОглавлениеWeit nach Mitternacht hatte Tom Lisa nach Hause gefahren, und sie hatten sich mit Wangenküsschen verabschiedet. Lisa hatte ihm von ihrer Haustür aus noch mal zugewinkt. Mit Flugzeugen im Bauch hatte Tom seinen Dacia Richtung Schopenhauerstraße gelenkt.
Am nächsten Morgen nun sah er Bilder der Momente mit Lisa vor sich, als er auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz war: wie sie lächelte, wie sich ihr Mund beim Sprechen bewegte, welche Gesten sie mit den Händen machte, wie sie aufrecht und mit festem Schritt ging.
Da war eine Parklücke! Ein harter gedanklicher Schnitt. Tom parkte ein.
Es war der dritte Tag seiner Hospitanz beim Fernsehsender TV 1. Gleich nach dem Abschluss der Journalistenschule hatte es geklappt mit der Stelle. Er hatte sich bei mehreren Hörfunk- und Fernsehanstalten beworben und war sehr skeptisch gewesen, ob er eine Zusage bekommen würde.
Sein großes Berufsziel war eine redaktionelle Tätigkeit beim Fernsehen, und er hoffte, mit der Hospitanz diesem Ziel ein Stück näher zu kommen. Ihm war aufgefallen, dass die meisten Typen beim Fernsehen deutlich mehr gestylt waren als er, aber er fühlte sich nicht als Außenseiter. Die gemeinsame Arbeit in der medialen Branche würde gewiss Verbindungen mit den Kollegen entstehen lassen. Eigentlich sah alles nach einer fetten Glückssträhne aus: Er arbeitete beim Fernsehen, und vielleicht hatte er bald eine Freundin.
Stolz zeigte er seinen Dienstausweis dem Pförtner beim Einlass in das Betriebsgelände. Dann machte er sich auf den Weg zur Sitzung der Aktuellen Redaktion von TV 1, die am Standort München für die Berichterstattung aller tagesaktuellen Ereignisse zuständig war, die in Bayern medial von Interesse waren.
Das Redaktionszimmer wirkte kalt und nüchtern, es gab noch nicht einmal Plakate an den weißen Wänden, in einer Ecke stand ein Flipchart auf Rollen.
Um einen einfachen Resopaltisch saßen insgesamt zehn Leute – Redakteure, Planer, eine Sekretärin und ein Studio-Regisseur. Tom stand zwischen zwei Reportern eingekeilt an der Wand. Der Redaktionsleiter Walter Neuwirt, als Einziger in der Runde mit Anzug und Krawatte, zog seine Armbanduhr vom Handgelenk und legte sie vor sich auf den Tisch. In einem kernig gutturalen Bayerisch rief er die tagesaktuellen Storys auf und ließ deren Autoren über den Stand ihrer Recherchen berichten.
»Haben wir heute etwas übersehen?«, fragte Neuwirt mit einem hinterhältigen Lächeln.
Ein rothaariger Planer namens Brandt, der alle Programmentscheidungen eifrig mitgeschrieben hatte, meldete sich zu Wort. »Den Prozessauftakt gegen Steineberg haben wir nicht.«
»Und wieso sagt du das nicht früher? Der steht doch seit Wochen fest. Und die anderen Planer haben das nicht gemerkt? Gratulation zu so viel Übersicht.«
Augenblicklich war es in dem Raum zehn Grad kälter, und es wurde sehr still.
»Was machen wir jetzt? Wer hat Zeit?«
Niemand meldete sich. Die Autoren blätterten in ihren Unterlagen oder guckten ins Leere.
»Also sind alle gut beschäftigt, produzieren für heute, oder? Karen, was ist mit dir?«
Karen warf ihre langen blonden Haare über die Schulter und drückte die Brust gegen ihre weiße Ralph-Lauren-Bluse:
»Wenn jemand für meine morgige Story ins Archiv geht, könnte ich schon.«
Tom war hin- und hergerissen. Einerseits störte ihn der rüde Ton von Neuwirt und die eingeschüchterte Reaktion des gesamten Teams, andererseits sah er es als Chance, um auf sich aufmerksam zu machen. »Ich kann gerne helfen, Herr Neuwirt.«
Die Augenpaare aller Kollegen richteten sich auf ihn, viele mit einem spöttischen Ausdruck im Gesicht. Er kam sich anbiedernd vor und schämte sich.
»Er kann mit mir zum Drehen, die Suche im Archiv sollte lieber jemand übernehmen, der Bescheid weiß«, warf Karen ein.
Tom wurde rot.
»Wer geht für Karen ins Archiv?«, fragte Neuwirt.
Stille im Raum.
»Soll ich selber das alte Filmmaterial im Archiv heraussuchen? Stellt euch nicht so an. Wir müssen alle immer noch etwas mehr arbeiten. Brandt, du darfst dich freuen, hast ja auch den Termin verschusselt.«
Der Planer gab sich kleinlaut. »Verschusselt hab ich ihn nicht, aber ich helfe Karen gerne.«
Als der Name Steineberg gefallen war, war Tom hellhörig geworden. Steineberg war angeklagt, weil der Verdacht bestand, in seinem Restaurant wäre Haschisch in die Sterne-Menüs gemischt worden. Das war ein gefundenes Fressen für die Presse, und die Zeitungen würden sicher am nächsten Tag ausführlich über den Prozess informieren.
Sollte Tom von seinem gestrigen Erlebnis vor dem Odeon berichten? Vielleicht hatte der Franzose auch irgendwelches Rauschgift im Essen gehabt? Oder hatte er etwas mit dem Prozess gegen Steineberg zu tun?
Wenn herauskam, dass es einen kriminellen Hintergrund zu dem Vorfall gab, Tom vor Ort war und davon nichts erzählt hatte, dann stünde er ganz schnell auf der Versagerseite – kein guter Start ins Berufsleben.
Es kam die Frage, auf die Tom gewartet hatte: »Gibt es sonst noch etwas, was wir machen sollten?«
Tom meldete sich.
»Bitte schön, Herr Kollege.« Tom sah die Überheblichkeit im Gesichtsausdruck des Redaktionsleiters.
Er schluckte, räusperte sich und begann: »Einmal weiß ich, dass nächste Woche in Niederbayern ein neues Geothermie-Projekt begonnen wird …«
Neuwirt unterbrach ihn. »Sie sind wohl Umweltaktivist? Schauen auch ein bisschen so aus mit Ihren langen Haaren und der Lederjacke … Über Geothermie-Projekte haben wir doch schon mehrfach berichtet. Was haben Sie noch?«
»Ich weiß, dass gestern ein Mann, der aus Steinebergs Odeon kam, bewusstlos zusammengebrochen ist. Ich weiß nicht, ob das irgendetwas mit Rauschgift zu tun hatte, aber ich wollte das einfach mitteilen.«
»Und woher wissen Sie das?«
»Ich war zufällig vor Ort.«
»Oh, unser Redaktionsneuling ist Umweltaktivist und speist im Zwei-Sterne-Restaurant. Respekt.«
Tom war wieder rot geworden. »Nein, ich habe da nicht gegessen, ich war zufällig dort.«
»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«
»Ich wusste nicht, ob das wichtig ist.«
Bei diesen Worten sah Neuwirt auf seine Uhr, streifte sie über das Handgelenk und erhob sich.
»Das kann es schon sein. Recherchier das mal, Brandt, und sag mir Bescheid, aber nicht erst heute Nachmittag!«
Damit war die Sitzung beendet, Tom konnte es sich nicht verkneifen, seinem Nachbarn in der Zimmerecke zuzuraunen: »Ist der immer so?«
»Meistens. Aber er hat auch seine netten Tage. – Wir haben uns noch nicht kennengelernt. Ich bin Eike.«
»Ich bin Tom«, sagte er und sah sich Eike genauer an. Der Autor trug hautenge Jeans, rote Sneaker, ein enges weißes T-Shirt und darüber eine kurze graublaue Lederjacke. Seine dunkelbraunen Haare waren exakt gescheitelt, und Tom glaubte, auf den Wangen eine Spur von Rouge zu entdecken.
»Freut mich, Tom. Lass uns in die Kantine gehen und einen Kaffee trinken. Dann kann ich dir was über unser Redaktionsleben erzählen.«
In diesem Moment fuhr Karen dazwischen: »Komm, junger Mann, wir müssen was tun. Mit der Quatschkanone kannst du ein andermal plaudern.«
Sie drehte sich um und verließ das Redaktionszimmer. Tom nickte Eike entschuldigend zu und beeilte sich, Karen zu folgen, die mit vorgestrecktem Kinn energisch in das Mikro eines In-Ear-Headsets sprechend voranstürmte und dabei einen blumigen Duft hinter sich herzog.
Tom kannte den Justizpalast nur vom Vorbeifahren in der Tram am Stachus oder vom Biergarten des Parkcafés beim Alten Botanischen Garten aus, drinnen war er noch nie gewesen. Bombastisch wie ein absolutistisches Schloss stand das neobarocke Gebäude zwischen dem Münchner Hauptbahnhof und dem Karlsplatz, signalisierte die Macht der Justiz und des Staates, wobei die Staatsformen über die Jahrzehnte variierten. Da der größte Saal im Strafjustizzentrum in der Nymphenburger Straße belegt war und beim Steineberg-Prozess ein Ansturm von Presse- und TV-Journalisten erwartet wurde, hatte man diesen Prozess ausnahmsweise hierher verlegt.
Als der Tonmann, der den Ford Kombi fuhr, endlich in der Nähe des Gerichtsgebäudes eine Lücke zum Parken gefunden hatte, stand schon ein Pulk von Fotografen, Zeitungs- und Hörfunkjournalisten sowie Kamerateams anderer Fernsehsender vor dem Haupteingang. Karen sprach noch immer in ihr Headset, um irgendetwas zu organisieren. Dabei hatte sie sich auf ihrem Schoß eine beträchtliche Anzahl von Notizzetteln nebst Rouge-Döschen und Lippenstift angehäuft, was sie in ihre rostbraune Business-Ledertasche einzuräumen versuchte. Sie wies das Team an, es solle vor dem Hauptportal die Kamera aufbauen, den Aufsager im On würde sie später machen, und Tom solle den Kollegen beim Tragen helfen. Zwischendrin sprach sie wegen der Terminierung ihres Videoschnittes ins Headset, wollte aussteigen, verschätzte sich aber bei der Höhe des Türrahmens und knallte mit der Stirn geräuschvoll gegen die Kante. Ein lauter Schrei. Tom, der bereits draußen auf der Straße stand, sah, wie langsam Blut aus einer Wunde über ihrer rechten Augenbraue zwischen Nase und Wangenknochen nach unten lief und auf die weiße Designerbluse tropfte. Karen war blass geworden und hatte ihre offene Ledertasche auf den Fahrzeugboden fallen lassen. Dorthin hatte sich auch ein Teil des Tascheninhalts ergossen. Tom fischte ein sauberes Papiertaschentuch aus der Hosentasche und drückte es ihr auf die Stirn.
»Ist nur ein kleiner Riss!«, versuchte er sie zu trösten.
Karen atmete heftig, saß aber völlig apathisch auf dem Beifahrersitz.
»Ich hol schnell aus dem Café da drüben etwas Eis, dann schwillt die Wunde nicht so an.«
Als Tom mit zerstoßenem Eis in einem durchsichtigen Plastikbeutel zurückkam, war Karen fast wieder die Alte.
Sie gab dem Team und auch Tom Anweisungen: »Hilf den Kollegen beim Einfangen der O-Töne!«
Dabei presste sie den Eisbeutel auf ihre Stirn.
Toms Pulsschlag wurde schneller, und sein Magen zog sich zusammen. Plötzlich war er ein richtiger Reporter.
Mit seinem Arbeitsgerät auf der Schulter lief der Kameramann Richtung Haupteingang, der übergewichtige Tonmann schnaufte hinterher. Tom versuchte, etwas Platz für sein Team unter den wartenden Journalisten zu schaffen. Bei den Fotografen kam das nicht gut an. Einmal stieß ihm jemand mit dem Ellenbogen in den Rücken.
Unruhe und Hektik entstand unter den Medienleuten, als der Staatsanwalt ganz in Grau gekleidet und mit einer dicken Aktentasche in der Hand auf den Justizpalast zusteuerte. Tom, der den Namen des Mannes nicht kannte, rief: »Herr Staatsanwalt, können Sie fürs Fernsehen ein Statement abgeben?«
Aber der zwängte sich an den Reportern vorbei zum Eingang, und gab nur kopfschüttelnd »Kein Kommentar!« von sich.
Kurz danach erschien Steineberg mit seinem Anwalt. Fotoapparate klickten, Lichter blitzten auf, Hörfunkreporter hielten ihre Mikrofone in die Höhe. Toms Kameramann hievte seine Sony auf die Schulter. Jeder der Journalisten wollte zum Fall eine Erklärung von dem Sternekoch, aber er äußerte sich nicht – wie es alle auch erwartet hatten. Dafür stellte sich sein Anwalt medienerprobt vor die steinerne Pforte: »Wir sind sicher, dass Herr Steineberg freigesprochen und das Gericht als freier Mann verlassen wird.«
Das Team konnte noch ein paar Bilder im Gerichtssaal drehen, danach ließ der Richter keine Aufnahmen mehr zu.
Der Kameramann wollte sein Equipment schon in den Kombi packen, da stutzte er und fragte Karen, ob sie nun den Aufsager noch machen möchte.
»So gehe ich doch nicht vor die Kamera!«, fauchte sie und deutete dabei auf ihre Stirn und ihre Bluse. »Außerdem brummt mir der Schädel. – Was habt ihr denn jetzt? Vielleicht reicht’s ja für den Bericht?«
»Leider nicht sehr viel, der Staatsanwalt hat nichts gesagt, und Steineberg natürlich auch nicht. Sein Anwalt hat nur beteuert, dass sein Mandant freigesprochen wird«, berichtete Tom kleinlaut.
»Das hat uns noch gefehlt, dass ihr kaum etwas habt.«
»Dann soll’s der Hospitant halt mit dem Aufsager versuchen«, schaltete sich der Kameramann ein.
Karen verzog zweifelnd den Mund und wandte sich ab.
Sollte sein Gesicht am Abend in den Millionen von Fernsehern der gesamten Republik zu sehen sein, wie er den Fall kommentierte? – Genauso wie die Reporter, die in der Tagesschau oder den heute-Sendungen die Zuschauer über die Geschehnisse des Tages informieren?, ging es Tom durch den Kopf.
»Ich probier’s!«, sagte er. »Wir haben das auf der Journalistenschule geübt, aber ich brauch etwas Zeit, um mir einen Text zu überlegen.«
Im Schneideraum sah sich Tom das gedrehte Material und seine Versuche an, ein Statement im On zustande zu bringen. Auf dem Chip der Kamera war jede Zuckung in seinem Gesicht, jedes Flackern im Blick und jedes nicht klar artikulierte Wort unveränderbar gespeichert. Tom ahnte, dass die Sache mit seinem ersten Fernsehbericht nicht wirklich gut laufen würde. Er sollte einen 30 Sekunden langen Nachrichtenfilm produzieren sowie einen Zwei-Minüter als Bericht. Für Letzteren reichte aber sein Material kaum, obwohl der Cutter manche Schnittbilder etwas langsamer laufen ließ. Mit ihm hatte er alle Aufsager-Versuche durchgesehen, aber da war nur eine Version dabei, bei der Tom sich nicht versprochen oder die er nicht abgebrochen hatte. Allerdings sah er dabei nicht direkt in die Kamera, weil er von einem Zettel ein Stück unter dem Objektiv abgelesen hatte.
Tom war auf sich allein gestellt, Karen hatten sie auf ihren Wunsch hin ins Schwabinger Krankenhaus gebracht, Eike versorgte ihn ab und an mit Meldungen der Presseagenturen zu dem Fall, aber er musste seinen Bericht alleine stemmen. Immerhin hatte er darauf bestanden, dass das Team noch am Odeon vorbeigefahren und ein paar Schnittbilder gedreht hatte. Er hätte im Text noch viel mehr erzählen können, doch dafür reichten die Aufnahmen nicht aus.
Es folgte die Abnahme durch Neuwirt, der Beitrag sollte in 45 Minuten über den Sender gehen und war noch immer nicht gesprochen.
»So läuft das nicht!«, waren Neuwirts erste Worte, nachdem er Toms Film gesehen und seinen Textvorschlag gehört hatte.
»Das kann man reißerischer erzählen. Wo sind Bilder von Steineberg aus früheren Tagen? Und dass der Richter die Verhandlung mittags noch mal vertagt hat, haben Sie auch nicht im Bericht. Da müssen Sie umschneiden und umtexten, Herr Kollege.«