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Mein erster Trip geht nach Wismar

Es ist regnerisch und trübe, es könnte kaum ungemütlicher sein im Januar, eigentlich kein Tag um an einen Ausflug zu denken. Zudem geht zu dieser Jahreszeit die Sonne entsprechend früh unter. Ich fahre trotzdem erst gegen Mittag los, und dabei weiß ich noch nicht einmal ob ich Wismar oder Schwerin anfahren soll, geschweige denn erreichen werde. Genauso wenig habe ich mit einem Stau vor Schlutup gerechnet. Da ich nicht absehen kann, wo genau die Grenze passiert wird, hoffe ich natürlich daß es nicht so lange dauern wird. Es dauert eine ganze verdammte Stunde, schon etwas blöd. Wieder habe ich dieses mulmige Gefühl, wenn ich diese Grenze passiere, denn es wird immer noch kontrolliert. Obwohl ich auch von Durchwinken sprechen kann, denn Papiere will keiner mehr sehen. Ob die Grenzer überhaupt genau wissen was sie hier noch tun sollen? Dieses trübe, schmuddelige Wetter unterstreicht die ungewohnte Umgebung nach der Grenze, eine irgendwie bedrückende Atmosphäre. Bei Grenzübergängen in die DDR muß ich immer unwillkürlich denken, mich lassen die nicht durch. Aber alles geht gut. Gleich hinter der Grenze sehe ich zwei junge Leute von hier. Daß sie von hier sind erahne ich schon anhand ihrer Klamotten. Der eine heißt Bernd, und der andere ... habe ich vergessen.


Sie versuchen zu trampen, und so nehmen mir die beiden die Entscheidung ab, wohin es für mich heute gehen soll. Sie wohnen in Wismar. Das kommt mir ganz gelegen, denn Schwerin wäre ohnehin jetzt zu weit gewesen. Und ich habe von beiden Städten keine Vorstellung, also ab nach Wismar. Wir passieren gelegentlich Befestigungsanlagen, die direkt an der Straße entlang führen. Wir sind noch im Sperrgebiet. AIIgegenwärtig sind hier die schlechten Straßenverhältnisse und die Farbe grau. Hier täuscht das Regenwasser über die Tiefe so mancher Schlaglöcher hinweg. Dazu dieses atmosphärisch ideal passende kalte Schmuddelwetter. Um sich die DDR vorzustellen einfach die perfekte Stimmung. Alles wirkt nur noch karger, meine Vorstellung vom Leben der Menschen hier wird in allem bestätigt. Meine beiden Anhalter sind ausgesprochen nett, so kenne ich sie mittlerweile, die Ossis. Ihr Unterhaltungston mir gegenüber ist leicht untertänig, ich muß ihnen deshalb auch alles aus der Nase ziehen, wie man so schön sagt. Zwei Jugendliche, die sich auf das Abenteuer Hamburg eingelassen haben. Ich frage sie über Steinmetze und Schmieden aus, weil ich mir gerade so ein HiFi-Rack gezeichnet habe. Aber das Thema ist bei der Materialfrage beendet. "Hier gibt's ja nichts", sagt mir Bernd. Stimmt, den Satz kenne ich von irgendwoher. Wir durchfahren kleine, unscheinbare Dörfer. Früher konnte man hier die Autos zählen, die in einem Monat durchfuhren, heute bewegen die Dorfbewohner ihre Köpfe wie auf einem Tennisplatz. Die Mülldeponie Schönberg soll hier rechts abgehen, der Geruch beweist es. Mein Gott, denke ich, hier ist das also wovon so oft berichtet wurde. Hier wurde wie überall über den Köpfen der Bevölkerung hinweg Entscheidungen getroffen. Keiner käme hier auf den Gedanken über Umweltverschmutzung zu klagen oder zu protestieren. Mit vollem Wissen darüber stimmen mir die beiden zu. Viele wußten über vieles bescheid, duldeten es schweigend, hatten aber Augen, Ohren und Mund verschlossen gehalten, haben sich so mit vielem abgefunden. Ich muß gerade daran denken, daß auch unsere Gesellschaft an vielen solcher Art Problemen einfach vorbeirauscht. Wir Westdeutschen sind so gesättigt und hier ist man um jede Erneuerung, um jedes Ereignis dankbar. Ich weiß, typische Phrasen die mir passender oder unpassender Weise gerade einfallen. Und trotzdem hämmern die sich permanent in mein Hirn bei diesem trostlosen Anblick links und rechts. Während dieses Grau an uns vorbei rauscht wird mir plötzlich bewußt was ich doch alles habe um eigentlich glücklich sein zu können. Wieviel muß ich noch haben? Muß da an „Haben oder Sein“ von Erich Fromm denken. Gutes Buch. Und meine Freunde im Fond glauben noch an diese Verheißung zu der sie vielleicht als neues deutsches Wirtschaftswunder beitragen. Die Fahrt ist unsäglich, will kein Ende nehmen. Recht dunkel ist es geworden, ich ahne schon, daß ich wohl nicht mehr allzu viel von Wismar haben werde. Zu beiden Seiten eine Baumreihe wie in einer Allee, ich beachte sie kaum. Ich sehe nur alte Häuser, verwahrlost, dreckige Betriebshallen mit verrosteten Schrottteilen, unordentlich über das Betriebsgelände verteilt, eingefallene Dächer, kleine graue Dörfer, wo mal ein menschlicher Schatten vorbeihuscht, den ich mit meinem Scheinwerfer einfange, um ihn gleich wieder zu verlieren. Es riecht falsch, überall hier. Es hieß immer, man könne sofort riechen, daß man in der DDR sei. Eine ungemütliche Stimmung ergreift mich, macht aber auch neugierig auf mehr. Endlich in Wismar angekommen begrüßen uns die typischen Mietskasernen. Die Kinder auf den verkrüppelten Gehwegen schauen uns mit Gesichtern an als kommen sie gerade aus einem Kohleschacht. Ernst und abgeklärt verfolgen ihre Blicke uns, bis auch wir sie im kalten, grauen Nebel verlieren. Gleich das zweite Haus ist eine Schmiede," informiert mich Bernd, "da kannst Du mal fragen." Einen HiFi-Ständer für meine HiFi-Anlage geschmiedet bekommen, und so denke ich, fragen kostet nichts. Doch außer erstaunten Blicken und Sätze wie "Wahnsinn, früher wäre das alles nicht möglich gewesen", muß ich mich vertrösten lassen, denn der Papa ist nicht zu Hause. Ist nicht weiter wild, also weiter. An der ersten Kreuzung müssen wir links abbiegen, zu Bernd's Eltern. Wismar grüßt uns gleich zu Beginn mit seinen Einheitswohnbunkern. Eine interessante Entdeckung mache ich, nach rechts kann ich immer abbiegen, selbst bei Rot. Dieser grüne Pfeil, wie in Amerika. Eine sehr sinnvolle Einrichtung. Außerdem steht direkt auf der Kreuzung ein gläserner Turm, also mittig auf der Kreuzung. Na ja, vielleicht heißt das Ding ja auch Ampelturm, keine Ahnung. Und in dem steht doch tatsächlich ein VoPo auf gut 3m Höhe und regelt den Verkehr in dem er die Ampel entsprechend schaltet. Immerhin, er steht im Trockenen. Finde ich wohl nur deshalb so kurios, weil ich so etwas noch nie gesehen habe. Wie ich das finde? Interessant, oder doch komisch? Egal, das gibt Pluspunkte für die DDR, denn hier wird nach Bedarf geregelt. Wir fahren nun links ab zu den Wohnbunkern. Dort wohnen die beiden. Oh man, sieht die Gegend hier trostlos aus. Ob das bei schönem Wetter besser zu ertragen ist? Irgendwo lese ich auf einem Plakat was von Demokratischer Frauenbund. War wohl so was wie die FDJ, nur für Frauen. In der Rudolf-Breitscheid-Straße wohnt Rainer. Das 10-stöckige Wohnhaus, daß wie das „Empire State Building“ aussieht, erkennt man schon auf der Landstraße. Es mag ja idiotisch klingen, aber ich glaube fast, daß ich den Trabbigestank vermissen werde wenn es keine Trabbis mehr geben wird. Aber das wird sicherlich nicht so schnell passieren. Er gehört zur DDR wie ... na ja, egal.

Seit Bestehen der DDR sind in Wismar mehr Wohnungen gebaut worden als in 7 Jahrhunderten zuvor. 42% aller Wohnbauten in der Stadt sind Neubauten und in denen lebt 45% der Bevölkerung. Erfahre ich alles von Bernd. Dieses Wohnviertel erblüht in grau, grauer gehts nimmer. Ich kneife die Augen zu, reibe mir die Augen, ich kann's nicht fassen, als wäre ich durch eine Filmleinwand gerauscht und stecke plötzlich in einem SW-Film. Grauer geht's beim besten Willen nicht mehr. Nicht einmal die blauen Trabbiwolken bilden hier noch einen Kontrast. Die Stimmung, wie in einem Agententhriller. Ich muß jetzt echt mal wissen, ob es bei Bernd in der Wohnung auch so grau aussieht. Also frage ich ihn, ob ich mit zu ihm kommen kann. Kein Problem für ihn. Auch sein Freund kommt noch mit hoch. Er wohnt noch bei seinen Eltern. Im Hochhaus stinkt es total muffig. Nach der ersten Tür ist noch mal eine Glastür, d.h. ein Vorraum. 30 Briefkästen hat es alleine in diesem Wohnbunker.

Ganz oben haben wir eine fantastische Aussicht auf die Werft und auf die gesamte Stadt. Wismar hat viel grün, viele freie Plätze mit Schrottablagerungen. Und hier wohnt er auch. Wir begrüßen seine Eltern. Fußball läuft in der Glotze. Große Freude, daß die beiden heil aus Westdeutschland entlassen wurden und Erstaunen bei mir, wie toll die Wohnung eingerichtet ist. Wirklich geschmackvoll. Steht in keiner Weise hinter den Einrichtungen westdeutscher Wohnungen zurück. Ich schaue mich in alle Himmelsrichtungen um und in noch ein paar Ecken zusätzlich. Dreck ist hier nicht auszumachen. Ich bin ein willkommener Gast und auch das Gespräch mit den Eltern gerät nicht ins Stocken. Ob ich Kaffee haben möchte, ich bejahte. Er schmeckt miserabel, aber das liegt weniger an Mutter's Zubereitungskunst als vielmehr am Grundwasser, wie ich dann auch von der Mutter erfahre. Hat irgendwas mit dem Kali-Exportumschlag im Wismarer Hafen zu tun, eine Spezialität des Wismarer Hafens. Keine Ahnung was sie damit meinte. Der Kaffee selbst schmeckte nämlich, das konnte ich eigenartigerweise herausschmecken. Peinlich, ich konnte es mal wieder nicht für mich behalten. Aber die Eltern reagieren ganz natürlich, und so wird keine Affäre daraus. Ich fühle mich hier recht wohl, so lange ich nicht aus dem Fenster schaue. Ich muß direkt schmunzeln als ich plötzlich diese 3-Affen-Figur in ihrem Wohnzimmerschrank entdecke. Drei Affen, die nichts hören, nichts sehen und nichts sagen. Echt kurios und amüsant zugleich. Sinnbildlich heißt es wohl, wenn du in Frieden leben willst, dann machst du es genau so. Und vielleicht ist es sogar sinnbildlich für den DDR-Bürger geworden, diese Scheuklappenmentalität – bloß nichts hören und sehen und wissen. Eingesperrt wie Affen sind sie ja ebenfalls gewesen. Ich überlege noch ober ich mehr über meine kleine Gedankenreise lachen muß als über die Figur selbst, als ich auch schon die vielen kleinen Meißner Figuren und Schalen im Schrank. Für diese Porzellankunststücke konnte ich mich schon immer sehr begeistern. Bernd will mir noch etwas von Wismar zeigen. Schon verdammt dunkel draußen, aber die Stimmung wird dadurch auch immer gruseliger und reizvoller. Als wir wieder auf der Straße sind entläßt ein Bus gerade ein paar Schatten, dunkle Umrisse wie sandgestrahlt, die Tiefe einzelner Objekte ist nicht mehr auszumachen, die Dimensionen gehen verloren, die Schatten verschwinden mit einem Mal, ihre Bewegungen wie bei einem länger belichteten Bild. Dieser ganze Nebel ist nicht naturgegeben sondern ist eine Mischung aus Abgasen und den Kohleheizungen. Alle heizen hier wohl noch mit Kohle und die Rauchfahnen sind auch nicht zu übersehen. Seinen Freund wollen wir um die Ecke bringen, natürlich nicht sinngemäß. Also steigen wir wieder in meinen roten Flitzer. Ist aber eine lange Ecke, die wir da fahren müssen. Dabei brettere so blöde in ein Straßenloch, daß das Kupplungsgestänge von irgendeinem Teil bedrängt wird, nun klappert es recht merkwürdig und ich kann nicht mehr richtig schalten. Ich bekomm schon Panik. Ich wollte eigentlich heute noch zu Hause ankommen. So ein Scheiß. Aber noch geht es. Ich versuche meine Panik zu verdrängen, was mir bei diesen neuartigen Eindrücken in Wismar auch nicht schwerfällt. Ich habe einen guten Führer in Bernd gefunden. Vieles, was er mir erklärt, hätte ich übersehen, bestimmt nie gesehen. Zumindest heute nicht. Er zeigt mir während der Fahrt Stadtteile, die, ich werde diese Bilder nicht vergessen, mich an Ansichtskarten vor dem 2.Weltkrieg erinnern. Aus Schornsteinen qualmt es, überall liegt wahllos Müll rum. Backsteinbauten, über und über mit schwarzem Ruß bekleidet, verrosteter Abfall, alte LKW-Hänger gammeln vor sich hin. Die schwachen, rotscheinenden Straßenlaternen vermischen sich mit dem Nebel und geben der gespenstigen Szenerie eine dunkle Rostfarbe. Eine Arbeitersiedlung erscheint und verschwindet wieder, gelegentlich vereinzelte Schatten, die sich durch die Nebelwogen drängen die sich hinter ihnen wieder schließen und den Schatten dann ganz verschwinden läßt. Endlos scheinen die Giebel, und tausende Schornsteine zeichnen ein undurchdringliches Labyrinth. Das erinnert mich stark an die Bilder Hans Baluschek’s. Ich liebe seine atmosphärisch dichten Bilder, in denen ähnlich wie hier in Wismar die Menschen nur Schatten in einem industriellen Alptraum sind. Wie die hoch aufragenden Schornsteinen der Industrie ihren Smog in den dunkelgrauen Himmel pusten wo der sich mit dem Rauch der vielen Kohleöfen aus diesem Meer von Schornsteinen der Wohnhäuser verbündet, immer größer werdend, langsam erkaltet um dann wieder zu Boden zu sinken, und mittendrin durchstößt noch eine Dampflok diese Nebelszene und hinterläßt ihre ballonförmigen Dampfwölkchen. Wow, was für ein Satz. Die vielen Westautos stören in diesem Bild ein bißchen. Ich stelle mir einen Thriller vor, der im vernebelten London spielt und ich sitze gemütlich in meinem Sofa. Statt dessen werde ich von Schüttelfrost geplagt und kann mir direkt vorstellen in diesem Film mitzuspielen. Immer wieder habe ich die irrige Vorstellung, die Wende hat es nie gegeben und ich lebe hier. Die Westautos, ich weiß nicht warum, lassen mich aufatmen, fühle mich dadurch nicht ganz so verloren. Was benebelte mich nun mehr, der eigenartige Kaligeruch, oder der Kohlensmog, der in riesigen Wattebäuschen aus den Schornsteinen kriecht? Wir fahren auf einer Brücke über eine Eisenbahnanlage. Wieder muß ich unwillkürlich an diese überaus stimmungsvollen Baluschek-Bilder denken. Es sind Bilder, die das Arbeitermilieu Berlins zu Anfang dieses Jahrhunderts, immer mit Bezug auf die Eisenbahn, zeigen. Auch die vielen privaten Kohleöfen haben in seinen Bildern zu dieser Atmosphäre beigetragen, und machen hier zudem auf diesen speziellen Geruch aufmerksam, den ich noch von den Dampflokmotiven kenne. Ich mag diesen Kohlegeruch eigenartigerweise richtig gerne. Einzig diesen beschissenen Trabi-2-takter-Geruch kann ich überhaupt nicht ertragen. Bernd's Riechkolben scheint davon nicht mehr viel mitzubekommen. Für ihn sind das hier und heute die normalsten Begebenheiten. Nachdem wir meinen Fiesta abgestellt haben bewegen wir uns hautsächlich auf Pflastersteinen. In Wismar ist vieles so, wie ich es mir vorgestellt habe. Dieser alte Hansestadt-Flair ist noch in vielen Straßen der Altstadt zu spüren. Ab 1648 gehörte die Stadt zu Schweden, bis 1803. Ist jetzt aber nichts so Besonderes, Hamburg-Altona gehörte immerhin bis 1937 noch zu Dänemark. Also auch die Reeperbahn. Am Hafen trinken wir einen Grog. Schmeckt irgendwie auch beschissen, und ich bekomme nur noch mehr Schüttelfrost davon. Von Seefahrerromantik hat sich Wismars alter Hafen nur wenig bewahrt. Das Wassertor am Hafen von1450 ist als einziges von fünf einstigen Stadttoren erhalten. Wir reden plötzlich über Frauen. Muß man wohl unter Männern, ist so ein Naturgesetz. In diesem Punkt scheint der antifaschistische Schutzwall versagt zu haben. Er zeigt mir ein Foto von seiner Freundin. Sieht ganz süß aus. "Es gibt schon schöne Frauen hier, aber die Frauen bei euch kann man mit unseren gar nicht vergleichen" sagt er direkt bescheiden. Was'n das für'n Unsinn, kann ich mich gerade noch zurückhalten. "Eure Mädchen haben viel besseres Make up", bemerkt er, als müsse er sich für alle DDR-Frauen entschuldigen. Ich habe an diesem Tag, der jetzt um achtzehn Uhr zur Nacht wird, kaum Frauen gesehen. Dafür quält mich aber der Hunger um so intensiver. Ich habe mit Bernd 1:1 getauscht. Wie viel war das jetzt? Man hatte ja allgemein Mitleid mit den Ossis, und gutmütig wie wir Wessis nun mal sind, wollen wir die armen Ossis ja nicht noch spekulativ über den Tisch ziehen. Und immerhin kann ich so auch mal Essen gehen. Oder nehmen die auch D-Mark? Wir schlängeln uns durch den alten Stadtkern. Erst der Altstadtkern lockert diese Trostlosigkeit etwas auf. Meine Eindrücke sind etwas zwiegespalten. Eigentlich ein ziemlich trostloses Pflaster von Einkaufsstraßen, andererseits sind diese Auslagen in den Schaufenstern auch faszinierend gruselig. Ich komme mir vor wie in einem Freilichtmuseum, wohl seit dem Krieg sind die Auslagen unverändert. Die Produkte können keinen Westeuropäer ernsthaft hervorlocken. Die Krönung sind die Uhren- und Schmuckgeschäfte. Ich kann es mir nicht verkneifen, in die Schaufenster zu blicken, jeder Dokumentarfilm verblaßt dagegen. Jeder sollte es gesehen haben, wie soll man das sonst je jemandem vermitteln. Trotz meiner interessierten Blicke in diese Altstadtromantik, an diesem erbärmlichen Mief hat sich nichts geändert. Er durchzieht jede Gasse, jede noch so kleine Nische, tief Durchatmen ist eine Qual. Unsere Schritte verhallen schnell in dieser nebligen Suppe. Alles wird vom Smog aufgesogen. Wir kommen zur St. Nikolai, einem gigantischen Backsteingotik-Monument. Von den drei gotischen Kirchen der Innenstadt ist nur St. Nikolai der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg entgangen. Um 1370 begonnen und zu Beginn des 16. Jahrhunderts vollendet. 36m erhebt sich das wuchtige Mittelschiff von St. Nikolai über die Häuser. Ich schaue mir die Sturmschäden der Kirche an die Bernd mir zeigt. Habe ich in der Zeitung davon gelesen. Ist ganz schön was herunter gekommen und hat einige Wohnhäuser mit abgedeckt. Soll aber nur Verletzte gegeben haben. Der Kirchturm ist aus schlichten Backsteinen aufgebaut. Feingliedrige Rosetten, zierliche Spitzbogenportale aus schweren Ziegelsteinen sehr filigran geformt. Das Bier, daß hier während der Blüte der Hanse gebraut wurde, war sehr gefragt und brachte der Stadt erheblichen Wohlstand ein. "Brauhaus der Hanse" wurde Wismar daher früher auch genannt. Bis zu 180 Bierbrauer produzierten im Mittelalter das begehrte Produkt. Die Bürger der Hansestadt schufen damit Reichtum, den viele prachtvolle Bürgerhäuser noch heute demonstrieren. Die wunderschönen alten Häuser in der Krämerstraße sind wirklich sehenswert. Auch die Marienkirche zeigt Bernd mir. Da, wo früher das Kirchenschiff stand, ist heute ein Parkplatz. Was ist denn ein Archidiakonat? Ah ja, eine kirchliche Verwaltungseinheit. Ist durch Bomber 1945 zerstört worden und 1960 wieder aufgebaut. Ein gotisches Kleinod, bereits 1450 als Wohnhaus aus schwarzen und roten Backsteinen erbaut. Woher ich das weiß? Da hängt so eine massive Steinplakette mit diesem Inhalt. Solche alten Gemäuer kann ich mir stundenlang angucken. Die „Backsteingotik" - hier ist sie zu Hause. Doch leider ist hier und heute viel davon vom Verfall bedroht oder schon ganz verschwunden. Wismar wurden im Krieg schwer zerstört. Zwischen der Marienkirche und St. Georgen, wo jetzt im Januar der Nordgiebel eingestürzt ist befindet sich die Untersuchungshaftanstalt. In den Gassen hängen noch viele alte Ladenschilder aus Holz, und auch so schöne alte Laternen. „Kringel, Semmel, Koken und Brood – Hier gifft dat gode Backwoor“ lese ich auf einem dieser wunderschönen gestalteten Ladenschilder. Hätte sich ruhig reimen können. Oder habe ich mir den Text falsch notiert? Überall hängt der Putz an den Hauswänden herunter. Trotzdem sind die Gassen niedlich, einige allerdings, oder besser leider, schon geteert. Aber es hat wirklich seinen Reiz diese altehrwürdige Hansestadt zu bestaunen. Angeblich soll seit dem Jahre 1967 ein Bereich Denkmalpflege existieren als nachgeordnete Einrichtung der Abteilung Kultur des Rates der Stadt, aber davon sieht man nicht viel. Also ich sehe davon nicht viel, und das ist vielleicht auch den aktuellen Witterungsverhältnissen geschuldet. Das Kreisgericht der Stadt residiert in einem schönen Hänsel und Gretels-Haus, schaut aus wie ein Lebkuchenhäuschen mit seiner verzierten Backsteinornamentik. Die Fenster 2m hoch und auch die Fensterrahmen aus verzierten Backsteinen. Das Stasigebäude steht direkt neben der Volkspolizei. Auffallend ist nur eine Mauer am hinteren Gebäudeteil. Sowie ein massives Metalltor und ein Rolltor ähnlich dem eines Büroschrankes. Ansonsten so unauffällig, daß ich glatt dran vorbei gegangen wäre. Nur die Volkspolizei hat einen großen Empfangsmast, das mit Kabeln zum Stasigebäude verbunden ist. Ebenfalls ein Backsteinbau. Ich bin begeistert was Bernd mir alles zeigt. Das hätte ich alleine niemals alles erleben können. Er gehört zu dem Ausnahmepersonenkreis, die auch ihre eigene Umgebung wirklich gut kennen. Endlich erreichen wir auch den Marktplatz. Der ist wirklich beeindruckend groß. Eine der vier Seiten nimmt das nicht gerade unscheinbare Rathaus ein. Zwischen 1817 und 1819 erbaut. Noch ein paar Jahrhunderte älter ist der „Alte Schwede“, eine Gaststätte. Das gotische Backsteingebäude mit dem stufenförmigen Pfeilergiebel wurde 1380 errichtet. Ich bestaune die wunderschöne spätgotische Fassade, die an die glorreiche Hansezeit erinnert. Aber vom Namen her eben auch an Schweden. Nur wenige Schritte vom „Alten Schweden" steht eine Augenweide, die im Stil der niederländischen Renaissance erbaute Wasserkunst. In den Jahren 1579 bis 1602 erbaut, versorgte dieses mittelalterliche Schöpf- und Pumpwerk noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die meisten Häuser hier in Wismar mit Wasser. In mir entsteht der Wunsch, all diese prächtigen Bauten später noch einmal, bei angenehmeren Temperaturen und vor allem bei Sonnenlicht zu erkunden. Wer kennt nicht das Kaufhaus Karstadt. Aber das 1881 hier in Wismar die Geburtsstunde des großen Warenhauskonzerns gewesen ist wissen wahrscheinlich nur wenige. Ich erfahre viel von Bernd. Wirklich Ungewöhnlich, wie gut er über solche geschichtlichen Dinge bescheid weiß, aber ich muß plötzlich mal ziemlich dringend. Hier mitten auf dem Marktplatz wäre ich vom Nebel wahrscheinlich auch geschützt aber wer weiß vielleicht können die Menschen hier durch den Nebel durch schauen. Meine erste eigene Erfahrung mit einem ostdeutschen Restaurationsbetrieb und steht bevor. Plötzlich stehen wir vor einem Bau, das soll ein Restaurant sein? Keine Beleuchtung, nichts was darauf hinweisen würde. Komische Atmosphäre schon im Vorraum. Merkwürdig das hier mit der Jackenabgabe. Muß ich die jetzt abgeben? Bernd wirkt unbeholfen, als gehe er das erste Mal in ein Restaurant. "Das ist bei uns immer ein bißchen anders", entgegnet er auf meinen merkwürdigen Blick. Er war also doch schon einmal hier. Ich reagiere nicht und behalte meine Jacke einfach an. In solchen Situationen kommt die westliche Überheblichkeit durch. Ich verstehe nur Bahnhof, und finde alles etwas unsinnig. Besonders diese blöde Warterei, obwohl viele Tische frei sind, ist mir total fremd. Warten wir also, bis einer dieser schwerfälligen Kellner angeschlürft kommt um uns gnädiger Weise einen Sitzplatz zuzuweisen. Es kommt aber keiner. So taste ich mich vorsichtig zu einem freien Tisch. Von sechs Tischen sind zwei besetzt. Bernd hinter mir her, weitaus vorsichtiger als. Nun sind drei Tische besetzt. Ein Kellner und zwei Kellnerinnen sind dementsprechend im Streß. Die schmucklose Einrichtung, die dreckigen Tischdecken, der Anblick der Kellner. Erinnerte mich doch irgendwoher, nur woher? Lange brauch ich nicht zu überlegen, stimmt, Bulgarien war das. Bernd und ich spielen das Ossi-Wessi-Spiel. Zwei westdeutsche Pärchen werden ausgewiesen. Die haben's wie wir gemacht. Mit Blick auf uns flüsterte der eine Kellner dem anderen etwas zu. Wahrscheinlich: "hast du die da hingesetzt?" Innerlich muß ich schon irgendwie grinsen, so eine abnormale Atmosphäre ist einfach nur lächerlich. Ich denke schon, das war's. Aber es stört sie dann wohl doch nicht, oder wir haben die Standartwartezeit überschritten, und hatten somit Bleiberecht. Ich denke dieses Gebaren im Restaurant wie diesem hier, das sind noch alte Sitten aus der wilhelminische Zeit die hier überlebt haben. Während sich bei uns durch die freie Marktwirtschaft alles immer mehr nach dem Gast ausgerichtet hat, ist hier der Gast höchstens geduldet. Woran erkennt man uns Wessis eigentlich? Ein einzelner Herr kommt herein, und Bernd identifizierte ihn sofort als Wessi. Der junge Mann setzt sich an unseren Tisch. Scheiße, denke ich, hat man wieder keine Ruhe. Aber irgendwie kamen wir gut ins Gespräch und redeten wie wild über die Mißstände in der DDR, ein zur Zeit beliebtes Thema. Ich glaube, nur in den sozialistischen Staaten reden die Bürger so negativ über ihren eigenen Staat. Ich frage unseren Nachbar sogleich, ob er Wessi oder Ossi ist. Bernd hat recht. Er kommt aus Scharbeutz. Er hatte aus gleichen Ansätzen heraus Wismar besuchen wollen wie ich, bzw. wußte an sich auch nicht genau, wohin er wollte. Es gibt also noch mehr Beknackte, kann ich mich beruhigen. Unser Gesprächsstoff kam irgendwann mal wieder beim Thema Frauen an. Wir fragen Bernd über das Leben aus, wie es früher gewesen ist. Man hat eben das beste draus gemacht, ist einer seiner Standartsätze. Kann ich verstehen, Bernd ist jedes zweite Wochenende zu Hause. Ansonsten rötelt er auf dem Bau, momentan in Rostock. Baggerfahrer ist er. Nachdem wir alle aufgegessen haben, bezahlt Bernd für uns beide mit, bekam es hinterher in Westmark zurück. Ich hätte noch ein Essen verdrücken können, aber nachher spucken sie mir vielleicht noch rein. Trinkgeld gab es nicht's. Wieso auch? Rainer, so unser neuer Bekannter macht gerade seinen LKW-Führerschein in Norderstedt. Immer diese Zufälle. Ach ja, ich vergaß zu sagen, daß ich ja aus Norderstedt komme. Wir geistern noch ein bißchen durch die Straßen. Aber diese für mich faszinierende Atmosphäre geht bei drei Leuten verloren. Wieder kommen wir an der Stasizentrale vorbei. Ich muß wieder über diesen Antennenwald auf dem Dach staunen. Einen Kneipengang wollten wir uns noch gönnen. In der Nähe von Bernd's Wohnsiedlung soll es sein, für mich auch ein guter Ausgangspunkt in Richtung Heimat. Doch so was wie Kneipen kennen die hier gar nicht. Wo wir letztlich hingehen, das ist so eine Bruchbude wie in etwa das Restaurant vorher, nur noch etwas schmuckloser. Wie in einer Garage. Das kann wirklich auch nur Bernd wissen, daß das hier eine Gaststube sein soll. Es ist im ersten Stock eines Wohnhauses drin. Von außen ist nichts zu erkennen was auf eine Kneipe oder Bar schließen ließe. Wenn die Wände mal Farbe hatten dann ist die jetzt jedenfalls verschwunden. Dazu seit Jahrzehnten von Zigarettenrauch überdeckt, der Atemluft und wer weiß was an Abgasen von draußen hier Einlaß erhielt. Die Tischdecken abgewetzt, aber man kann sich an alles gewöhnen. Was soll's, denke ich, Bier trinken kann ich überall, Hauptsache die Leute stimmen. Es macht Spaß die Gäste zu beobachten. Die Kellnerin schmuddelig wie in einer ollen St.Pauli-Kneipe, in einer der hintersten Seitenstraßen. AIle benehmen sich hier sehr vorsichtig und ruhig, auch die Halbstarken. Kein lautes Wort, man müßte schon Stasi-Ohren haben, um mitlauschen zu können. Ich stelle mir den Unterhaltungsraum in einem Gefängnis vor. Mit dem Unterschied, daß das hier freie Menschen sind. Wirklich frei? Das können wohl nur sie selbst beantworten. Gegen halb neun brechen wir dann endgültig auf. Uns erwartet ein Kälteschock, mühsam recke ich meine Gräten zurecht. Tief Durchatmen unterlasse ich lieber. Ich kann die Rußpartikel direkt in den Händen zerreiben, meine Lunge würde sich mit einem Hustenanfall bedanken. Hinter uns das etwa achtstöckige Wohnhaus, in dem auch unser Lokal steckt. Gerne würde ich noch einmal von ganz oben auf die Dächer Wismars blicken. Mein Entdeckerinstinkt stemmt sich noch ein letztes Mal gegen den endgültigen Abschied, denn dieses gespenstige Licht- und Schattenspiel lädt regelrecht dazu ein. Frauen bei uns würden sich hier nicht auf die Straße wagen. Ein paar Jugendliche kommen aus dem Nichts, hatten sich im Hauseingang von der Kälte erholt, um in dem vor uns liegenden Hauseingang zu verschwinden. Da müssen auch wir rein. Kaum über die Schwelle getreten verschwinden dann auch wir im absoluten Nichts. Unheimlich ist mir zumute, zu Tote erschrecken würde ich mich jetzt, hörte ich irgendwo Geräusche. Stockfinster ist es, den Weg nach oben versuchen wir zu ertasten, oder einen Lichtschalter, falls es den überhaupt gibt und er dann auch funktioniert. Upps, wenn das hier einer sein soll, dann ist das Licht im Eimer. Schade, müssen wir das Abenteuer leider abbrechen. Auf unseren Autodächern schreiben wir unsere Adressen auf. Fällt uns ja recht früh ein. So bleibt uns wenigstens ein letzter Small-talk, auch ganz nett. Rainer will mich vielleicht mal besuchen, Bernd mir schreiben, und ab geht es. Noch ein kleines Hupkonzert, Rainer fährt hinter mir her. Bernd ist wieder allein in seiner Welt, in der noch alles beim Alten ist und Neues noch nicht in Sicht. Vielleicht haben wir ein bißchen Farbe in sein Leben gebracht, jetzt verschwinden wir wieder in die Dunkelheit. Unsere Scheinwerfer verfangen sich in den Alleen und bilden ein Tunnelgewölbe aus den von unseren Lichtkegeln angestrahlten Ästen. Sieht fantastisch aus, fotografieren kommt mir in den Sinn, weiß aber nicht, wie ich das bewerkstelligen soll. Erst kurz vor der Grenze treffen wir auf weitere Westbesucher, wieder diese nervigen Grenzformalitäten. Im Bundesgebiet halten wir beide noch einmal kurz an der Seite und verabschieden uns für immer. Mit meinem Kupplungsschaden stehe ich zwar Ängste aus, schaffe es aber doch ohne weitere Vorkommnisse nach Norderstedt. Am nächsten Morgen bin ich gleich zur Ford-Werkstatt. Muß aber glücklicherweise nur etwas zurechtgebogen werden. Mein nächster Trip ist schon geplant und soll nach Ostberlin gehen. Ich bin schon richtig in Entdeckerlaune, mal sehen ob ich Karin in Ostberlin ausfindig mache.

Das Leben auf der anderen Seite

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