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Vorwort

Einmal wird vielleicht aus dieser

Zivilisation eine Kultur entspringen.

LUDWIG WITTGENSTEIN

Wir leben in Deutschland in einer historisch glücklichen Situation mit einem großen materiellen Reichtum, geschützten und geordneten Rahmenbedingungen und mit einer beneidenswerten medizinischen Versorgung. Trotzdem sind wir so unzufrieden wie eh und je und unsere Ängste und Verunsicherungen sind sicherlich nicht weniger geworden. Dies hat mit Veränderungen auf zwei Ebenen zu tun:

Die von uns selbst geschaffenen objektiven Lebensbedingungen sind trotz der vielen objektiven Fortschritte, der sozialen Verbesserungen und der enormen technischen Erleichterungen nicht so, dass wir heute leichter mit ihnen zurechtkommen. Sie haben sich in der Weise verändert, dass sie heute andere und neue Anforderungen an uns (zum Beispiel an unsere Aufmerksamkeit, an unsere Stresstoleranz, an unsere Kommunikationsfähigkeit, an unsere psychische Flexibilität, an unsere Umstellungsfähigkeit im Lebenslauf) stellen. Auf diese Anforderungen sind wir von unserer Ausstattung her – die sich im Verlauf der Evolution entwickelt hat – nicht „automatisch“ gut eingestellt. Wir treffen auf eine von uns selbst gemachte Umwelt, auf die wir psychobiologisch nicht gerade gut vorbereitet sind.

Wir wissen immer besser darüber Bescheid, was gut und was schädlich für uns ist. Wir haben eine bessere Wahrnehmung und eine höhere Sensibilität für psychische Probleme. Gerade die Sensibilität für die Verletzlichkeit von Kindern ist gestiegen. Eine große Zahl von Untersuchungen hat aufgezeigt, welche schlimmen Folgen zum Beispiel die Misshandlung oder der Missbrauch von Kindern für das ganze weitere Leben haben kann. Die Normen und Bewertungsmaßstäbe im Hinblick auf den Gewaltschutz und das Kindeswohl haben sich in den letzten Jahrzehnten sehr grundlegend verändert. Auch die Erwartungen, die wir heute an die Erziehung und Betreuung von Kindern stellen, sind glücklicherweise andere als noch vor wenigen Jahrzehnten.

Die angesprochenen – durchaus positiven – Veränderungen aber tragen nicht zu einer Beruhigung, Entspannung und Entängstigung bei, sondern im Gegenteil, sie haben auch paradoxe Auswirkungen: Mit den objektiven Fortschritten und den veränderten Maßstäben haben sich auch unsere Erwartungen an uns selbst erhöht, der soziale Vergleich stellt sich verschärft dar: Die Erwartung „normal“ zu funktionieren, die Zeit effektiv zu nutzen, der Druck sich selbst, das eigene Leben, die eigenen Bedingungen immer weiter zu optimieren haben sich erhöht und die Ängste, „abgehängt“ zu werden oder „hinten runter zu fallen“ sind eher größer geworden. Der Therapiebedarf ist sowohl bei Erwachsenen wie bei Kindern rasant angestiegen und wächst weiter.

Der Zeitdruck, der Normalitätsdruck, der Druck zur Optimierung stellt sich in Familien mit Kindern besonders krass dar. Wer will nicht eine gute Mutter/ein guter Vater für sein Kind sein? Wer will nicht das Beste für sein Kind? Die Eltern stehen unter einem Druck, der sich zu einem großen Teil aus den eigenen hohen Erwartungen an sich selbst ergibt. Diese Ansprüche sind zwar gut verständlich, aber häufig unerfüllbar. Empirische Studien zeigen, dass der zeitliche ebenso wie der finanzielle Druck in Familien mit kleinen Kindern zu einem sehr hohen Stresspegel führen kann, der sich nachweisbar schädlich auf die psychische Gesundheit der Kinder auswirkt.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen haben seit der Jahrtausendwende neue psychotherapeutische Ansätze eine sehr große Resonanz gefunden, die alte östliche Traditionen und meditative Techniken aufgegriffen und in neue Therapiekonzepte umgesetzt haben. Diese neuen Therapiekonzepte fügen sich nicht mehr in die gewohnten überkommenen Einteilungen nach verschiedenen Therapieschulen, sondern stellen für alle traditionellen Ansätze eine Bereicherung und Weiterentwicklung dar. Jörg Mangold hat sich – nach einer fundierten ärztlichen, psychiatrischen und psychotherapeutischen Ausbildung – sehr intensiv in diese neuen Konzepte eingearbeitet, eingefühlt und eingelebt und diese zu einer eigenen und sehr authentischen therapeutischen Haltung entwickelt, die gekennzeichnet werden kann durch die Begriffe Achtsamkeit, Mitgefühl und Selbstmitgefühl.

Ich habe Jörg Mangold als jungen Arzt kennengelernt, kurz nachdem er sein Medizinstudium abgeschlossen hat und konnte die ersten sehr engagierten Schritte seiner psychotherapeutischen Arbeit begleiten. Später dann habe ich ihn erlebt als Familienvater, als Leiter seiner kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis, als Inspirator des großartigen Mangold-Praxisteams und als Motor einer humanitären Arbeit, die er unter dem Titel „Allgemeines Recht auf Gesundheit und Ausbildung“ organisiert hat. Ich bewundere seine große Offenheit für Neues, für Kritik, für Veränderungen, ich kenne seine an Umtriebigkeit grenzende hochdynamische Aktivität, ich schätze sein humanitäres Engagement und seine Lebendigkeit. Und ich bewundere seine große Bereitschaft, ja seinen Mut und seine Unerschrockenheit, sich selbst zur Disposition zu stellen.

In seinem hier vorgelegten Buch werden diese Eigenschaften auch für den deutlich, der ihn noch nicht persönlich kennengelernt hat und es ist sehr schön erkennbar, wie sich seine Achtsamkeitspraxis, seine praktischen Erfahrungen als Arzt und als Psychotherapeut mit seinem ganz privaten und persönlichen Lebensweg, den er gemeinsam mit seiner Familie gegangen ist, verbinden. Ich habe das vorliegende Buch mit großer Begeisterung und einer wirklichen Lernfreude gelesen.

Es handelt sich hier nicht um einen Elternratgeber, denn es werden keine Ratschläge gegeben. Jörg Mangold stützt sich auf aktuelle Erkenntnisse aus der evolutionären Biopsychologie und der Neuropsychologie; er präsentiert auf dieser Grundlage hilfreiche kognitive Koordinaten, mit denen wir uns selbst und auch unsere eigene Schwächen besser verstehen und akzeptieren können; er gibt uns Anregungen wie wir uns als Väter oder Mütter in freundlicher Weise neu kennenlernen können. Das Buch vermittelt keine Techniken im engeren Sinne, sondern gibt uns stattdessen sehr konkrete Vorschläge für die praktische Einübung in eine menschenfreundliche Haltung, sich selbst, den Partnern und den eigenen Kindern gegenüber.

Die Einübung dieser Haltung hat – im Sinne bester psychotherapeutischer Tradition – durchaus subversiven Charakter. Achtsamkeit und Selbstmitgefühl sollten nicht als weitere Selbstoptimierungsstrategien missverstanden werden; sie können und sie werden uns vielmehr dabei helfen, eigenen und fremden Erwartungen gegenüber auf einen gewissen Abstand zu gehen, um im alltäglichen Getümmel sich selbst, die eigene Familie, den eigenen menschlichen Bezirk zu bewahren und zu erweitern. Dies wird für viele Familien sehr hilfreich sein und vielleicht kann dies auch zu einer Kultivierung unserer Zivilisation beitragen.

Marburg, 23. August 2017

PROF. DR. PHIL., DIPL.-PSYCH. FRITZ MATTEJAT

Psychologischer Psychotherapeut, Kinder- und Jugendpsychotherapeut, langjähriger leitender Psychologe der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie und Vorstand/Ausbildungsleiter des Instituts für Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin an der Philipps-Universität Marburg

Wir Eltern sind auch nur Menschen!

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