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Kapitel Eins

Unser trickreiches Elternhirn

Und dann braucht man auch noch Zeit, um

einfach dazusitzen und vor sich hin zu gucken.

ASTRID LINDGREN

1.1 Warum wir als Eltern so ticken, wie wir ticken – vor allem wenn’s schnell gehen muss oder stressig ist

Wir starten diese Selbsterforschungsreise des Elternseins bei unserem Gehirn. Warum? Weil dort das „Zentrum der Macht“ sitzt. Jede unserer Wahrnehmungen – alles was wir sehen, hören, riechen, schmecken, tasten – wird dorthin gemeldet. Diese Sinnesreize werden mit Gefühlen und Gedanken verknüpft. Im Gehirn entstehen unsere Ideen und Vorstellungen über die Welt. Hier haben die Impulse für unser Handeln und unsere Reaktionen ihren Ursprung. Bei all dem können wir uns auch noch selbst beobachten. Wir können uns quasi beim Leben zuschauen und über dieses nachdenken. Weil wir wissen, dass wir wissen, haben wir uns Homo sapiens sapiens genannt.

Nicht umsonst gilt unser Gehirn als das komplexeste System, das wir im ganzen Universum kennen. Auf unserem Weg durch die Entwicklungsgeschichte des Gehirns werden wir lernen, warum wir als Eltern auch heute noch uralte Alarmsysteme in uns tragen und sie immer wieder aktivieren: „Achtung – es geht ums Überleben!“ und „Überall lauern Gefahren“. Wir entdecken, dass wir im Kinderzimmer oft fühlen und handeln, als wären wir in der Steinzeit und hätten es mit Säbelzahntigern zu tun. Wir lernen aber auch ein Beruhigungs- und Fürsorgesystem kennen, das wir als Gegenspieler zum Stress stärken können.

1.2 Das Gehirn hat eine Geschichte


→ Abb. 1.1 Dreieiniges Gehirn (engl. „triune brain“). Vgl. McLean, P. et al., A Triune Concept of the Brain and Behaviour. Toronto: University of Toronto Press, 1973.

Das Gehirn ist nicht über Nacht in unseren Kopf geraten. Seine Reifung hat auch nicht erst mit unserer Zeugung begonnen. Unsere Eltern haben uns zwar mit ihren Genen den Bauplan vererbt. Aber der Aufbau dieses Organs und grundlegende Schaltkreise haben sich in Millionen von Jahren der Evolution entwickelt.

Es lohnt sich also zu schauen, wo wir herkommen. Denn die Art und Weise, wie wir heute uns selbst, unsere Kinder und die Welt wahrnehmen, basiert ganz entscheidend darauf, wie sich dieses Organ im langen Lauf der Zeiten an seine Aufgaben angepasst hat.

Alte und neue Hirnanteile

Noch heute kann man die Entwicklungsstufen im Gehirn erkennen. Grundlegende Systeme bestehen schon seit der Zeit der Dinosaurier. Diese Hirnstrukturen sind bei uns und zum Beispiel Eidechsen noch immer ziemlich ähnlich aufgebaut. Nennen wir diese Anteile das „Dinosaurier-Gehirn“. Es regelt überlebensnotwendige Funktionen wie Atmung, Schlaf, Durst, Hunger und Körpertemperatur, aber auch grundlegende Reaktionen auf angenehme und unangenehme Reize, auf Bedrohung und zudem die Sexualität. Hier können wir heute noch ticken wie ein Dino.

Eine große Veränderung durchlief das Gehirn, als Tiere anfingen, ihren Nachwuchs zu säugen. Das verlängerte die Brutpflege erheblich und bedurfte einer engen, fürsorglichen Bindung an den Nachwuchs. Bindung braucht Emotionen. Deshalb entwickelten sich besondere Strukturen im Gehirn. Sie ermöglichten es, Gefühle mit Erfahrungen zu verknüpfen und die neuen Eigenschaften zu speichern. In späteren Entwicklungsstufen der Säugetiere waren diese Areale auch beim Lernen sowie für Beziehungen und Gruppenbildung wichtig. Nennen wir sie zusammenfassend das „alte Säugetiergehirn“. Wir haben zur Evolution ja meist martialische Begriffe wie Kampf und Auslese im Kopf. Es ist doch eine nette Randnotiz, dass Nähe, Versorgung und Fürsorge die Basis für diese so erfolgreiche Weiterentwicklung der Säugetiere und ihrer Gehirne bildeten.

Zuletzt kamen die Errungenschaften hinzu, die uns als Homo sapiens so einzigartig machen. Direkt hinter der Stirn sitzt die Kommandozentrale für die Denkfertigkeiten, die uns als Menschen besonders auszeichnen. Dort ist die Hirnmasse in der Menschwerdung am meisten gewachsen. Deswegen haben wir diese hohe aufrechte Stirn und nicht mehr die flachere Stirnform unserer Vorfahren, der Neandertaler.

Nur ein Wimpernschlag Menschheit


→ Abb. 1.2 Menschwerdung

Mit Blick auf die Erdentstehung erscheint die gesamte Geschichte des Homo sapiens nur wie ein Blinzeln. Noch einmal dramatisch an Fahrt aufgenommen hat die Entwicklung seit der industriellen Revolution vor 200 Jahren. Und in den letzten 30 Jahren der digitalen Revolution wurde unsere Lebensart mit Computern, Internet und Smartphones noch einmal rasant umgekrempelt. Unsere Kinder können sich ein Leben ohne digitale Technik im Wohnzimmer und das Smartphone in der Hosentasche – mit Verbindung zur ganzen Welt – gar nicht mehr vorstellen.

Wenn ich erzähle, dass meine Familie bis ich 10 Jahre alt war noch nicht einmal ein Telefon besaß, komme ich völlig antik daher. Unser Schwarz-Weiß-Fernseher empfing nur drei Programme und spätestens um Mitternacht gab es nur noch das Testbild zu sehen. (Ich erinnere mich gut an den Streit „Daktari versus Sportschau“, den mein Vater immer gewann.)

Wir haben als Menschen ein ganz neues Zeitalter geschaffen, in dem wir uns mit unseren alten und neuen Gehirnanteilen zu behaupten haben. So schnell konnte dieses Organ gar nicht „hinterherkommen“ und auch als Individuum fällt es uns nicht immer leicht.

Später kommen wir noch ausführlicher darauf zu sprechen, dass es auch eine Kehrseite der Medaille dieser neuen Hirnwindungen und menschlichen Denkfunktionen gibt, und welche „unerwünschten Nebenwirkungen“ sich daraus für unsere Psyche ergeben können.

Eine Urwelt voller Gefahren steckt uns noch heute im Kopf

Viele Urbewohner der Erde haben es nicht geschafft, zu überleben und sind im Verlauf der Zeit ausgestorben. Aber das menschliche Gehirn hat sich in einer Art und Weise entwickelt und verändert, die hilfreich war für das Überleben. Anders als in unserer jetzigen Lebenswelt ging es dabei die meiste Zeit um Leben und Tod.

Die Hauptregel war:

»To have lunch or to be lunch!«

also

»Hast du was zu essen oder wirst du gefressen?«

Das hatte Auswirkungen auf das Gehirn. Es hat gelernt, negative Ereignisse stärker zu gewichten. Die Wissenschaftler bezeichnen das als „negativity bias“.

Vielleicht wird uns als Mutter oder Vater am Ende des Tages klar, dass wir einen wirklich blöden Fehler gemacht haben. Daneben könnten uns noch 35 Dinge in den Sinn kommen, die an diesem Tag wirklich gut gelaufen sind. Wenn wir trotzdem grübelnd bei dieser einen Geschichte hängen bleiben, hat das genau damit etwas zu tun.

In der Urzeit war es eben wichtiger, sich die kritischen Lebensereignisse zu merken, etwa zu wissen, wo der Säbelzahntiger kreuzt, als zu speichern, wo die größten Pilze wachsen. Das heißt nicht, dass es nicht prima war, wenn sich einer aus dem Stamm gemerkt hatte, wo die besten Pilze wachsen und dafür auch gelobt wurde. Aber all diejenigen, die sich Gefahren nicht merken konnten, wurden zur Mahlzeit. Unterm Strich führte das zu einer Auslese zugunsten der Menschen mit Angst-, Gefahr- und Krisenspeicher-Gehirnen, die diese Gene für ein starkes Alarmsystem weitergeben konnten. Es haben also die nervösen Angsthasen überlebt, die ständig in Hab-Acht-Stellung waren und überall Unheil lauern sahen.

Kommt uns das irgendwie bekannt vor als Eltern?

Und jetzt wissen wir: Dafür können wir gar nichts! Denn wir haben ein Gehirn im Kopf, das sich evolutionsbedingt an die kritischen Ereignisse besonders gut erinnert.

Dazu kommt noch, dass wir aus uraltem Antrieb unsere Kinder schützen wollen. Es geht ja biologisch auch darum, die eigenen Gene weiterzugeben. Säuger, das wissen wir nun, versuchen dies über intensive Brutpflege zu ermöglichen. Wir Menschen haben das ja zu einem Extrem getrieben: Ab welchem Alter würde unser Kind eine Woche überleben, wenn es im Wald auf sich gestellt ist? Gut, manche Mütter würden sagen nie und manche Väter wären vielleicht mutiger. Aber im Vergleich zu anderen Säugern braucht unser Nachwuchs doch extrem lange, bis er ansatzweise selbstständig ist.

Kritik wiegt schwerer als Lob

Vom reinen Überlebensvorteil bei Gefahr hat sich der evolutionäre „negativity bias“ auch in die Spielregeln des Zusammenlebens unserer Vorfahren eingeschlichen. Heute erleben wir das hautnah, zum Beispiel bei Kritik und negativen Rückmeldungen.

An wie viele Komplimente oder Lob können Sie sich aus dem Stehgreif erinnern? Und wie präsent sind Ihnen dagegen vielleicht viel länger zurückliegende Momente einer beißenden Kritik oder Peinlichkeit?

Darauf, wie wir Kritik wahrnehmen, haben sich auch hunderttausend Jahre Leben in kleinen überschaubaren Stammesgruppen ausgewirkt. Verbannung wäre damals der sichere Tod gewesen und damit wurden kritische Rückmeldungen aus der Gruppe viel überlebenswichtiger als besondere Ehrenpreise. Daher hinterlässt Kritik heute noch so viel stärkere seelische Spuren als Lob.

Ein persönliches Beispiel: Ich unterrichte angehende Psychotherapeuten. Nach einem Wochenendseminar füllen die Teilnehmer Feedback-Bögen aus. Darin bewerten sie mit Schulnoten von eins bis sechs den Dozenten, seine Wissensvermittlung, seine Art vorzutragen und so weiter. In einem der Institute musste ich die Bögen immer selbst einsammeln. Dabei konnte ich der Versuchung natürlich nicht widerstehen und schaute sofort, welche Noten ich bekommen hatte. Damit war das Wochenende regelmäßig ruiniert. Meist waren mindestens 13 von 15 Bewertungen recht gut, aber immer wieder vergaben auch ein bis zwei Teilnehmer eine drei oder vier. Diese wenigen kritischen Bewertungen machten mich fertig und gingen mir auf der ganzen Heimfahrt nicht mehr aus dem Kopf. Wenn später die Gesamtauswertung des Instituts zu dem Seminar kam, war der „Notendurchschnitt“ gut. Irgendwann wurde mir dieses Wechselbad der Gefühle richtig klar und von da an faltete ich die Bögen sofort zusammen, gab sie ohne hineinzuschauen ab und wartete auf die Gesamtauswertung.

Heute, nach einiger Praxis in Selbstmitgefühl, kann ich auch wieder gleich auf die Bögen schauen und mir sagen: „Ach, irgendjemand ist immer unzufrieden, du kannst nicht alle erreichen. Dafür sind die Menschen zu unterschiedlich. Wenn die Mehrheit zufrieden ist, dann bin ich das auch.“ Ich weiß also aus eigener Erfahrung, dass Kritik manchmal schwerer wiegt als Lob.

Rick Hanson, ein US-amerikanischer Neuropsychologe, meint, dass Kritik fünfmal stärker wahrgenommen wird als Lob. Bei mir war das sicher eher im Verhältnis 10:1. Aber herauszufinden, dass die historische Ausrichtung meines Gehirns da mitspielt und ich nicht besonders überempfindlich bin, hat mir geholfen. Es ist auch gut zu wissen, dass ich selbst etwas dafür tun kann, um dieser Negativ-Tendenz entgegenzusteuern oder sie gar auszugleichen. Ich kann mit einem selbstfreundlichen Geist meinem Gehirn neue Pfade beibringen und diese festigen.

Was hat das alles mit dem Elternsein zu tun?

Greifen wir das Verhältnis „Kritik zu Lob“ auf. Eine kleine Mathe-Aufgabe für Eltern:

Gehen wir davon aus, dass uns Kritik und Lob im Verhältnis 5:1 berühren. Jetzt rechnen wir mal hoch, wie oft wir im Alltag unser Kind kritisieren beziehungsweise korrigieren und wie oft wir es loben. Diese Rechnung ist wichtig, weil ja auch Kinder im Sinne des „negativity bias“ kritische Anmerkungen viel stärker wahrnehmen.* Die Negativtendenz ist ein Sinnbild dafür, dass wir bei so vielem – was wir denken, fühlen und wie wir reagieren – von einem Gehirn gesteuert werden, das sich über Millionen von Jahren zum Überleben in einer völlig anderen Welt ausgebildet hat. Je mehr wir im Alltagsleben gestresst oder unter Druck sind, desto eher geraten wir in den „Dinosaurier-Modus“. Wir schalten automatisch und vorbewusst auf diese uralten Hirnanteile und ihre Not- und Überlebensprogramme zurück.

Starke Anforderung, Stress und Bedrohung passen nun durchaus gut zur Stellenbeschreibung dieses härtesten (und freudigsten) Jobs der Welt, dem Elternsein.

Das Bild des Dinosaurier-Modus kann uns helfen, so manche unserer Reaktionsweisen als Vater oder Mutter besser zu verstehen. Vor allem wenn wir nach einem Streit, nach einem Hineinrauschen in Genervtsein, Schimpfen und Strafen-Verhängen hinterher manchmal selbst verblüfft sind, was uns da geritten hat.

Und es gibt noch eine weitere wichtige Erkenntnis: Das Gehirn, dieses Oberzentrum, ist auch nur ein Organ unseres Körpers. Es regelt wichtige Funktionen und generiert die ganze Zeit Gedanken, so wie unsere Speicheldrüse uns das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt oder unser Magen Magensaft produziert, wenn wir eine leckere Speise essen.

Oft ist uns gar nicht bewusst, dass hier unentwegt „geistige Spucke“ läuft. Zudem vergessen wir manchmal, dass das nur Gedanken sind und nicht die Wirklichkeit.

Jeder von uns kennt Situationen, in denen wir vollständig von unseren Gedanken überzeugt sind, uns aber Momente, Stunden oder Tage später wundern, was wir uns da eigentlich zusammengereimt haben. Wenn wir Pech haben, sind uns die Gedanken schon aus dem Mund gelaufen, und wir würden uns sehr wünschen, sie wieder zurückholen zu können.

Es ist beinahe eine Entzauberung dieses Organs: „Hey ja, dauernd sind da Gedanken, aber eigentlich sind es nur Gedanken, sonst nichts.“

Gedanken sind nur Gedanken, sind nur Gedanken. Glaube nicht alles, was du denkst!

Versuchen Sie mal 3 Minuten ruhig zu sitzen oder zu stehen und einfach zu atmen. Achten Sie nur auf die Bewegungen des Atmens in Ihrem Körper. Sie werden merken, dass Sie ganz schnell auch Gedanken wahrnehmen, vielleicht sogar einen ganzen Fluss an Gedanken. Wenn Sie aufgeregt sind, dann fließt er noch schneller.

In Übungen zur Achtsamkeit versuchen wir uns selbst und auch unser Denken wahrzunehmen. Bemerken, wie viele Gedanken da sind, wie sie ständig kommen und gehen. Wir versuchen uns dabei ein wenig neben den Fluss der Gedanken zu stellen, statt mittendrin zu sein.

Gerade wir Eltern sind ständig in Aktion und denken quasi doppelt, für uns und für die Kinder. Vor allem wenn wir im Stress sind und über viele Sorgen oder Befürchtungen nachdenken, kann es helfen, sich neben den Gedankenfluss zu stellen und zu beobachten, um nicht mit dem Gedankenfluss fortgespült zu werden.

Wir werden das in Kapitel 3 aufgreifen und Übungen dazu ausprobieren.

Kurz und knapp:

• Unser Gehirn ist älter als wir denken. Es hat sich über Millionen von Jahren entwickelt, angepasst, um zu überleben.

• Die Menschen mit den empfindlichsten Alarmanlagen im Gehirn haben überlebt und ihre Gene weitergegeben.

• Aus diesem Grund speichern wir heute noch kritische Ereignisse intensiver ab als positive. Das nennt man die Negativ-Tendenz des Gehirns. Deshalb berührt uns Kritik auch viel stärker als Lob.

• Wir haben fantastische Denkfunktionen entwickelt in unserem „neuen Hirn“ und verändern damit die Welt. Aber je stressiger es wird, desto mehr greifen wir auf unser „altes Hirn“ zurück und führen im Autopilot evolutionäre Überlebensprogramme gegen „Säbelzahntiger“ aus.

1.3 Der Chef sitzt oben, der Dino geht unten rum – Der obere und der untere Reaktionsweg des Gehirns

Nun wollen wir uns die uralten und die neuen Regulationsmechanismen unseres Gehirns noch etwas genauer anschauen.

Wenn wir ruhig und gelassen sind, können wir mit allen jüngeren Hirnabteilungen arbeiten, reif und überlegt handeln. Das Kommando wird dann im Gehirn von oben nach unten weitergegeben. Eine Vielzahl neurobiologischer Befunde zeigt aber, dass wir unter Druck oder Stress mit dem alten Dinosaurier-Gehirn arbeiten, sozusagen eine Abkürzung nehmen.

Das bezeichnet Daniel Siegel, US-amerikanischer Psychiater und Neurowissenschaftler, der sich auch mit Achtsamkeit und Erziehung beschäftigt hat, als den unteren Weg. Wir führen dann unbewusst und blitzschnell vor Urzeiten angelegte Notreaktionen aus.

Oben beim Chef

Wesentlich für den oberen Weg sind die Gehirnareale hinter der Stirn, vor allem die Regionen, die Neurowissenschaftler als Präfrontaler Cortex und Anteriorer Cingulärer Cortex bezeichnen. Wenn diese zwei Bereiche mitspielen dürfen, sitzt der reife Erwachsene als Chef am Steuer.

Wir haben dann eine Chance, uns vorher zu überlegen, was wir tun oder sagen wollen. Wir können unsere Gefühle und Emotionen regulieren. Der obere Weg hat also eine Bremse eingebaut, die es uns erlaubt, unsere Impulse noch einmal zu überprüfen.

Sich bewusst zu steuern, ist eine wichtige menschliche Eigenschaft, die während der Entwicklung eines Kindes zum Erwachsenen immer besser ausgebildet wird. Sie wird neurowissenschaftlich Exekutivfunktion genannt. Dabei hemmen die jüngeren Hirnareale den Überschuss der anderen, von oben nach unten.

Übrigens haben Kinder und Erwachsene mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) genau mit diesen Exekutivfunktionen Probleme. Bei ADHS sind die Mitarbeiter des Chefs in Gehirnabteilungen weiter hinten und unten quasi schwerhörig. Sie reagieren oft nicht auf die Anweisungen ihres Chefs. Die Konsequenz ist, dass Reize, innere Ideen und Impulse nicht so gut gefiltert und gehemmt werden.

Ein Ausspruch einer Erwachsenen mit ADHS verdeutlicht das: „Ich möchte endlich das sagen können, was ich wirklich meine, und nicht dauernd das aussprechen, was mir zuerst einfällt!“


→ Abb. 1.3 Der obere Weg. Vgl. Siegel, Daniel, The Developing Mind: How Relationships and the Brain Interact to Shape Who We Are. New York: Guilford Press, 2001.

Unsere Handlungen werden nicht nur von oben geplant, sondern auch vom Chef mit dem abgeglichen, was sich bislang für uns bewährt hat. Wir sind in der Lage, die Folgen unseres Tuns durchzuspielen und dementsprechend abzuwägen.

Wenn der Chef im Stirnhirn mitredet, ist das für uns als Eltern der entscheidende Heimvorteil in der Aktion mit unseren Kindern.

Wir haben schon einiges erlebt und Erfahrungen gesammelt. Wir können weiter voraus und um die Ecke schauen. Unser Chef im Hirn hält dann auch die ganzen schnellen und akuten Emotionen von unten aus dem alten Säugetier-Hirnanteil (Limbisches System) im Zaum. Er weiß, dass sich direktes Handeln aus Ärger, Wut oder Panik oft nicht wirklich lohnt. Er kann vorher beurteilen, was es kostet, aus dem ersten Affekt zu reagieren und was es kostet, nicht zu handeln. Es wäre schön, wenn unsere Kinder das alles auch schon könnten. Viele Alltagssituationen wären dann viel leichter miteinander zu bewältigen. Aber sie müssen diese Steuerung erst lernen und üben.


→ Abb. 1.4 Der untere Weg. Vgl. Siegel, Daniel, The Developing Mind: How Relationships and the Brain Interact to Shape Who We Are. New York: Guilford Press, 2001.

Wir merken allerdings, dass uns selbst als Erwachsene der Chef immer mal wieder abhanden kommt. Das sind meist Situationen, in denen wir ganz anders reagieren und handeln, als wir das mit etwas Abstand und Ruhe tun würden.

Gerade für uns Eltern gibt es im Hin und Her mit unseren Kindern immer wieder viele Gelegenheiten, die uns aufregen und in Stress bringen. Dann laufen wir Gefahr, dass falscher Alarm ausgelöst wird und wir auf den unteren Weg geraten.

Unten rum geht’s schneller

Dieser untere schnelle Weg ist in keiner Weise schlecht. Im Gegenteil: Wenn wirklich Gefahr droht, erlaubt er uns, schnell und sofort zu handeln und unser Kind zu retten oder zu schützen.

Wenn wir beispielsweise an einer viel befahrenen Straße stehen, unseren Kleinen der Ball herunterfällt und auf die Straße rollt und sie den ersten Schritt machen, um hinterherzulaufen. Dann greifen wir sie unvermittelt beim Arm, ohne vorher durchgerechnet zu haben, woher die Autos kommen, und ob es gut gehen könnte.

Oder ein anderes Beispiel: Sehen wir im Augenwinkel, dass von rechts etwas großes zotteliges Schwarzes auf uns zuspringt, sortieren wir nicht erst geistig durch, ob das Tante Helgas lieber Neufundländer ist oder ein anderer Hund; und schon gar nicht, um welche Rasse es sich handelt. Wir sind sofort auf Alarmstufe rot, bereit zu Flucht oder Verteidigung.

Die eigentliche Aufgabe des unteren Wegs im Gehirn ist die akute Notreaktion. Er ist wesentlich, wenn es schnell gehen muss und keine Zeit ist, alle Entscheidungen dem Chef da oben im Kopf vorzulegen.

Teil des unteren Wegs ist der sogenannte Mandelkern (Amygdala), eine ständig aktive Alarmanlage. Der Mandelkern scannt alle unsere Wahrnehmungen auf Gefahren da draußen, bevor uns das oben überhaupt bewusst wird.

Schrillen die Sirenen – „Raumschiff Enterprise auf Alarmstufe rot und alle auf Gefechtsstation!“ –, werden prinzipiell drei archaische Reaktionsmuster ausgelöst: Kampf oder Flucht; im schlimmsten Fall, wenn beides erfolglos scheint, Totstellen beziehungsweise Erstarren.

Im Körper wird das Stresssystem (Sympathikus) zum Kämpfen oder Fliehen hochgefahren, Stresshormone werden ausgeschüttet. Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt, um alle Muskeln mit mehr Blut zu versorgen. Die Bronchien werden weit, die Atemfrequenz wird erhöht, um möglichst viel Sauerstoff in den Organismus zu pumpen. Wir sehen scharf. Und beginnen zu schwitzen, um schon mal zu kühlen, bevor die Aktion losgeht. Jetzt sind wir bereit gegen alle Säbelzahntiger der Welt zu kämpfen, unser Kind bis zum Äußersten zu verteidigen. Oder vielleicht zu fliehen, wenn wir alleine sind.

Gerade als Eltern erleben wir aber oft den falschen Alarm. So können wir im Kinderzimmer oder am Esstisch immer weiter den Streit mit unserem Kind eskalieren, um dann wilde Maßnahmen auszusprechen. Oder wir haben unseren geliebten Sohn schon fünfmal gerufen, weil wir eigentlich schon zu spät dran sind, und unser Stresssystem steigert die Erregung immer mehr. Und warum?

Sobald wir unter Stress geraten, rauschen wir auf den unteren Weg, weil uns unsere Kinder so wichtig sind. Vielleicht wurde in uns auch ein besonders wunder Punkt berührt, der den Alarm auslöst. Jedenfalls hat uns etwas so stark und heiß am Wickel, dass innerlich der Feueralarmknopf gedrückt wird, obwohl gar kein Feuer ausgebrochen ist. Und schon läuft das volle Notfallprogramm ab: Die Sirenen schrillen los, die Sprinkler gehen an, mit quietschenden Reifen fahren die Einsatzfahrzeuge vor.

Nicht selten stehen wir dann später pudelnass inmitten hektischer Feuerwehrleute und fragen uns, wie wir bloß wieder in diesen Schlamassel hineingeraten sind. Wir sind mit Vollkaracho über den unteren Weg geeilt, ohne dass der reife Erwachsene in uns als Chef mitsprechen konnte.

Wir können uns also gerade als Eltern selbst in eine gefühlte Bedrohung manövrieren. Dies ist auch ein Grund dafür, warum es besonders oft mit unseren liebsten Kleinen kracht, wenn wir einen ganz genauen Plan im Kopf haben wie die Dinge laufen sollen. Nur unsere Hübschen verfolgen ja oft ganz andere Pläne!

Unser Stresssystem fährt hoch, die Alarmanlage wird immer sensibler und meldet irgendwann Bedrohung (auch wenn es nur für die Pläne ist). Und schon sind wir auf der Abkürzung unten rum. Diese „Falle“ im Umgang mit unseren Kindern funktioniert umso besser, je kleiner sie sind, je mehr sie sind, je energiegeladener und selbstbewusster sie sind.

Sind dann auch noch andere beteiligt, können die Wege vollends durcheinandergeraten. Sehr wahrscheinlich sind wir sehr schnell auf dem unteren Weg, wenn der Nachbar wutentbrannt auf unseren Sohn zugestürmt kommt, weil der gerade die schönen Rosen dort drüben geköpft hat. Dann stellen wir uns als Löweneltern dazwischen, besetzen alle Gefechtsstationen auf höchster Alarmstufe und sind bereit, für unser Kind zu kämpfen. Das kann zu sehr spannenden Ergebnissen führen, wenn der Nachbar ebenfalls gerade auf dem unteren Weg rast, um seine geliebten Rosen zu verteidigen oder zu rächen.

WIR KÖNNEN NICHTS FÜR DIESES TRICKREICHE GEHIRN

Das ist die große Botschaft aus den bisherigen Betrachtungen, wie unser Hirn gebaut ist und für was es sich entwickelt hat.

Wir haben unser Gehirn nicht ausgesucht, wir hatten kein Mitspracherecht beim Bauplan. Über Millionen von Jahren entwickelt zum Überleben, ist es uns so zugeschustert worden. Ergänzend wurden noch ein paar Besonderheiten unseres persönlichen Temperamentes über die Gene unserer Eltern eingebaut. Auch die haben wir nicht aussuchen können. Und so versuchen wir nun unser Bestes als Vater oder Mutter, um mit diesem trickreichen Organ bei allen Aufgaben unserer Brutpflege einen Weg zwischen oben und unten zu finden.

Es ist Zeit für Selbstmitgefühl und nicht für Selbstvorwürfe, wenn wir feststellen, dass wir mal wieder ungeplant unter falschem Alarm in die Abkürzungsfallen geraten sind.

Die gute Botschaft ist: Wenn wir erkennen und verstehen, wie wir mit den alten und den jüngeren neuen Anteilen im Gehirn reagieren, können wir lernen, das Zusammenspiel selbst mehr zu beeinflussen. Wir können Wege üben, den Chef zu stärken und ihm Zeit für Mitsprache zu geben.

Bemerkenswert ist, dass wir das ganze Phänomen des oberen und unteren Weges oft recht gut erkennen können, wenn wir anderen dabei zuschauen. Wir wundern uns vielleicht sogar ein bisschen, wenn unsere Bekannten oder Freunde mit ihren Kids in das Schattenboxen mit den vermeintlichen Säbelzahntigern einsteigen: „Warum machen die jetzt so ein Drama?“ Wir haben emotional mehr Abstand und versuchen unsere Freunde aus ihrer Erregung wieder herunterzubringen.

Wir haben also das Zeug dazu!

In den Kapiteln 3 und 4 wollen wir deshalb genauer erforschen,

• wie wir uns selbst gute Freunde sein können,

• wie wir den achtsamen Beobachter in uns auf den Plan rufen können, um zu prüfen, wie viele Säbelzahntiger wirklich da draußen lauern,

• wie wir uns selbst wieder auf den oberen Weg bringen können,

• wie wir achtsamer merken, wann wir unter Stress geraten und unsere Alarmanlage immer sensibler wird,

• wie wir Positives kultivieren, um der Negativ-Tendenz des Gehirns entgegenzuwirken.

Kurz und knapp:

• Mit den „neuen“ Hirnanteilen im Stirnhirn können wir uns steuern und ruhig und überlegt handeln: der obere Weg.

• Bei Gefahr nutzen wir den schnellen unteren Weg und handeln automatisch.

• Als Eltern erleben wir immer wieder falschen Alarm.

1.4 Bin ich im roten, blauen oder grünen Bereich?

Nachdem wir die Alarmfunktion und ihre zugrunde liegende Verschaltung kennengelernt haben, schauen wir jetzt noch genauer darauf, wie unsere Emotionen und unsere Motivationen im Gehirn geregelt werden. Wir werden dabei außer einer Gefahr noch anderen Auslösern für Stress begegnen. Gleichzeitig lernen wir aber auch einen wichtigen Gegenspieler kennen.

Welche Farbe hat der Stress?

Um unsere Emotionen zu regeln, greift das Gehirn auf drei Systeme zurück: Alarm, Antrieb und Fürsorge. Sie sind für unsere Motivation verantwortlich, bestimmen, was wir wollen und warum. Es ist wichtig zu verstehen, wie diese Systeme zusammenspielen und welche Reaktionen sie auf der Ebene von Körper und Geist auslösen.

Wie in der Abbildung zu sehen ist, sind die Systeme Alarm und Antrieb dem Stress zugeordnet. In beiden Funktionen werden Gehirn und Körper (Sympathikus) aktiviert. Wir sind hellwach und angespannt.

Warum das so ist und was dabei passiert, haben wir schon beim „unteren Weg“ kennengelernt. Wenn unser Alarmsystem (rot) aktiv ist, wird alles auf den Plan gerufen, was wir zum Kämpfen oder zum Fliehen benötigen: schnellerer Herzschlag, höherer Blutdruck, Muskelanspannung, schnelleres Atmen, Schwitzen.

Neu ist, dass wir uns in einen ähnlich erregten Zustand auch ohne Bedrohung bringen können. Das rührt zum einen von unserem Urantrieb her, Nahrung zu beschaffen. Es leuchtet ein, beim Jagen den Körper ganz ähnlich bereit zu machen, sowohl für die Anstrengung beim Laufen und Klettern als auch zum Kämpfen oder bei Misserfolg zum Fliehen. Dasselbe gilt für einen weiteren Urantrieb, die Fortpflanzung. Wir können also wach, voller Energie und maximal aktiviert sein, wenn wir ein Ziel verfolgen, etwas unbedingt erreichen wollen oder Sex haben.

Im Körper vermittelt das beide Male der gleiche Schenkel des sogenannten vegetativen Nervensystems, der Sympathikus. Über dessen Nervenleitungen und die Botenstoffe Adrenalin und Noradrenalin wird für die schnelle, wache Aktion alles hochgeregelt. Begleitend werden weitere Hormone, insbesondere Stresshormone wie Kortisol, freigesetzt. Diese steuern dann eine zweite, etwas länger andauernde Welle an Körperreaktionen, die für Kampf, Flucht oder Jagd benötigt werden. Eine Folge ist etwa ein geringeres Schmerzempfinden. Zusätzlich verschwendet unser Körper keine Energie für Heilungs- oder Reparaturprozesse.


→ Abb. 1.5 Stressregulierende Systeme im Körper, Vgl. Van den Brink, E. und Koster F., Mitfühlend leben: Mit Selbst-Mitgefühl und Achtsamkeit die seelische Gesundheit stärken: Mindfulness-Based Compassionate Living – MBCL. München: Kösel-Verlag, 2013, sowie: Gilbert, Paul, Wie wir Mitgefühl nutzen können, um Glück und Selbstakzeptanz zu entwickeln und es uns wohl sein zu lassen. Freiburg: Arbor Verlag, 2011.

Generell wird unser Körper durch den Sympathikus bis in die letzte Faser aktiviert. Er fährt alles herunter, was wir uns gerade nicht leisten können, etwa die Verdauung. Schließlich macht es keinen Sinn, auf der Jagd oder Flucht anzuhalten und zu pinkeln.

Nun müssen wir ja heutzutage selten wirklich kämpfen, fliehen oder unsere Nahrung jagen. Wir haben zu großen Teilen einen zivilisierten Umgang miteinander gefunden und kraftsparendere Wege, um an unsere Nahrung zu kommen. Dennoch greifen wir bei stressigen Anforderungen in der Arbeit oder innerhalb der Familie auf die gleichen alten Regelsysteme zurück.

Angst aktiviert das rote Alarmsystem, Ärger und Wut ebenfalls. Ursprünglich ging es ums Überleben. Heute reichen schon Befürchtungen oder Grübeln darüber, was Schlimmes passieren könnte. Der Zielzustand ist Sicherheit.

Etwas unbedingt haben zu wollen, Ziele erreichen zu wollen oder zu müssen, aktiviert unser blaues Antriebssystem. Ursprünglich ging es um Wasser, Nahrung und Fortpflanzung. In unserer Ist-Welt fällt heute darunter auch Leistung, Streben nach Besitz, Konsum, Erfolg, Wachstum, Weiterentwicklung, Neugier und Erforschen. Der Zielzustand ist die Sättigung.

Dass beide Systeme das Stressprogramm des gesamten Körpers anknipsen, können wir wahrnehmen. Unser Körper eignet sich deshalb bestens als Frühwarnsystem. Eines, das uns anzeigt, wie hoch wir denn gerade schon drehen oder welche Betriebstemperatur bereits erreicht ist. Das ist der Grund, warum achtsamkeitsbasierte Methoden so viel Wert auf Übungen zur Körperwahrnehmung legen.

Sind wir im Stress, verbrauchen wir ständig Energie. Auf Dauer muss dieser Zustand wieder beendet werden, sonst gehen wir ein. Fanden unsere Vorfahren keinen Ausweg aus dem roten beziehungsweise blauen Bereich, wurden sie gefressen oder verhungerten. Heute kennen wir zum Teil die Mechanismen dahinter. Wir verstehen, dass für chronische Stressreaktionen bis hin zum „Burn-out“ ein ständig aktiviertes Alarm- und Antriebssystem verantwortlich ist.

Stress kann also rot, blau oder beides sein.

Welche Farbe hat die Erholung?

Die beiden Aktivierungssysteme Rot und Blau brauchen einen Gegenspieler: das Fürsorgesystem. Das ist in der Abbildung im unteren Feld grün dargestellt. Es steht für Erholung, wirkt sich beruhigend auf den Körper aus und wird durch den Parasympathikus beeinflusst.

Im grünen Fürsorgesystem sorgt dieser andere Schenkel des vegetativen Nervensystems dafür, dass Atmung und Herzschlag langsamer werden, die Muskeln sich entspannen. Die Durchblutung wird mehr auf die inneren Organe ausgerichtet, Nahrungsaufnahme und Verdauung werden angeregt. Unsere Energiespeicher, die wir für eine Aktion geleert haben, können nun wieder aufgefüllt werden.

Interessanterweise ist dieses System eher WIR-zentriert. Es geht weniger um MEIN Überleben, MEINE Sättigung oder MEINE Erholung. Im Laufe unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung als Säugetiere hat sich Beruhigung durch Nähe und Fürsorge von anderen als nützlich erwiesen. Das erleben wir schon im Bauch der Mutter und fortwährend ab der Geburt. Läuft unser Gehirn im grünen System sind wir voll auf Beziehung und Bindung mit anderen ausgerichtet. Wir empfinden Verbundenheit und Wohlgefühl.

Egal, welches Regulationssystem wir betrachten, keines ist besser oder schlechter als das andere. Wir benutzen sie alle drei und brauchen sie alle drei zum Überleben. Vielmehr geht es um das Gleichgewicht innerhalb des jeweiligen Systems und das ausbalancierte Zusammenspiel der Systeme untereinander. Wir können sehr gut in den Aktivierungsmodus der drei Systeme schalten. Die jüngsten menschlichen Anteile in unserem Gehirn spielen uns aber oft einen Trick.

Wie läuft das bei den anderen Säugetieren? Unsere Katze liegt beispielsweise häufig genüsslich in der Sonne; mit Haut und Haaren im grünen System. Ihr Ohrenspiel zeigt aber, dass die anderen Systeme nicht ganz abgeschaltet sind. Landet ein Vogel in der Nähe, fährt sie ruckzuck in Blau hoch und geht auf Pirsch. Wenn ein Hund vorbeikommt, schaltet sie ruckzuck auf Rot um, faucht und bringt sich in Sicherheit. Was sie allerdings viel besser kann als wir Menschen, ist wieder zurück ins grüne System zu gelangen, sobald Vogel oder Hund aus ihrem Umkreis verschwunden sind.

Das ist beneidenswert. Daran könnten wir uns ein Beispiel nehmen. Öfter mal den Katze-liegt-in-der-Sonne-Modus anknipsen, wenn es eben geht – und nach Stress schneller wieder raus aus Rot und Blau. Das ist leichter gesagt als getan, weil wir noch eine weitere andere Hirnregion in uns tragen, die uns manchmal einen Streich spielt: das sogenannte Ruhezustandsnetzwerk („default-mode-network“).

Das Ruhezustandsnetzwerk liegt recht zentral im Gehirn, in einem noch „jüngeren“ Areal. Untersuchungen zeigen hier eine hohe Aktivität, insbesondere, wenn wir in Ruhe sind und unseren Geist wandern lassen. Wissenschaftler vermuten, dass wir in diesem Netzwerk die Idee von uns selbst als Person entwickeln. Dabei können wir uns in die Vergangenheit und in die Zukunft „beamen“ und alle erlebten kritischen Situationen noch einmal analysieren beziehungsweise mögliche kritische Situationen durchspielen. Das bringt uns aus friedlichem Grün in Rot und Blau.

Wir haben also tatsächlich eine Hirnabteilung, die Probleme erfindet, um sie als eine Art geistige Aufgabe zu lösen, wenn wir in Ruhe sind. Nun scheint sich dieser Prozess in der Evolution bewährt zu haben. Gleichzeitig verdeutlicht er aber, dass bei der Entstehung des Gehirns ganz klar das Überleben des Menschen im Vordergrund stand und nicht etwa das Glücklichsein. Zur Ehrenrettung des Ruhezustandsnetzwerks muss ich allerdings anfügen, dass es eben auch für die genialen Geistesblitze zuständig ist, die uns zum Beispiel auf dem Klo ereilen und scheinbar aus dem Nichts in den Kopf fallen und etwas lösen, an dem wir schon lange geknobelt haben.

In Studien konnten Wissenschaftler belegen, dass die Achtsamkeitsmeditation einen integrierenden und beruhigenden Einfluss auf das Ruhezustandsnetzwerk hat. Diese Übung kann uns helfen, es den Katzen gleich zu tun, also schneller wieder in den friedlichen grünen Bereich zu kommen. Auf jeden Fall müssten wir dann weniger fiktive Probleme wälzen.

Nach den Emotionen nehmen wir nun gemeinsam die Motivation in den Blick. Wir entdecken, warum wir etwas tun wollen. Als Eltern betreten wir an dieser Stelle den Hauptschauplatz unseres Freuds und Leids.

Welche Farbe hat Lernen in der Schule?

Die Schule als Ort des Lernens wirft ständig die Frage nach Motivation auf. Motivation ist quasi der Treibstoff für Leistung. Welche Schüler sind gering oder hoch motiviert, dem Unterricht zu folgen? Wie motiviert ist der Lehrer, den Stoff zu vermitteln? Und wie beeinflussen die schulischen Leistungen unserer Kinder unsere Motivation als Eltern?

Um unsere Kinder in der Schule zum Lernen zu bewegen, werden Rot, Blau und Grün in unterschiedlicher Weise angesprochen. Jedes der drei Systeme ist durch einen eigenen Motivator getrieben.

Im roten System ist Angst der Motivator. Kinder lernen, um etwas Schlimmes zu vermeiden, zum Beispiel einer Strafe zu entgehen, negativ aufzufallen oder schlechte Noten zu erhalten.


→ Abb. 1.6 Rotes System

Im blauen System ist das Erreichen eines Ziels der Motivator. Schule spricht das blaue System an, wenn Belohnungen in Aussicht gestellt werden, etwa gute Noten, Medaillen und Preise.


→ Abb. 1.7 Blaues System

Lernen in der Schule funktioniert auch über das grüne System. Aber wie oft wird das tatsächlich genutzt? Das hieße Kinder über Beziehung und Bindung ansprechen und Lernen durch Verbundenheit und Freundlichkeit in einem Klima der Fürsorge zu ermöglichen.


→ Abb. 1.8 Grünes System

In welcher Farbe motivieren wir uns selbst und als Eltern?

Was Kinder beim Lernen in der Schule antreibt, ist auch bei Erwachsenen beziehungsweise Eltern nicht anders.

Wenn wir uns mit dem roten System selbst motivieren, dann „mit der Peitsche“. Wir treiben uns an, damit nichts Schlimmes passiert – aus Angst vor Kritik und Tadel oder negativen Konsequenzen und Sanktionen. Furcht oder Angst sind ständig präsent.


→ Abb. 1.9 Rotes System

Wenn wir uns selbst im blauen System antreiben, dann „mit der Karotte vor der Nase“. Wir haben ständig das nächste Ziel vor Augen und wollen uns permanent erfolgreich fühlen. Oft suchen wir uns dann „nach der Medaille“ schnell den nächsten Wettkampf, das nächste Ziel, das es zu erreichen gilt. Höher, weiter, besser. Erfahrungsgemäß währt die Freude der Medaillenfeier nur kurz. Es folgen lange, unzufriedene Phasen, die mit dem Streben hin zum nächsten Ziel gefüllt werden.


→ Abb. 1.10 Blaues System

Im grünen System können wir uns Selbstfreundlichkeit, Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge schenken. Wir tun Dinge und schaffen uns Raum, weil wir es wirklich gut mit uns meinen. Der Motivator ist dabei die Verbundenheit – mit uns selbst, mit den anderen und der Welt.


→ Abb. 1.11 Grünes System

Glück oder langfristiges Wohlbefinden ist grün

Im grünen System könnten wir also das längerfristige Glück oder Wohlbefinden entdecken. Die wesentlichen Anlagen sind vorhanden. Trotzdem suchen wir eher die kurzfristigen „Belohnungs-Highs“ im blauen System. Der Psychologe Martin Seligmann definiert Wohlbefinden als die Erweiterung des Glücksbegriffes, in seinem Konzept der „Positiven Psychologie“ anhand von fünf Säulen:

• positive Emotionen spüren

• sich für etwas engagieren

• Sinn erleben, als etwas das größer ist als unser ICH

• Erfolg, etwas bewegen zu können, Zielerreichung

• positive Beziehungen und Verbundenheit.

Deklinieren wir das Ganze einmal durch. Eine wesentliche Voraussetzung zum Wohlbefinden ist, dass der rote Bereich relativ in Ruhe ist, wir sicher sind. Das ist sozusagen der Boden, auf dem die Säulen stehen. Säule 1 ist eine Folge davon. In den Säulen 2 und 4 steckt das blaue System. Sich zu engagieren und Ziele zu erreichen, benötigt Energie und wir erwarten eine Belohnung dafür.

Betrachten wir das Modell aber genauer, fußen die Säulen größtenteils auf Faktoren, die wir im grünen System finden. Auch Engagement beinhaltet meist das Grün der Fürsorge. Säule 3, das Sinn erleben für etwas, das größer als man selbst ist, ist eindeutig Grün. Und positive Beziehungen und Verbundenheit, Säule 5, sind ja der Kern des grünen Systems.

Zusammengefasst ist Wohlbefinden also im Wesentlichen Grün. Gerade für uns als Eltern und unsere Familien ist das sehr wichtig. Unser aller Wohlbefinden hängt nicht nur von kurzfristiger Zielerreichung und dem Tun ab. Es gibt darüber hinaus weitere wichtige Elemente der Säulen des Wohlbefindens, die auf Fürsorge und dem SEIN basieren:

• Freude über das am Leben sein und mit der Familie im Fluss des Lebens sein

• Freude über die Bindungen mit den Kindern, dem Partner, der erweiterten Familie

• Freude über Verbundenheit in den verschiedenen Gruppen und „Clubs“, deren Mitglied wir sind und am besten mit der Menschheitsfamilie als Ganzes.

Darf’s ein bisschen mehr Grün sein?

Wir können als Eltern auf vielen verschiedenen Ebenen etwas lernen, wenn wir diese Systeme bei uns betrachten.

Wir können uns im aktuellen Moment fragen: „Wie takte ich denn gerade? Rot? Blau? Grün?“Wenn wir eine Anspannung im Nacken haben, kurzatmig werden, der Puls hochgeht oder eine andere unangenehme Empfindung spüren, können wir uns fragen: „Stehe ich gerade unter Stress?“

Genau an diesem Punkt lohnt es sich, weiter zu forschen, was mir Stress verursacht.

Bin ich im roten System, getrieben von Befürchtungen/Angst? Welche Qualität haben diese Befürchtungen, hat diese Angst? Ist das hilfreich, reagiere ich übertrieben oder ist es gar falscher Alarm?

Ein anderes Beispiel:

Bin ich im blauen System, im Streben? Fühle ich mich angestrengt, weil ich etwas unbedingt erreichen will, oder weil die Dinge unbedingt so laufen sollen, wie ich es mir wünsche? Stehe ich unter Druck, weil ich einen genauen Plan verfolge und Erwartungen habe, aber meine Kinder gerade nach etwas ganz anderem streben?

Oft lohnt die Frage, wie oft ich denn heute überhaupt schon im grünen System war.

Manchmal feuern sich die Systeme auch gegenseitig an. So können wir angestrengt im blauen System streben, weil wir unbedingt diese Leistung oder jenes Ziel erreichen wollen. Beim näheren Erforschen entdecken wir dann, dass uns eigentlich das rote System dahinter antreibt. Wir strengen uns so sehr an, weil wir befürchten, getadelt zu werden oder dass andere unzufrieden mit uns sind. Manchmal steckt auch die Angst dahinter, nichts wert zu sein, wenn wir nicht genügend geleistet haben.

Obwohl wir Eltern ja ständig die Verantwortung für unsere Kinder tragen, können wir nicht andauernd im aktivierten Zustand unseres Alarm- und Antriebssystems durch das Leben gehen. Auch wir brauchen dringend Ruhe- und Erholungsphasen. Das ist kein Luxus und schon gar keine Faulheit, das ist ÜBERLEBENSNOTWENDIG!

Permanente Alarmbereitschaft lässt uns Eltern heiß laufen und führt auf Dauer zu Schäden. Wir können zwar im Alltag immer wieder kurzfristig aus Angst oder durch Willenskraft Höchstleistungen abrufen, aber die Anspannung muss auch wieder abklingen. Wir müssen zur Ruhe kommen, sonst erschöpfen wir uns.

Überanstrengte, heiß gelaufene Eltern sind weder besonders leistungsfähig und belastbar, noch sind sie locker und freundlich. Sie stellen sogar, das belegen Studien, einen Risikofaktor für die gesunde, psychische Entwicklung ihrer Kinder dar. Das heißt, ausreichende Pflege des eigenen grünen Systems ist das Beste, was wir Eltern auch für unsere Kinder und deren Wohlbefinden tun können. Wir pflegen dann gewissermaßen gleich das grüne System unserer Kinder mit und können mehr Mitgefühl und Fürsorge an sie weitergeben.

Wenn wir genau hinschauen, wollen uns unsere Kinder oft einladen, mit ihnen im grünen System zu verweilen. Ihnen gelingt es oft viel leichter, im Hier und Jetzt zu sein. Ob im Spiel oder woanders, sie sind häufig tiefenentspannt, fühlen sich wohl, sind ganz im grünen System. Wir sollten mehr dieser Einladungen annehmen und uns mit ihnen im „GRÜNEN“ treffen. Das ist wunderbar für die Verbundenheit und stärkt unsere eigene psychische Widerstandskraft (Resilienz) und die unserer Kinder.

Wo bin ich besonders geübt: Rot, Blau oder Grün?

Wir müssen das Verhältnis unserer drei Systeme zueinander auch über den Moment hinaus und übergeordnet betrachten.

Nehmen wir uns doch ein paar Minuten Zeit, lassen uns von jeder der folgenden Fragen eine Weile bewegen und sammeln die Antworten:

Wie sind denn meine drei Systeme verteilt?

Sind sie untereinander gleich stark entwickelt und oft in Balance?

Bin ich jemand, der stark und oft im roten System lebt?

Sind es Angst und viele Befürchtungen, die mich antreiben?

Bin ich ein Workaholic, ständig in blauer Aktion, ständig am Tun?

Bin ich ein ehrgeiziger Leistungserbringer, der sich selbst die Latte zu hoch legt, und beim Erreichen gleich noch höher auflegt?

Bin ich gesegnet mit einem starken grünen System als Fundament oder habe ich nur ein eher schwach entwickeltes grünes System?

Wo komme ich her?

Die drei Systeme erlauben ebenfalls aufschlussreiche Rückblicke auf unsere eigene Biografie:

Welches System wurde bei mir als Kind besonders gefördert?

Welches System habe ich gebraucht, um in meiner Welt damals klarzukommen?

Als Therapeut begegnen mir in meiner Praxis als Patienten oft Menschen mit stark entwickelten und „durchtrainierten“ roten Systemen.

Wenn ein Kind zum Beispiel mit einem alkoholkranken Elternteil aufwachsen musste, dann hat es wahrscheinlich ein stark ausgeprägtes und sensibles rotes System entwickelt. Dieses Kind ist hervorragend darin trainiert einzuschätzen, in welcher Stimmung und mit welchem Promillegehalt die Mutter oder der Vater nach Hause gekommen ist. Aus Angst hat es gelernt, sein Verhalten anzupassen, um Schläge zu vermeiden. Im Erwachsenenalter hat dieses Kind möglicherweise eine hohe Sensibilität für die Stimmungen anderer Menschen und will es ihnen recht machen.

Es könnte aber auch das erfahrene Leid als starke Wut im roten System abgelegt haben. Wenn dieser Mensch sich beeinträchtigt fühlt, kocht er schnell hoch.

Wächst ein Kind mit einem sehr ängstlichen Elternteil auf, übernimmt es die Sicht, dass die Welt voller Gefahren ist. Die Folge ist eine sehr empfindlich eingestellte Alarmanlage im roten System, die übermäßig schnell ausgelöst wird und andauernd Gefahr meldet. Als Elternteil gibt dieser Mensch seine supersensitive Einstellung des roten Systems an seine Kinder weiter. Auch Menschen mit stark ausgeprägtem blauen System kommen in meine Praxis.

Diese Menschen sind als Kinder engagierter, sehr ehrgeiziger, rationaler und leistungsorientierter Eltern aufgewachsen und gehen mit einem intensiv trainierten blauen System durch ihr Leben. Sie haben erlebt, dass vor allem ihre sehr guten Noten zählen und sie belohnt werden, wenn sie alle Erwartungen erfüllen. Darüber hinaus haben die Eltern diese Kinder spüren lassen, wenn sie einen Fehler begangen haben und eben nicht alles perfekt war. Ihr spielerisches Kind-Ich wurde nicht gewürdigt oder sogar als lästig empfunden – „Der Ernst des Lebens …“, „Du bist nur was wert, wenn du was schaffst…“.

Weil sich diese Menschen von klein auf angestrengt haben, immer brav zu sein und die geforderte Leistung zu bringen, lehnen sie aus Angst im Erwachsenenalter kaum Aufgaben ab. Sie befürchten, ansonsten nicht mehr gemocht zu werden. War der Leistungsgedanke in der Kindheit nicht so stark, sind diese Menschen oftmals gern gesehene und sehr leistungsfähige Mitarbeiter. Es besteht allerdings die Gefahr, dass sie sich „in den Burn-out schaffen“. Wohin ein übertrieben stark ausgeprägter Leistungsgedanke schlimmstenfalls führt, sehe ich zum Beispiel bei den meisten meiner Patientinnen mit Magersucht.

Die Menschen dagegen, die viel Bindung erleben und ein starkes grünes System entwickeln konnten, die sehe ich nicht als Patienten. Die brauchen keine Psychotherapie.

Schaue ich in meine eigene Biographie, kann ich die Ausprägung der drei Systeme und ihre Verknüpfung klar erkennen.

Ich selbst habe ein intensives Training des blauen Systems erfahren, – durch den Druck, den mein Vater bezüglich Schule und Leistung aufgebaut hat. Ich kenne auch die Auflehnung und Rebellion dagegen. Das zog ein Pendeln zwischen „Leistungsaufträge müssen unbedingt und möglichst gut erfüllt werden“ und einem massiven Widerwillen gegen die Aufträge nach sich. Sie nicht zu erfüllen, verursachte wiederum Angst im roten System und infolge dessen den Vorsatz, es doch lieber sehr gut zu machen und die Erwartungen zu erfüllen. Bis der Widerstand wuchs und das Pendeln weiterging.

Mein hoch entwickeltes blaues System und mein Druck, alles stets besonders gut zu machen, haben offensichtlich mit einem verborgenen Auftrag meines Vaters zu tun: Sein Sohn sollte nicht denselben Fehler machen wie er und mit der Schule aufhören. Mein Vater wollte wiederum nicht die Fehler wiederholen, die er zeitlebens seinem Vater vorgeworfen hat: nicht genügend motiviert und sich nicht genügend gekümmert zu haben. Das hat er dann übertrieben.

Dass hinter meinem intensiven Training des blauen Systems eine tief im roten System verwurzelte Angst steckt, habe ich aber erst mit Ende 40 erkannt. Sie entstand aus dem Vorsatz, den ich als kleiner Junge gefasst hatte: „Nie will ich einmal so enttäuscht und unzufrieden mit mir selbst sein wie mein Vater es mit sich ist!“ Über lange Jahre habe ich dann gestrampelt, um alles sehr gut und zur Zufriedenheit anderer zu machen, mir selbst vorauszueilen und immer alles abzusichern. Nur, damit ich mir ja niemals Vorwürfe machen muss.

Nach diesem Muster verfahre ich natürlich nicht immer, vor allem dann nicht, wenn ich mit aller Energie eine Herzensangelegenheit verfolge. Aber für viele andere Anforderungen, die an mich gestellt werden, war diese Erkenntnis wirklich hilfreich. Sie erleichtert es mir jetzt, meine Kräfte nach eigenem Willen einzuteilen. Ich neige weniger dazu mich zu verausgaben, aus Angst, nicht zu genügen.

Vielleicht erklärt diese Geschichte meiner Systeme, warum mich das Thema Selbstmitgefühl so stark anspricht und warum ich es gerade auch an Eltern weiter vermitteln möchte.

Die Erkenntnis, wie Antrieb und Motivation in Rot-Blau-Grün zusammenhängen, war für mich Augen öffnend. Es macht einen großen Unterschied zu wissen, wie mein Gehirn und mein Geist zusammenspielen. Ich spüre schneller, wenn ich mich in alten Mustern verfange. Vor allem aber kann ich selbst bestimmen, welches System ich füttern, trainieren oder wachsen lassen will.

Dennoch hilft die Erkenntnis nicht automatisch, die bestehenden Muster aufzulösen. Es bedarf kontinuierlicher Arbeit und wiederholten Übens. Angst zum Beispiel ist ein mächtiger Gegner und kommt bei mir schnell auf, wenn ich meine, etwas sei nicht gut genug gelungen oder wenn ich mich einfach „doof“ fühle. Und ich bin sicherlich der Letzte, der es ablehnt, noch mehr in Grün zu sein.

Wir haben gesehen, wie die Systeme Rot, Blau und Grün unser Fühlen und Handeln als Kinder und später als Eltern beeinflussen. Zudem haben wir erfahren, wie diese drei Systeme die Schullaufbahn und vor allem das Wohlbefinden unserer Kinder steuern können. Wie diese Systeme von der Gesellschaft beeinflusst werden, wollen wir in Kapitel 2 genauer erkunden.

Kurz und knapp:

• Wir haben drei bewährte Systeme zur Regulation von Emotionen und Motivation: Alarm – Antrieb – Bindung/Fürsorge.

• Jedes der Systeme ist hilfreich und sinnvoll. Aber wie sind sie in Balance?

• Im Eltern-Stress ist es hilfreich, sich zu fragen: Bin ich gerade in Rot, getrieben von Befürchtungen? Bin ich in Blau, getrieben vom Streben und meinen Erwartungen? Und muss das jeweils sein?

• Wie oft sind wir überhaupt, wann waren wir zuletzt im grünen System? Das grüne System ist überlebensnotwendig als Ausgleich zu den Aktivitäten in Rot und Blau.

• Wir können uns selbst anschauen: Welches System überwiegt? Welches System wurde in meiner Biographie besonders trainiert? Welches will ich in Zukunft besonders fördern?

* Es geht mir an dieser Stelle nicht um die oft in Ratgebern diskutierte Frage, ob zu viel und inflationär gelobt wird oder viel zu wenig. Mir geht es um die Empfangsbereitschaft unseres Gehirns. Statt Lob könnte ich auch „positive Rückmeldung“ sagen. Gemeint ist die Resonanz aus unserem Elternherzen im Sinne einer persönlichen Freude und Mitfreude unsererseits und in welchem Verhältnis unsere Kinder diese im Vergleich zu Kritik wahrnehmen. Es ist ein anderes Thema, dass Lob auch als ein „manipulatives“ Instrument eingesetzt werden kann, zum Beispiel mit der Absicht, dass unsere Kinder mehr Energie oder Leistung abrufen oder etwas Bestimmtes machen.

Wir Eltern sind auch nur Menschen!

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