Читать книгу Wir Eltern sind auch nur Menschen! - Jörg Mangold - Страница 10

Оглавление

Kapitel Zwei

Mit dem Dino-Gehirn unterwegs in unserer modernen Welt voller Optimierungsfallen

Innere Stärke

Wenn du den Tag ohne Koffein oder Aufputschmittel beginnen kannst,

wenn du gelassen Schmerzen und Sorgen ignorieren kannst,

wenn du andere Menschen nicht mit deinen Problemen belastest und langweilst,

jeden Tag das gleiche essen kannst und dafür noch dankbar bist,

wenn du Verständnis dafür zeigst, dass geliebte Menschen zu beschäftigt sind, um Zeit mit dir zu verbringen.

Wenn es dir nichts ausmacht, dass andere ihren Frust an dir auslassen,

wenn du Kritik und Anschuldigungen ohne Groll wegstecken und der Welt ohne List und Lüge begegnen kannst,

wenn du Verspannungen ohne medizinische Hilfe lösen kannst,

wenn du ohne Likör entspannen und ohne Schlafmittel schlafen kannst,

wenn du all das kannst, dann bist du wahrscheinlich der Familienhund.

QUELLE UNBEKANNT

Obwohl ich Kinder- und Jugendpsychiater bin, sollen jetzt nicht die Dinge im Fokus stehen, die in Familien teilweise völlig schief laufen. Es geht nicht um die psychischen Störungen, die im Kinder- und Jugendalter ohne Zweifel auftauchen. Mir geht es um die Familien, bei denen es im Großen und Ganzen eigentlich irgendwie funktioniert. Ich möchte mich hier auf das Alltägliche konzentrieren; auf die Kleinigkeiten und Mini-Dramen im Alltagsleben. Dabei soll es auch um klassische Muster und Fallen gehen, in die wir alle trotz bester Absichten – vielleicht gerade wenn wir uns besonders bemühen – immer wieder hineintappen. Wir Eltern haben’s schwer, sind aber besser als unser Ruf

Viele Erziehungsratgeber arbeiten mit der Angst der Eltern. Das funktioniert, weil wir als Eltern hoch motiviert sind und alle möglichen Befürchtungen hegen. Was wird wohl alles schief laufen, wenn wir bei der Erziehung unserer Kinder nicht genau das Richtige zum richtigen Zeitpunkt tun? Wann müssen wir unsere Kinder besonders fördern, weil sich sonst das Entwicklungsfenster „für immer“ schließt? Wir sorgen uns, dass unser Kind sich zu spät entwickelt, schlecht in der Schule wird, unmusikalisch bleibt … Und das womöglich durch unsere Schuld, weil wir als Eltern nicht im passenden Moment das Richtige angeboten haben. Dauernd werden uns die potenziellen Folgen unseres falschen Handelns aufgezeigt. Das ist für viele Eltern sehr belastend.

Unsere größten Feinde sind diese Angst, etwas falsch zu machen, Unsicherheit, ein schlechtes Gewissen, Schuldgefühle und die daraus folgende Selbstverurteilung.

Sicher machen auch Eltern nicht alles perfekt. Die meisten sind aber bemüht, gute Eltern zu sein. Diese gute Absicht ist sehr viel wert und unser Leitfaden. Nun geht es darum, die Alltagsphänomene etwas genauer verstehen zu lernen, in denen wir uns als Eltern gerne verheddern. Wir können dann leichter daran arbeiten, angemessen zu reagieren und unsere Stärken zu fördern.

Wir haben schon entdeckt, dass wir durch unsere evolutionäre Vorgeschichte dazu neigen, schreckhaft zu sein und ständig auf der Hut vor möglichen Katastrophen. Zudem sind wir mit einem Gehirn ausgestattet, das emotional negativ besetzte Ereignisse viel stärker berücksichtigt.

Wir wollen nun erforschen, wie das mit den Spielregeln unserer modernen neuen Welt zusammenpasst, die auf unser Eltern-Gehirn einprasseln. Sie bestimmen zum großen Teil die Erwartungen an uns selbst und an das, was wir von unseren Kindern erwarten. Allerdings können sie auch zum Auslöser von Verunsicherung, Angst und Stress werden.

2.1 Der Angstmacher

Schon wieder schrillt der Alarm: Die psychischen Störungen bei Kindern nehmen seit Jahren ständig zu. Bei solchen oder ähnlichen Schlagzeilen zucken wir Eltern direkt schuldbewusst zusammen. Und fragen uns, woran soll es denn liegen, wenn nicht an uns?

Es stimmt, jedes Jahr werden bei Kindern mehr Diagnosen von psychischen Störungen gestellt. Um diese Zahlen genau zu verstehen, müssen wir uns aber folgende Frage stellen: Steigt allein die Zahl der gestellten Diagnosen oder wird in Bezug auf alle Kinder auch wirklich ein größerer Prozentsatz auffällig? Die zunehmenden Diagnosen könnten ja auch mit dem „Knöllchen-Effekt“ zusammenhängen: Wenn ich morgen in einer Stadt zehn neue Politessen losschicke, dann wird die Zahl der ruhenden Verkehrsdelikte sprunghaft steigen, weil mehr Knöllchen verteilt werden. Damit ist aber noch nicht belegt, dass wirklich mehr Menschen falsch parken.

Betrachtet man Daten aus Studien, in denen repräsentativ Kinder aus Deutschland untersucht wurden, haben die psychischen Störungen bis zum Jahr 2000 tatsächlich zugenommen. Seitdem ist der Prozentsatz der auffälligen Kinder in Bezug auf alle Kinder aber konstant. Trotzdem gibt es immer mehr Patienten. Denn es werden zunehmend Störungen bei Kindern diagnostiziert und behandelt.

Diese Fakten kann man unterschiedlich interpretieren:

1. Das Gesundheitssystem hat mehr Ressourcen für psychische Störungen bei Kindern bereitgestellt, daher können mehr Kinder untersucht und behandelt werden.

2. Viele Kinder mit klaren Auffälligkeiten wurden vorher einfach nicht behandelt, jetzt endlich finden sie Hilfe.

3. Wir als Fachleute sind sensibilisiert und sehen bestimmte Verhaltensweisen problematischer als früher. Zudem haben wir die Definitionen ausgeweitet, was bei Kindern als auffällig gilt. Deshalb steigt die Zahl der Versorgten an.

4. Vielleicht hat die Zunahme zum Teil auch mit folgendem Phänomen zu tun: Wir sind als Eltern viel unsicherer geworden, lassen unsere Kinder deshalb viel öfter von Fachkräften untersuchen und „die finden immer etwas“. Das heißt, es werden mehr Kinder als behandlungsbedürftig eingestuft als früher.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sich bei Erwachsenen dieselbe Entwicklung zeigt. Psychische Erkrankungen sind mittlerweile tatsächlich der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit! Bleibt also festzuhalten: In unserer modernen Welt scheinen alle immer psychisch kränker zu werden, nicht nur unsere Kinder. Es ist gut, dass Menschen Hilfe bekommen, die es aufgrund einer psychischen Störung oder Besonderheit schwerer haben. Gleichzeitig wird dadurch aber der Bereich immer größer, den die Fachwelt als pathologisch definiert.

Meine persönliche Sorge ist, dass wir einen Weg eingeschlagen haben, der dazu führt, dass die „Normalen“ bald in der Minderzahl sein werden. Dass Kinder beim Ergotherapeuten das Schönschreiben lernen, beim Logopäden das Sprechen und beim Kinder- und Jugendpsychiater, wie sie sich verhalten sollen. Es ist für Kinder viel schwerer geworden, keine Auffälligkeiten zu haben. Das verunsichert uns Eltern natürlich.

Kurz und knapp:

• Psychische Erkrankungen werden bei Kindern und Erwachsenen häufiger diagnostiziert.

• Fachleute bewerten immer mehr Verhaltensweisen als auffällig.

• Für Eltern ist es schwerer geworden zu wissen, was noch als „normal“ gilt.

2.2. Welche Farbe treibt uns an in der Lebenswelt 3.0?

Wir haben es nicht leicht als moderne, bemühte Eltern! Unser Elternhirn ist wohl geübt darin, Probleme zu entwerfen, um geistig schon mal Lösungen zu durchdenken. Wir sind umgeben von Beratern, die Angst machen, und Fachleuten, die überall mehr Störungen sehen. Dazu kommt unsere archaische Übermotivation zur Brutpflege. Wir wollen es so gut wie irgendwie möglich machen, am liebsten perfekt.

Oft sind wir dabei relativ auf uns allein gestellt. Nicht umsonst hieß es früher: „Es braucht ein Dorf, um ein Kind aufzuziehen.“ Meist haben wir aber nicht einmal mehr die Großfamilie in der Nähe, sondern nur uns als Paar – wenn wir Glück haben – oder müssen ganz allein die Erziehung meistern. Also lesen wir Bücher zum Thema, bereiten uns vor und werden dabei immer stärker verunsichert. Unsicher geworden, treffen wir auf Experten, die immer irgendetwas finden und eine, wie ich finde, Wahrnehmungsverzerrung hin zu auffälligem Verhalten haben.

Aber wir leben ja glücklicherweise in einer modernen Welt und in einer „Wohlfahrtsgesellschaft“. Wohlfahrtsstaat klingt doch schon ganz wie grünes System, eine Gesellschaft der Fürsorge, oder? Aus meiner Sicht sind die Motivations- und Emotionsregelsysteme in unseren modernen Industriestaaten wie folgt verteilt:


→ Abb. 2.1 Die Motivations- und Emotionsregelsysteme von Mitgliedern moderner Industriegesellschaften

Sicher schätzen wir alle den Wert des grünen Systems. Wir wünschen und pflegen es vor allem im Nahbereich, in der Paarbeziehung, der Familie und mit Freunden. Fortschritt, Wachstum und Wettbewerb sind aus meiner Sicht aber unbestritten die treibenden Kräfte in unserer Gesellschaft. Wir haben gelernt, uns über Leistung zu definieren, müssen „immer weiter, immer höher hinaus“. Die Wirtschaft muss „immer mehr“ wachsen. Wettbewerb ist zum Grundwert geworden. Wir wollen immer mehr „haben“, steigender Konsum ist der Motor. Daraus entsteht die Illusion, dass das Leben einer ständig ansteigenden Linie entsprechen muss.

In jungen Jahren fällt es uns leicht, sich dieser Illusion hinzugeben, weil wir nicht krank sind und keine besonderen Einschränkungen spüren. Es geht ja darum, Wissen anzureichern, Fähigkeiten zu erlangen, uns beruflich weiterzuentwickeln, Nestbau zu betreiben und eine Familie zu gründen. Dabei besteht die Gefahr, dass wir dieses Immer-weiter-nach- oben direkt auf unsere Kinder übertragen.

Erwiesenermaßen folgen Lebensprozesse aber eher dem Prinzip eines Kreislaufs. Vergänglichkeit ist ein Teil davon – auf Phasen des Wachstums folgen Phasen des Vergehens. Diesen Aspekten widmen wir uns aber meist nicht so gerne. Unser blaues System ist offensichtlich schon so aufgeblasen, dass es aus dem Ruder läuft und wir es gar nicht wahrhaben wollen – trotz Erderwärmung, massivem Ressourcenverbrauchs und der Frage nach Verteilungsgerechtigkeit in der Welt.

Wachstum, Wachstum, Wachstum – höher, weiter, schneller, mehr!

Wir stehen permanent im Wettbewerb, unter dem Druck, besser zu sein als andere. Nach dem Motto: Nur noch überdurchschnittliche bis herausragende Leistungen bitte!

Ursprünglich strebten wir danach, trocken, warm und satt zu sein. Mit unseren immer intelligenteren Gehirnen ist das eskaliert und jetzt übertreiben wir: Wir essen so viel, dass wir krank werden. Wir sind so bequem, dass wir krank werden. Wir konsumieren und werfen so viel weg, dass der Planet krank wird.

Dieses extrem vergrößerte blaue System nehmen unsere Kleinen quasi mit der Muttermilch auf.

Der Smartphone-Wettkampf

Meine Generation hat die Nachkriegsnöte ihrer Elterngeneration mit der Muttermilch aufgesogen. Da ging es auch um Mehr-haben-wollen und Wachstum, aber ausgehend von einem Land in Trümmern und Leid, infolge des Zweiten Weltkriegs. Heute geht es um die richtigen Klamotten, ohne die das Kind nicht das Haus verlassen kann. Oder nehmen wir das Konkurrieren unserer Kinder um das neueste Smartphone: „Mit dem alten Ding kann ich mich unmöglich bei den Freunden blicken lassen!“ „Moment, geht es nicht ums Telefonieren und SMS schreiben, Whats appen, Facebook und Surfen?“, entschlüpft es unserem Elternmund. Nein, denn eigentlich geht es darum, dass unsere Kinder meinen, sie seien nur so viel wert wie ihr Handy. Die Hackordnung auf dem Pausenhof wird von Marke und Modelljahr bestimmt. Ich bin kein Smartphone-Feind, eher ein Viel-User. Das Ding ist für mich ein unverzichtbares Mini-Büro geworden. Sie werden bei mir also keinen Oldtimer finden. Aber ich erinnere mich gut an die tränenerfüllten Augen meiner Tochter, während sie heftig protestierte, wie es sein könne, dass sie ein altes Handy hat und der Sohn einer Bekannten, die gar nicht viel Geld haben, das neueste …-phone? Einige Zeit später gab es tatsächlich einmal ein neues Modell aus meiner Vertragsverlängerung als Geschenk und sie war die Königin. Drei Wochen später hat sie es im Bus liegen lassen und weg war’s. Natürlich war sie untröstlich, aber danach hat sie gelernt auch für längere Zeit mit alten verbeulten Smartphones zu überleben und die als cool definiert.

Familien konkurrieren untereinander um die besten Gaming-Kon_ solen, die neuesten Computerspiele und darum, wer die größte Bildschirmdiagonale des Flachbildfernsehers sein Eigen nennt. „Mein Haus, mein Boot, mein Auto!“, hieß es in der Werbung einer Bank. Vor allem das Auto ist im Land des Heilig’s Blechle ein wichtiger Faktor in der Hackordnung der Erwachsenen. Leider wird dieses Konkurrenzdenken zu früh in die Kinderzimmer verlegt. Plötzlich steht dort ein Berg elektronischen Krimskrams, der jeden Tag wächst. Hinzu kommt, dass unser inneres blaues System bei vielen Gelegenheiten gefüttert wird, mit Werbung zum Beispiel. So werden neue Bedürfnisse geweckt, von denen wir und unsere Kinder gestern noch nicht wussten, dass wir sie überhaupt haben.

Meine Kinder mussten durch eine Phase hindurch, die sie teilweise als sehr ungerecht empfanden: Fernseher und Computer gab es nur in Gemeinschaftsräumen. Bis zu ihrem 16. Lebensjahr durften sie beides nicht in ihrem eigenen Zimmer haben. Danach hätten sie einen eigenen Fernseher selber zahlen müssen, der Laptop für die Schule war etwas anderes.

Auch wenn wir es gar nicht merken: Beim Navigieren durch dieses private Wettbewerbsfeld kann ziemlich viel Stress aufkommen. Zudem kostet es viel Geld, hip zu sein, und wiederum viel Zeit, dieses Geld zu verdienen.

Wie frei ist die Freizeit?

Freizeit, der Begriff klingt doch toll. Die gehört doch bestimmt ins grüne System.

In den vergangenen 200 Jahren ist der Anteil an freier Zeit in unserem Leben massiv gestiegen. Noch im 19. Jahrhundert arbeiteten die Menschen in der Regel 10 bis 16 Stunden am Tag an sechs Tagen pro Woche. Damals war die verbleibende freie Zeit überlebensnotwendig, um sich für den nächsten Arbeitstag zu regenerieren.

Eine klare Trennung von Arbeit nach Stundentakt und Feierabend hat erst die Industrialisierung hervorgebracht. Zu Hochzeiten waren 16 Stunden Arbeit am Tag an sechs Tagen die Woche normal. Es kam sogar die Sorge auf, dass Männer aufgrund der körperlichen Folgen nicht mehr als Soldaten eingesetzt werden könnten. Um 1900 wurde es als großer Fortschritt betrachtet, dass die Arbeitszeit auf zehn Stunden am Tag an sechs Tagen die Woche begrenzt wurde. Nach 1919 wurde schließlich der Acht-Stunden-Tag eingeführt. Kinder ab dem sechsten Lebensjahr mussten übrigens oft ähnlich lange Fabrikarbeit leisten, nicht selten elf bis 14 Stunden am Tag. Gerade im Bergbau und zur Bedienung von Maschinen wurden sie aufgrund ihrer Größe eingesetzt. Zunächst in England und 1839 auch in Preußen wurde die Arbeit von Kindern, die jünger als neun Jahre alt waren, verboten. Darüber hinaus durften 9- bis 16-jährige höchstens noch zehn Stunden am Tag arbeiten.

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung; www.bpb.de

Die Frage lautet: Haben wir heute so viel mehr freie Zeit zur Verfügung, wie wir sie rein rechnerisch haben müssten?

Die Antwort hängt stark vom Einkommen ab. Denn die Zahl der Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen steigt. Um über die Runden zu kommen, müssen sie häufig Zweit- und Drittjobs annehmen. Sie müssen arbeiten anstatt frei zu haben. Davon einmal abgesehen, haben wir heute neben der Erholung eine ganze Menge Ansprüche an unsere Freizeit entwickelt. Prinzipiell ist es ja gut, dass das Leben nicht mehr nur aus Arbeit und Erholung besteht, die dazu dient, uns wieder arbeitsfähig zu machen.

Aber wir kennen sie alle, die To-Do-Liste: Auf sie schreiben wir alles, was wir tun wollen, wenn endlich mal Zeit dafür ist. Und dazu gehören oft auch notwendige Erledigungen wie die Steuererklärung, die Autoinspektion, Arbeiten an Haus oder Garten und so weiter. Darüber hinaus wollen wir teilhaben an Kultur, Sport, wollen gesellig mit Freunden sein, etwas erleben, reisen, Hobbies pflegen. Die Liste ließe sich endlos fortführen. Das heißt, für unsere Freizeit brauchen wir einen Terminkalender. Und der ist leider schnell voll. Zu allem Überfluss meldet sich auch noch das blaue System: „Wie werde ich dieses Jahr im Ferien- und Freizeit-Battle abschneiden? War ich schon an den neuesten In-Urlaubsorten? Schon Bungee-Jumping, Kite-Surfen oder Heli-Skiing ausprobiert? Irgendetwas Herausragendes gemacht?“

Unsere freie Zeit findet weniger im grünen System statt. Sie tanzt sehr oft nach der Pfeife des blauen Systems. Sie tanzt im Zeichen des „Höher, Schneller, Weiter“. Freizeit als Superlativ.

Die Lust auf das Maximum, auf das Besondere wird angestachelt, und in diesen Sog geraten wir auch schnell mit der ganzen Familie. „Die Müllers waren schon in diesem Erlebnispark, Meiers bei jenem tollen Event, warum gehen wir nie irgendwo hin, wo es BESONDERS ist?“ Bei uns Eltern entsteht der Druck, immer etwas Neues bieten zu müssen. Dabei schwingt auch der Vergleich mit anderen Familien mit.

All dies hat den Begrifft „Freizeitstress“ hervorgebracht, der darauf hinweist, dass wir vollends im blauen System rotieren. Ein gewisser Aktionismus ist uns inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen.

Mit Kindern und deren Sport-, Kunst- oder Musikaktivitäten vervielfacht sich der „Freizeitstress“ entsprechend. Freizeit besteht dann für uns aus Elterntaxi fahren und am Rande des Fußballplatzes stehen oder bei Aufführung XY anwesend sein.

Dabei laufen wir Gefahr, dass Muße und Erholung auf der Strecke bleiben. Einfach SEIN geben wir vor lauter Freizeitoptimierung auf für ein TUN. Mittlerweile gibt es Vereine, die Slow-Food und Müßiggang kultivieren, um dem etwas entgegenzusetzen. Wie wäre es mit einem Verein zur Kultivierung der Eltern-Muße?

Arbeitet, als würdet ihr kein Geld brauchen,

liebt, als hätte euch noch nie jemand verletzt,

tanzt, als würde keiner hinschauen,

singt, als würde keiner zuhören,

lebt, als wäre das Paradies auf der Erde.

Buddhistische Weisheit

Der Optimierungswahn

Was wir neben dem Konkurrenzdruck in unserer Wettbewerbsgesellschaft gerne übersehen, sind die direkten Folgen. Eine davon ist der Wahn zur Optimierung, der uns in die Hirne gekrochen ist. Ständig sind wir bestrebt Äußeres, Leistungen und Status zu verbessern.

Ganze Herden von berufsmäßigen Optimierern ziehen landauf, landab durch die Firmen. Sie schrauben an Performance, Produktivität, Output, Gewinn, optimieren Prozesse und Mitarbeiter. Das mag ein nützliches Werkzeug sein. Allerdings wird beim Optimieren konsequent darauf geschaut, was dem Unternehmen fehlt, wo der Mitarbeiter noch Luft nach oben hat. Und unabhängig davon, ob es das Controlling nach zwei Jahren Einsatz geschafft hat, die Prozesse von 95 auf 97,5 Prozent zu verbessern, wird stets weiter optimiert.

Wir trainieren damit unseren Geist, ständig den Mangel zu sehen. Die Folge ist: Wir sind so lange unzufrieden, bis das nächste Optimierungsziel erreicht ist. Danach kommt dann das nächste, und ist das erreicht, wiederum das nächste. Wir können also trotz 99 Prozent Zielerreichung (egal, was das Ziel ist) unzufrieden sein, weil wir uns auf das fehlende eine Prozent konzentrieren. Dazu kommen alte Sätze im Hinterkopf wie: „Du musst dich anstrengen, um etwas wert zu sein!“, „Ohne Fleiß kein Preis“. Und wir optimieren noch munterer weiter. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt und Autor.

Kommt Ihnen dieses Gefühl des „Nicht-gut-genug“ irgendwie bekannt vor, gerade als Eltern? Immer gibt es etwas, das noch besser laufen könnte; eine Variante, wie wir es hätten noch besser machen können. Wie unsere Kinder es hätten noch besser machen können.

Dieses „Nicht-gut-genug“ haben wir verinnerlicht. Von außen betrachtet oder aus Sicht des Arbeitgebers gilt diese Haltung als wichtig für das persönliche Vorankommen. Aber das ganze Leben wird so zu einem Optimierungsprozess! Das große Risiko dabei ist: Erziehung droht damit unbewusst ebenfalls ein Optimierungsprozess zu werden, in mehrfacher Hinsicht.

Kurz und knapp:

• Wir Menschen haben uns eine Leistungsgesellschaft geschaffen, die Fortschritt als Wachstum, als „immer höher, weiter und mehr“ definiert.

• Das blaue Antriebssystem ist dabei die bestimmende Kraft. Ursprünglich nur aktiv, um die Grundversorgung zu garantieren, ist es zum Selbstzweck geworden und gefährdet jetzt sogar den Planeten.

• Auch Freizeit kann eher Stress als Erholung bedeuten.

• In unserem Wirtschaftssystem ist Wettbewerb der Motor und bringt ständigen Optimierungsdruck mit sich. Das hat zu einer Haltung geführt, die uns ständig nur den Mangel anschauen lässt.

• Wir Eltern laufen Gefahr, Leben und Erziehung zu einem Optimierungsprozess werden zu lassen.

2.3 Die dreifache Optimierungsfalle

Wir leben in einer Gesellschaft, die sich wirtschaftliches Wachstum, Weiterentwicklung, Fortschritt und Optimierung in allen Lebensbereichen als höchste Werte auf die Fahnen geschrieben hat.

Das Streben nach immer mehr und immer besser ist in unsere Gehirne eingesickert, ob wir es nun von unseren Eltern beigebracht bekommen haben oder von den Kollegen oder unserem Chef abgeschaut. Dasselbe Verhalten führen wir auch im Familienleben nahtlos fort. Wir wollen unsere Elternschaft optimieren – und das meist aus besten Absichten. Unser geübtes Optimierungsmuster dockt nämlich direkt an das seit jeher in uns angelegte Versorgungsstreben als Eltern an! Wir möchten das Allerbeste für unsere Kinder; dass sie es möglichst gut haben. Damit sind wir eigentlich schon genug beschäftigt.

Aber nun wollen wir auch noch unsere Kinder optimieren. Als Eltern verspüren wir den Druck, unsere Kinder fit zu machen für die Ellenbogen-Gesellschaft da draußen. Damit sie im Wettbewerb um die begehrten Bildungs- und Ausbildungsplätze bestehen können. Sie sollen das perfekte Rüstzeug bekommen, um sich im Job durchzusetzen, um „etwas zu werden“. Es kann zum Risiko werden, wenn wir Eltern bei unseren Kindern vor allem auf die Defizite schauen, auf das, was aus unserer Sicht nicht passt, was noch fehlt. Auf diese Weise geht dann oft der Blick verloren für das, was sie schon mitbringen, und das, was sie schon alles entwickelt haben.

Vielmehr noch laufen wir als Eltern Gefahr, ständig unzufrieden zu sein. „Das könnte noch besser sein.“ Natürlich geht es immer noch eine weitere Stufe nach oben auf der Leistungsskala. Und wir kriegen sie dann ja auch vor die Nase gesetzt, diese Superkids, die zum Ballett und HipHop gehen, Querflöte und E-Gitarre spielen und sich Donnerstagabend noch um die armen Tiere im Tierheim kümmern. Aber als unzufriedene Optimierer schaffen wir uns unzufriedene Kinder. Sie spüren, dass sie nicht genügen, dass sie nicht den Erwartungen entsprechen.

Dieses Gefühl – „Egal-wie-ich-es-mache-irgendwas-passt-immernicht“ – kann zwei Reaktionen auslösen:

1. „Dann stimmt mit mir wohl etwas nicht!“

Das ist die Richtung zu Selbstwertminderung und Depression.

2. „Wenn ich es denen eh nie Recht machen kann, dann mache ich ab jetzt alles nur noch wie ich es will!“

Das geht in Richtung potenzieller Sozialstörung.

In der Erziehung tendieren wir sowieso schon dazu, besonders auf die Fehler zu schauen – „Ist unser Kind richtig angezogen? Spricht es richtig? Verhält es sich richtig?“— und auf das, was noch entwickelt werden muss – „Kann es sich ausreichend regulieren? Könnte es noch besser sein?“

Mein Wunsch für uns als Eltern ist, dass wir Optimierungsfallen vermeiden. Es geht also um die folgenden Kernfragen:

1. „Wann bin ich zufrieden mit meinem Kind? Und warum?“

2. „Wann bin ich zufrieden mit mir selbst? Und warum?“

3. „Was brauche ich, um im Herzen zufrieden zu sein?“

Ich kann den Satz förmlich durch die Luft fliegen sehen: „Wenn ich zu früh zufrieden bin, werde ich träge und es gibt keinen Fortschritt mehr“. Hier spricht die große Wahrnehmungsverzerrung im blauen System aus uns; Weiter und Mehr als solches sind zu einem Wert geworden. Die bloße Anstrengung mit dem Ziel der Zufriedenheit und Sättigung als Eingangstür zum Wohlbefinden zählt nicht mehr. So landen wir schnurstracks im blauen Hamsterrad statt im grünen „Katze-genießt-die-Sonne“-Modus.

Die Schule als blaue Optimierungswerkstatt

Nicht nur wir Eltern tappen in die Falle, unsere Kinder optimieren zu wollen. Betrachten wir, wie Werte und Systeme in der Schule verteilt sind. Auch hier gibt es einen Unterschied, wie Persönlichkeit im alltäglichen Unterricht im Vergleich zu messbaren Leistungen im Zeugnis gewichtet werden.

Ich erinnere mich gut an viele Elternabende in der Realschule, bei denen von meiner jüngsten Tochter geschwärmt wurde: Sie sei wichtig für das Klassenklima, habe eine sehr ausgleichende Art, kümmere sich tröstend und mitfühlend um andere. Beim Blick auf das Zeugnis am Jahresende dachte ich mir: „Darauf ist offensichtlich gepfiffen“. Vielleicht gibt es eine kleine Notiz „Sozialverhalten war lobenswert“, ansonsten dreht sich alles um die Arbeitshaltung, welche Lerndefizite noch vorliegen und Noten, Noten, Noten. Im Zeugnis geht es nur um Blau.

Wenn wir schon bei Schule und blauen Exzessen sind. Als Kinder- und Jugendpsychiater in Bayern, einem Bundesland mit sehr strenger Übertrittsregelung für die höheren Schulen, denke ich bei mehr als der Hälfte meiner Patienten aus der 4. Klasse: „Eigentlich müsste ich diese Krankenbehandlung der Gemeindeunfallversicherung in Rechnung stellen. Denn diese Kinder leiden an einem systematischen Schulunfall!“ Es wird ein riesiger Druck aufgebaut, in der Form, dass ein „befriedigend“, also die Note 3, als dramatisch schlecht gilt und nicht für den Übertritt reicht. Ich sehe reihenweise Kinder mit psychischen Belastungsreaktionen, die eindeutig durch diese unsinnig frühe Auswahl bedingt werden. Infolge dieser strengen Auswahl drohen zudem alle, die in der dritten und vierten Klasse im Übertrittsrennen nicht vorne dabei sind, in der Förderung hinten runterzufallen.

Die Elternmitbestimmung ist dabei deutlich eingeschränkt. Seit 2009 können sie einen dreitägigen Probeunterricht mit Prüfungscharakter an der höheren Schule fordern, wenn der geforderte Notenschnitt nicht erreicht ist – Höchststress für die Kinder. Ich kenne die Klagen von Lehrerinnen und deren Angst vor dem nächsten Elternsprechtag und dem Druck, den „übertrittsgestresste“ Eltern aufbauen. Ich kenne auch die Nöte von eben diesen Eltern aus der Beratung, die das Beste für ihr Kind wollen, aber nicht selber entscheiden dürfen. So kämpfen sie mit ihren Kindern gegen jede 3.

Das Schulsystem hat sich ganz dem blauen System von Auswahl und Wettbewerb verschrieben. Ohne „häusliche Zweitschule“ durch engagierte gebildete Eltern ist das kaum zu schaffen. Es wird sogar international kritisiert, dass diese Auswahl so unsinnig früh getroffen wird. Die meisten Studien geben Deutschland, und Bayern ganz besonders, schlechte Noten bezüglich der Chance von Kindern aus bildungsfernen Haushalten, es trotz guter Begabung auf eine entsprechend höhere Schule zu schaffen. Es scheint wohl einfach nicht wichtig genug oder erstrebenswert. Lieber blaue Rekorde bei den Abi-Noten als grüne Fürsorge für die, die keine „Eltern-Zweitschule“ haben oder sich schon in der Grundschule viel Nachhilfe leisten können.

Hinterher werden dann alle möglichen Auffangsysteme für Schulabbrecher, Nachreifelehrgänge zum Schulabschluss oder zur Berufsreife angeboten. Je nach Bundesland sind es zwischen 4 und 10 Prozent der Schüler, die ohne Abschluss von der Schule gehen.1 So wird sich dann hinterher wieder um all diejenigen bemüht, die vorher aussortiert wurden.

www.faz.net, 9. 4. 2008

Kritik am deutschen Schulsystem

Im OECD-Wirtschaftsbericht wird abermals das dreigliedrige Schulsystem kritisiert. In keiner anderen vergleichbaren Industrienation sei der Bildungserfolg eines Kindes so abhängig von seiner sozialen Herkunft wie in Deutschland.(…)

Die im weltweiten Vergleich nur noch in Deutschland und Österreich übliche frühe Aufteilung zehnjähriger Kinder auf verschiedene Schulformen wie Gymnasium oder Hauptschule sei wesentlicher Grund für die fehlende Chancengleichheit in der deutschen Bildung, heißt es in dem Bericht unter Berufung auf mehrere neue Studien.

www.spiegel.de, 15. 9. 2016

„Keine Schule, keine Lehre, kein Job“

Wie schon in den Jahren zuvor kritisiert die OECD wieder, dass Deutschland, gemessen an seinem Bruttoinlandsprodukt, weniger Geld in sein Bildungssystem investiert als andere Staaten: 4,2 Prozent des BIP fließen in die Bildung, im OECD-Durchschnitt sind es mit 4,8 Prozent deutlich mehr. www.t-online.de – Quelle: Werner Herpell, dpa, 6.12.2016

Pisa-Chef Andreas Schleicher:

„Das Bildungssystem in Deutschland ist altmodisch.“

Die Unterstützungssysteme, auch die Position des Lehrers als Einzelkämpfer im Klassenzimmer, die Kreativität im Unterricht – all das blieb unverändert, weil das Bildungssystem weiterhin sehr altmodisch ist. Das Ergebnis: Wo Deutschland sich einbildet, gut zu sein, sind große Lücken.

Oh Schreck, mein Kind ist durchschnittlich

Stellen wir uns vor, Sie sind beim Elternsprechtag und die Lehrerin sagt Ihnen: „Ihr Kind ist ganz durchschnittlich.“ Sie fragen noch mal nach in welchen Bereichen. Und sie meint: „Ach, eigentlich überall, einfach ein ganz durchschnittliches Kind.“ Wie fühlt sich das an für Sie? Was regt sich in Ihnen? Sind Sie froh oder enttäuscht? Ich denke, viele von uns hören da einen negativen Unterton, es klingt in unseren Ohren fast schon ein bisschen abschätzig.

Das Prädikat „durchschnittlich“ nehmen wir heute in vielen Bereichen vor dem Hintergrund unseres Strebens nach besonderen Leistungen, besonderen Erlebnissen schon fast als Beleidigung wahr. „Ach, der Urlaub war durchschnittlich.“, „Die Arbeitsleistung ist durchschnittlich.“, „Die Versorgung im Krankenhaus war durchschnittlich.“ Ich weiß nicht, ob es Ihnen so geht wie mir, aber für mich klingt das alles nicht gut, gar nicht gut. Durchschnittlich wird gleichgesetzt mit „Es war nichts Besonderes.“

Betrachten wir „durchschnittlich“ einmal mathematisch, genauer die sogenannte Normalverteilung nach Carl Friedrich Gauß. Sie wissen schon, diese Glockenkurve (siehe Kasten). Vereinfacht sagt die Normalverteilung, dass die meisten Ergebnisse einer Messung gleichmäßig um eine Mitte herum liegen und an den Rändern seltener auftreten. Ein Beispiel: Es gibt nur wenige sehr große Menschen und nur wenige sehr kleine Menschen, die meisten Menschen sind mittelgroß. Als Durchschnitt haben Mathematiker irgendwann einmal den Bereich definiert – um im Bild der Körpergrößenmessung zu bleiben —, in dem 68 von 100 Menschen zusammengefasst werden können. Das heißt mehr als zwei Drittel der Menschen sind durchschnittlich. Und das wiederum heißt, durchschnittlich zu sein, ist ganz normal.


→ Abb. 2.2 Gaußsche Glockenkurve

Viele Messungen und Beobachtungen haben ergeben, dass Ergebnisse meist gehäuft um einen Mittelwert liegen und gleichmäßig abnehmen, je weiter sie davon entfernt sind. Als Konvention haben Wissenschaftler einen Durchschnittbereich definiert, der zwischen der negativen und positiven 1. Standardabweichung liegt (µ-σ und µ+σ). In diesem Bereich sind 68,27 % der Ergebnisse zu finden. Über- und unterdurchschnittliche Ergebnisse liegen zwischen 1. und 2. Standardabweichung. Weit überdurchschnittliche Ergebnisse und auch das Gegenteil liegen dann jenseits der 2. Standardabweichung. Das sind auf jeder Seite nur noch 2,275 %.

Die Normalverteilung spielt bei der Charakterisierung von biologischen Prozessen und in der Technik eine wichtige Rolle. Auch bei der Bewertung der Intelligenz wird die Methode verwendet. Wenn Ihr Kind durchschnittlich intelligent ist, dann gehört es also zur Zwei-Drittel-Gruppe der ganz „Normalen“. Ihr Kind hat dann einen Intelligenzquotienten (IQ) zwischen 85 und 114 um einen Mittelwert von 100. Nur 16 % der getesteten Menschen können überdurchschnittlich begabt sein (IQ zwischen 115 und 129), 2 % gelten als hochbegabt (IQ 130 und mehr). Auf der anderen Seite der Verteilung sind diese 2 % Menschen mit einer geistigen Behinderung.

Viele Messungen und Beobachtungen haben ergeben, dass Ergebnisse meist gehäuft um einen Mittelwert liegen und gleichmäßig abnehmen, je weiter sie davon entfernt sind. Als Konvention haben Wissenschaftler einen Durchschnittbereich definiert, der zwischen der negativen und positiven 1. Standardabweichung liegt (µ-σ und µ+σ). In diesem Bereich sind 68,27 % der Ergebnisse zu finden. Über- und unterdurchschnittliche Ergebnisse liegen zwischen 1. und 2. Standardabweichung. Weit überdurchschnittliche Ergebnisse und auch das Gegenteil liegen dann jenseits der 2. Standardabweichung. Das sind auf jeder Seite nur noch 2,275 %.

Als Ehrenrettung für uns: Wahrscheinlich haben wir im Alltag eher ein Konzept im Kopf, das „überdurchschnittlich sein“ damit gleich setzt, bei der „besseren“ Hälfte dabei zu sein, also beispielsweise bei der Intelligenz auf der rechten Seite der Mittellinie. Doch selbst wenn wir diese gefühlsmäßige statt der mathematischen Definition nehmen, leiden wir meistens an einer totalen Wahrnehmungsverzerrung. Dieses Phänomen ist in der Wissenschaft als Dunning-Kruger-Effekt bekannt.

Die beiden Psychologen David Dunning und Justin Kruger haben im Jahr 1999 mithilfe einer Reihe von Tests festgestellt, dass sich, zur Selbstbeurteilung ihrer Ergebnisse aufgefordert, Teilnehmer fast immer als überdurchschnittlich einschätzten. Ein weiteres Ergebnis der Psychologen: Je weniger kompetent ein Teilnehmer/eine Teilnehmerin war, desto größer war seine/ihre Überzeugung, überdurchschnittlich gut zu sein.

Aber nicht nur wir Eltern leiden am Dunning-Kruger-Effekt. Wie Wissenschaftler in den USA 1981 und später auch in Kanada herausgefunden haben, sind 93 % der Autofahrer überzeugt, besser zu fahren als der Durchschnitt.2 Eine andere Studie kam zu dem Ergebnis, dass 94 % der US-amerikanischen Professoren meinen, sie sind überdurchschnittlich gut.3 In einer weiteren Erhebung wurden High-School-Schüler gebeten, ihre Führungskompetenz einzuschätzen. 70 % hielten sich für überdurchschnittlich geeignet.4 Unsere persönliche Normalverteilung sieht also nicht wie bei Gauß aus, sondern eher so.


→ Abb. 2.3 Subjektiv verzerrte Verteilung

Ich denke, dass wir in Sachen Eigenwahrnehmung und unserem alltäglichen Sprachgebrauch wieder einmal den Verlockungen des blauen Systems aufgesessen sind. Was ist denn schon durchschnittlich wert? Das war dann ja nicht besonders. Es war nicht herausragend oder überdurchschnittlich. In unserem Höher-Weiter-Mehr-Selbstkonzept zählt nur die Goldmedaille. Silber und Bronze akzeptieren wir gerade noch. Der vierte Platz, Holz genannt, ist dann schon ein Grund zum Ärgern. Auf einen Leistungssportler gemünzt: Selbst wenn er oder sie zu den besten 10 in seiner/ihrer Disziplin bei Olympia zählt, gilt das quasi gar nichts, wenn nicht Gold, Silber oder Bronze geholt werden.

Es lohnt sich wirklich einmal innezuhalten und zu beobachten, wie sehr dieser „blaue“ Virus schon in unser Elternhirn eingezogen ist, und auch im Umgang mit den Leistungen unserer Kinder immer wieder von Neuem ausbricht:

1. „Was heißt durchschnittlich für uns persönlich?“

2. „Muss eine Leistung immer herausragend sein?“

3. Was sind überhaupt die Kriterien dafür, dass wir uns über die „Produkte“ oder „Leistungen“ unseres Kindes freuen?

4. Und wie oft zeigen wir unsere Freude, ohne dass sich das auf eine „Leistung“ bezieht?

Die Tatsache, dass zu allem was Kinder oder Jugendliche gerne machen – Dirtbike oder Skateboard fahren, Singen oder Tanzen, Schachspielen oder Programmieren – auf Youtube sofort die „Allerbesten“ mit ihren Extremleistungen zu finden sind, füttert zusätzlich das blaue System unserer Kinder. Wie schwer ist es doch geworden, ein „Held“ zu sein, und wie viel schwerer, ganz normal zu sein?

Kurz und knapp:

• Die dreifache Optimierungsfalle: Optimierungsdruck von außen trifft auf unseren innersten Wunsch, unsere Kinder so gut wie nur irgendwie möglich zu erziehen, sie optimal für die Welt da draußen vorzubereiten.

• Schule hat sich beinahe komplett der Optimierung verschrieben.

• Eine häufige Wahrnehmungsverzerrung ist: Sind unsere Kinder durchschnittlich, bedeutet das für uns als Eltern eine Herabsetzung, etwas Schlechtes.

Deine Kinder sind nicht deine Kinder.

Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.

Sie kommen durch dich, aber nicht von dir.

Und obwohl sie bei dir sind, gehören sie dir nicht.

aus „Der Prophet“ von KAHLIL GIBRAN, libanesisch-amerikanischer Dichter

2.4 Wir nehmen uns zu wichtig als Eltern und leiden darunter

Elterlicher Größenwahn

Eltern und Größenwahn, das klingt jetzt böse. Wir werden aber spüren, wie groß die Erleichterung ist, wenn wir aus dieser Falle entkommen. Unterschwellig handeln wir nämlich oft so, als ob die gesamte Entwicklung unseres Kindes, alles, was es auf den Weg bringt und anstellt, ausschließlich von uns und unserer Erziehung abhängt. Wir beziehen viel zu viele Dinge, die geschehen, auf unser Handeln und unsere Haltung als Eltern. Kurz gesagt: Wir nehmen uns zu wichtig.

Wie als Beweis für den geringen Einfluss erlebe ich meine zwei Töchter. Die eine ist 15 Monate älter als die andere. Beide sind also im selben Nest und mit der gleichen Erziehungshaltung aufgewachsen. Trotzdem sind sie völlig unterschiedliche Charaktere und haben recht gegensätzliche Pfade der Persönlichkeitsentwicklung eingeschlagen. Eine meiner Töchter setzt energisch ihre Interessen durch, die andere ist ganz auf Harmonie aus. Eine kleidete sich mit Glitzer und goldenen Accessoires, machte verschiedenste Modetrends mit, und konnte über den Hip-Hop-Style ihrer Schwester nur müde lächeln. Eine trinkt gerne Alkohol und raucht, der anderen schmeckt Alkohol gar nicht und sie trinkt noch nicht mal Kaffee. Eine legte eine Mega-Pubertät hin mit viel Krach und bei der anderen waren wir froh, wenn sich mal ein bisschen was von Ich-Durchsetzung gezeigt hat oder sie sich mal getraut hat, zu zeigen, dass sie sauer war.

Gut, ich gebe zu, einen gewissen Geschwister-Verteilungseffekt muss man mit berücksichtigen. Wenn eine Nische besetzt ist, sucht sich die Zweite eine andere. Aber auch das relativiert ja den ausschließlichen Einfluss unserer Erziehung. Von außen würden viele sagen, diese zwei jungen Frauen können nicht aus dem gleichen Stall kommen. Es zeigt sich also, dass es offensichtlich noch viele andere Faktoren gibt, die unsere Kinder in ihrem persönlichen Entwicklungsstil beeinflussen. Unsere Erziehungsaufgabe bleibt wichtig, keine Frage. Nichtsdestotrotz kann es helfen, etwas von diesem Größenwahn abzulegen, dass wir Eltern und unsere Erziehung der alles bestimmende Faktor sind.

Das gilt auch dann, wenn Kinder Fehlverhalten zeigen oder nach außen etwas Unschönes getan haben. Wir neigen dazu, dass sofort auf unsere Kappe zu nehmen, schreiben es quasi auf unser Eltern-Schulden-Register. Ich weiß, von was ich rede.

Wenn morgens in der Zeitung steht, dass durch eine Graffiti-Aktion ein Stadtteil verunstaltet wurde, und man im Laufe des Folgetages plötzlich denkt: „Das war doch die Nacht, in der Sohnemann seine Fete gefeiert hat.“ Und sich dann bei bohrendem Nachfragen herausstellt, dass tatsächlich Sohnemann und ein Freund die Sprühfinken waren, dann rutscht einem schon das Herz in die Hose. In meinem Kopf ertönte damals eine Stimme: „Ja klasse, der Kinder- und Jugendpsychiater und seine Kinder, der hat’s ja voll drauf.!“

Ich weiß, wie ich mit ihm gelitten habe, im langen Büßer-Gang; ein großes Entschuldigen bei allen Betroffenen und das Anbieten der Wiedergutmachung, der Reinigung oder des Kostenersatzes. Es war eine wichtige gemeinsame Erfahrung für ihn und mich. Herzerfrischend und in meiner Erinnerung eine kleine innere Ehrenrettung war Monate später eine Mutter, die zum Erstgespräch in der Praxis erschien und sagte: „Ach, wir sind bewusst zu Ihnen gekommen, weil ich gehört habe, dass Ihre Kinder auch schon Scheiß gebaut haben und nicht so oberperfekt sind wie die Kinder der Kollegin, deren Praxis viel näher ist.“

Mein Kind als mein Werkstück

Die Kinder als „unser Produkt“ zu sehen ist eine weitere Falle, die eng verwandt ist mit unserem elterlichen Größenwahn. Anders formuliert: Mein persönlicher Wert als Elternteil hängt davon ab, wie mein Kind ist und sich entwickelt.

Auf eine Art ist das verständlich, weil es uns so am Herzen liegt, dass sich unsere Kinder besonders gut entwickeln. Evolutionsgeschichtlich wird das ebenfalls begünstigt. Schließlich ist es die elementare Aufgabe des Menschen, seine eigenen Gene weiterzugeben. Ein gewisser Vaterstolz und Mutterstolz ist ja auch schön und herzerwärmend, wenn die Entwicklung der Kinder in der vorgezeichneten Bahn verläuft. Schwieriger ist es schon, wenn sie es wagen einen Entwicklungsweg zu wählen, den wir uns so nicht gewünscht haben. Wenn die Tochter vom Professoren-Ehepaar eben nicht Medizinerin werden will oder schlimmer noch nicht einmal studieren will, und sie völlig andere Pläne schmiedet, um sich zu verwirklichen.

TAUSENDE JAHRE KLAGE ÜBER DIE JUGEND

Vielleicht entlastet uns ein Blick in die Geschichte. Unzufriedenheit mit den eigenen Erziehungserfolgen und der Jugend scheint ein zeitloses Phänomen:

Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos.

Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern.

Das Ende der Welt ist nah.

KEILSCHRIFTTEXT, CHALDÄA, UM 2000 V. CHR.

Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten.

BABYLONÍSCHE TONTAFEL, CA. 1000 V. CHR.

Die Kinder von heute sind Tyrannen. Sie widersprechen ihren Eltern,

kleckern mit dem Essen und ärgern ihre Lehrer.

SOKRATES, CA. 470 BIS 399 V. CHR.

Die Welt macht schlimme Zeiten durch. Die jungen Leute von heute denken an nichts anderes als an sich selbst. (…) Sie sind ungeduldig und unbeherrscht. Sie reden so, als wüssten sie alles, und was wir für weise halten, empfinden sie als Torheit.

MÖNCH PETER, 1274

Der grenzenlose Mutwille der Jugend ist ein Zeichen,

dass der Weltuntergang nah bevorsteht.

NACH MELANCHTHON, UM 1530

Das Sittenverderben unserer heutigen Jugend ist so groß,

dass ich es unmöglich länger bei derselben aushalten kann.

EIN SCHULMEÍSTER, 18. JH.

Google-Suche; Suchwort „1.000 Jahre Klagen über die Jugend“;

Hauptquelle: www.autenrieths.de

Oft äußert sich das ganz harmlos, bei den kleinen Dingen: zum Beispiel den besonderen Leistungen des Kindes im Sport, in der Schule. Wie viel davon verbuche ich auf mein Konto, wie stark sind es meine besonderen Leistungen? „Wir haben so viel gelernt und wir haben dann die gute Note im Diktat bekommen.“ Besonders gefährdet scheinen hier Vollzeit-Elternteile zu sein, weil es ja nun mal ihre Jobbeschreibung ist, das Kind zu erziehen. Sie neigen besonders dazu, gegenüber sich selbst ein „Ergebnis“ präsentieren zu müssen, und koppeln die guten Leistungen eng an ihren Selbstwert. Die Leistung ihres Kindes, ihres Produkts, droht ihre eigene Qualität als Eltern und schließlich als Person zu bestimmen.

Das klingt jetzt vielleicht in manchen Ohren zu krass. Aber denken Sie einmal nach. Kennen Sie diese Fragen:

Ja was macht denn deiner? Zu welcher Schule geht er oder was studiert er?

Welche Ausbildung oder welchen Job hat sie denn? In einer „guten“ Firma?

War deiner schon in Australien oder Neuseeland zu „work and travel“?

Wie fühlen sich Ihre Antworten an?

Ich möchte Sie einladen, bei all dem Engagement noch einmal genau hinzuschauen:

„Wann nehme ich mein Kind als eine Art Werkstück wahr, das unter meiner Bearbeitung entsteht?“ (Damit laufe ich Gefahr, mich mit dem „Ergebnis“ zu identifizieren. Alles, was mein Kind tut, wird mit meiner eigenen Leistung gleichgesetzt oder definiert gar meinen Wert als Person.)

1. Wie weit geht dieser Elternstolz? Ist es noch die Mit-Freude?

Und gibt es die Freude auch unabhängig vom „Ergebnis“?

2. Darf ich mich freuen, einfach weil mein Kind da ist und lebt und in seiner Art und Weise wächst?

3. Kann ich mein Kind wertschätzen, auch wenn es Wege geht, die von meinem Idealbild abweichen?

Wenn wir uns in den betrachteten Optimierungsfallen verfangen und versuchen den Stolpersteinen auszuweichen, verkrampfen wir als Eltern. Wir bemühen uns stärker, bringen uns noch mehr ein, wollen noch bessere Eltern werden. Aber die Mischung aus Machbarkeitsfantasie, Eigenoptimierung und gefühlter Verantwortung für alles kann verdammt anstrengend sein. Loslassen ist der erste wichtige Schritt, mit dem Vieles leichter wird.

Schaffen wir es nicht den Fallen Optimierungsdruck, Größenwahn, Werkstück zu entgehen, kann das in einer andauernden Hyperoptimierung des Kindes enden. Die zugehörigen Mütter und Väter kennen wir als sogenannte „Helikoptereltern“. Um die geht es in diesem Buch zwar nicht, trotzdem sollten wir uns die Fragen stellen:

1. Wo bin ich selbst auch ein wenig am „Helikoptern“ und vor allem warum?

2. Ist mein Einsatz vertretbar und tue ich die Dinge noch zum Wohl des Kindes oder überschreite ich schon eine Grenze?

3. Was würde mir helfen, lockerer zu lassen?

Welche innere Erlaubnis brauche ich?

Kurz und knapp:

• Die elementare Aufgabe der Brutpflege und der eigene Elternstolz können aus dem Ruder laufen.

• Es besteht das Risiko, zu glauben, die gesamte Kindesentwicklung hängt von uns Eltern und unserer Erziehung ab. Dieses Gefühl kann eine große Last sein.

• Wir Eltern laufen Gefahr, dass wir unseren persönlichen Wert davon abhängig machen, wie sich unsere Kinder entwickeln.

• Das schränkt die Freiheit der Kinder ein, sich ganz anders zu entwickeln, als wir vielleicht wollen.

1 Regionaldatenbank Deutschland: www.regionalstatistik.de

2 Svenson, O., Are we less risky and more skilful than our fellow drivers? In: Acta Psychol. 1981 (47), S. 143–148.

3 Cross, K., Not can, but will college teaching be improved? In: New Dir High Educ., 1977 (17), S. 1–15.

4 College Board, Student descriptive questionnaire. Princeton: Educational Testing Service; 1976–1977.

Wir Eltern sind auch nur Menschen!

Подняться наверх