Читать книгу Das Leben auf der anderen Seite - Jörg Nitzsche - Страница 7

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Leipzig wartet auf mich, oder?

So, Merseburg soll heute noch mein Ziel werden, und so wird es jetzt um 17Uhr auch langsam Zeit die Richtung anzupeilen. Hinter Petra’s Gaststätte sitze ich in meinem roten Flitzer und muß unwillkürlich an Petra denken. Ich weiß dieses Mal genau wo sie ist, nämlich keine 50 m Luftlinie von mir entfernt. Komisches Gefühl jetzt von ihr weg zu fahren. Ich gebe mir einen Ruck und erwache aus meiner Trance, und konzentriere mich auf die vor mir ausgebreitete Straßenkarte. Und es fällt mir auch nicht schwer mich zu orientieren weil ich auf jeden Fall südwärts abdriften muß. Ich versuche mir selbst noch auf den ersten Metern diese waschbrettähnlichen Rubbelflächen auf der Fahrbahn vor Einmündungen zu erklären, welchem Zweck die wohl dienen sollen? Ob man damit Kick-Starts verhindern will? Und dann bin ich auch schon auf der Transitautobahn A9 Richtung Merseburg. Leicht durchgefroren bin ich von meinem Trip aus Köpenick zurück gekommen, doch jetzt fühle ich mich in meinem Wagen wie in Abrahams Schloß. Der Reiz des Besonderen ist in Ostberlin schon vorhanden, gehen mir diesbezüglich während der Rausfahrt aus der Stadt noch so ein paar Gedanken durch den Kopf. Auch diese kuriose Erfahrung mit dem Mädchen weht mir immer mal wieder in den Kopf. Aber das Erlebnis bleibt so distanziert, ich fühle mich irgendwie unbeteiligt an dem Geschehenen. Ich lasse meinen Trip noch mal Revue passieren und komme zu der Erkenntnis, daß das Zentrum Ostberlins schon sehr international ist. Ich erliege dem diskreten Charme von einer Traurigkeit dieses Berlins. Für mich immer wieder erstaunlich und verwunderlich, daß sich die Menschen hier über ihr Los, eingesperrt zu sein, so im Klaren waren, und damit ja irgendwie gut leben konnten, allerdings auch mußten. Aber an eines habe ich die ganze Zeit nicht gedacht. Genau, die Alten, also die Rentner, konnten doch sowieso jederzeit in den Westen fahren. Und das ging natürlich von Ost-Berlin richtig schnell. Muß dabei auch an die Stasi-Spitzel denken, das hätte im Grunde jeder sein können. Na ja, nicht wirklich jeder, aber in den Köpfen jedes einzelnen hätte es jeder sein können. Aus Angst, oder sonstigen Begebenheiten kann er dazu gezwungen oder verleitet worden sein. Wenn man mir also sagt, wie beschissen es ist, daß noch so viele Spitzel draußen herum laufen, anderseits aber auch sagt, daß er trotzdem nicht um jeden Preis ins Gefängnis gehen würde, könnte für mich in diesem perfiden System jeder zum Spitzel geworden sein. All die kleinen Vollstrecker, Schreibtischtäter und Befehlsgeber der Vor-November-Zeit können jetzt schon hoffen ungeschoren davon zu kommen. Sie alle wollen von nichts gewußt haben und tun so, als hätten sie jahrzehntelang auf irgendeiner Südseeinsel gelebt, nur nicht in der DDR. Ich habe mir manchmal gedacht, wäre Honecker so clever gewesen und hätte sich nur ein Jahr vorher der BRD genähert um einiges in seiner DDR zu richten, dann wäre er womöglich heute als Held in die Geschichte eingegangen. Natürlich ist das ein törichter Gedankengang von mir, denn die waren leider nicht nur von ihrer unbegreiflichen Dummheit völlig erblindet, sie hatten natürlich auch immer noch den russischen Bruder im Nacken. Honecker wußte sicher instinktiv, wenn er das Ruder an den Westen abgeben würde hätte er nichts mehr zu melden gehabt. Aber – er wäre vielleicht ein Held geworden. Na ja, lassen wir diesen Gedankenblödsinn. Von den DDR-Autobahnen kenne ich bisher nur die Hamburg-Berliner Strecke, habe somit keine Ahnung wie frequentiert die Autobahnen generell in der DDR sind. Aber ich glaube, so was wie Staus kennen die hier nicht. Außer vielleicht, daß wegen eines Unfalls die Autobahn gesperrt werden müßte. Aber das kann eigentlich hier nie passieren, denn man bräuchte beinahe schon ein Fernglas um das nächste Gefährt zu sehen. Alleine die Strecke zum Berliner Kreuz ist irrsinnig lang. Entschuldigung, das ist ein Fehler. Ich weiß nämlich bis heute nicht, was das Berliner Kreuz sein soll. Die gesamte DDR-Autobahn scheint das Berliner Kreuz zu sein. Ich nämlich die Abbiege nach Leipzig. Total unsicher tucker ich vor mich hin und muß zwischendurch mehrmals anhalten um meine Karte zu studieren. Das ist echt zum Kotzen. Erleichtert atmete ich auf, als ich die Abbiege nach Leipzig vor mir habe. Ansonsten ist wenig los. Gewundert haben mich die vielen Westautos mit DDR-Kennzeichen. Wie haben die das bloß gemacht? Sind sicher Firmenwagen. Tauschen in großen Mengen ist doch nur bei uns möglich, und das sehr ungünstig. Ostmark ausführen ist überdies verboten. Ich komme mir vor wie ein Moralapostel. Auf der Autobahn 9 in Richtung Leipzig mit seinen vereinzelten Schlaglöchern bringt in mir die Vorstellung hervor in ein Vergangenheitsidyll geraten zu sein. Na ja, scherzhaft gemeint. Ich muß immer wieder schmunzeln, wenn ich diese Propaganda-Texte auf irgendwelchen riesigen Transparenten sehe wie „Wir lieben das Leben“ oder „Wir haben gut lachen“. Die Herren Krenz, Honecker und Konsorten müßten eigentlich ganz schön bekloppt sein, wenn die das geglaubt haben, bzw. geglaubt haben daß die Bevölkerung das glauben würde. Die Zeit ist hier aber ebenfalls nicht stehengeblieben, sie ist nur in eine andere Richtung gegangen. Wer sagt, hier sähe es aus wie vor fünfzig Jahren hat vollkommen recht. Denn die holprige, relativ leere Autobahn von Berlin nach Leipzig ist noch immer die unter Hitler aus Betonplatten gebaute Straße. Richtig neue Straßenbelege gibt es so gut wie nirgends. Nach gut drei Stunden Fahrt trudel ich in Merseburg ein. Jetzt muß ich nur noch die Carl-Schorlemmer-Straße finden, da wohnen meine Verwandten nämlich. Einen Stadtplan von Merseburg habe ich nicht, und dunkel ist es auch schon wieder. Merseburg wirkt regelrecht wie eine riesige Räucherkammer. Frage ich mir nur was man hier räuchert, die Menschen? Merseburg ist ein Ort, der von Chemie komplett eingekesselt ist. Buna und Leuna, die beiden berühmten Plastewerke haben schon zu Beginn dieses Jahres traurige Berühmtheit erlangt. Gerade am 9. Februar ist im Schkopauer Buna-Werk das bisher schwerste Unglück in der Geschichte des DDR-Chemiekombinates geschehen. Ein Carbidofen explodiert und drei Arbeiter verglühten regelrecht. Ihre Leichen waren nicht mehr zu identifizieren. In beiden Werken ist alles total überaltert. Selbst auf meiner Vorbeifahrt bekomme ich ein Gefühl von den absurden Zuständen in diesem Werken. Die Häuser und auch die Bäume in Schkopau sind teilweise komplett weiß getüncht, wie in einer Schneelandschaft komme ich mir vor. Hier ging es stets um Planerfüllung um jeden Preis. Daß aber Anwohner in einer lebensfeindlichen Umgebung wohnen oder Arbeiter unter grausamen Arbeitsbedingungen leiden müssen wird hier wissentlich in Kauf genommen. Und die Merseburger können sich je nach Windrichtung glücklich schätzen, mindestens von einem Werk beehrt zu werden. Das ist so ein Flecken, das ich gesucht habe. Alt und dreckig ist hier wirklich alles. Das Laternenlicht hat es nicht leicht mich in dieser von Kohlenruß geschwängerten Luft die Wege oder den Asphalt vor Stolperfallen zu warnen. Und die Luft ist hier echt erbärmlich. So erbärmlich, daß ich das Autofenster und alle Lüftungen schließen muß. Ich frage einen Schatten auf der Straße nach dem Weg. Verhältnismäßig schnell finde ich dann doch meine, bzw. die Straße meiner Verwandten. In der Tat, die Menschen kennen hier die unmöglichsten Winkel, würde ich sie nach dem Namen ihres Nachbarn fragen, müßten sie wohl erst grübeln. Ich muß jedenfalls nicht blödsinnig im Kreis herum fahren. Gut kennen tue ich meine Verwandten natürlich nicht, wie auch. Gegen acht Uhr erreiche ich meine sichtlich überraschten Verwandten, die ich gar nicht über mein heutiges Erscheinen vorbereitet habe. Wir kennen uns natürlich, aber ich weiß eigentlich nicht wie familiennah sie mich überhaupt betrachten. Für mich sind sie jedenfalls Onkel und Tante. Ich fühle mich auch gleich wie zu Hause, trotzdem versuche ich mich nicht gleich so zu benehmen. Vielleicht geraten sie sonst in Panik weil sie denken ich könnte mich auf längere Zeit hier einnisten. Ich komme zum Glück nicht ungelegen nur 1 Tag zu früh. Dafür fühle ich mich gleich sehr wohl bei ihnen. Ihre Wohnung ist allerdings total überheizt. Der Kohleofen erzeugt zwar eine sehr angenehme Wärme, aber für mich doch etwas zu ungewohnt warm. Die Kohle müssen sie sich jedesmal per Eimer aus dem Keller nach oben holen. Das ist in der DDR allgemein so üblich. Sie kennen es nicht anders. Mein Onkel kann sich dergestalt ganz besonders über die Mißstände der DDR aufregen, daß es eine Wonne ist ihm zuzuhören. Von unseren Familientreffen kannte ich das schon. Er nahm nie ein Blatt vor den Mund, denn es gab immer genug Diskussionsstoff für ihn. Und das ist auch heute nicht anders. Da die Glotze wohl neben der Nahrungsaufnahme zur absoluten Existenzgrundlage gehört und dementsprechend immer läuft kann man dem Bombardement an neuen DDR-Nachrichten auch kaum entfliehen. Wieviel Geld Honecker, Schalck-Golodkowski und Stasi-Freak Miehlke veruntreut haben, die Mißwirtschaft insgesamt, der Umtauschkurs, die Währungsunion, die Ablehnung des Milliardenkredits an Modrow, die Kohl gewähren wollte, die Fernseher, die zwar nur noch die Hälfte kosten, aber immer noch viel zu teuer sind durch das viel zu geringe Warenangebot und dabei im Vergleich zur Westqualität schon als antiquiert zu betrachten sind und viele weitere solcher Meldungen scheinen bei ihm wie Stromstöße zu wirken und seine Gehirnwindungen zum Glühen zu bringen. Es mangelt jedenfalls nicht an Meldungen an denen sich mein Onkel nicht seinen Aggressionsstau abbauen kann. Meine Tante und mein Onkel sind aber auch ehrlich empört darüber, daß sie über die ganzen Jahre so beschissen wurden. Die meisten Ost-Bürger haben solchen Beschiß wohl nicht einmal vermutet. Solche Gefühlsbekundungen sind für mich, zugegebenermaßen, schwer nachzuempfinden. Meine aktuellen Momentaufnahmen dagegen lassen mich alles in angenehmeren Farben erscheinen als sie wohl für viele hier wirklich waren. Leben doch gar nicht so schlecht hier, denke ich immer mal wieder. Schlecht gings denen da drüben nicht, sie haben wohl das notwendigste erhalten. Diese Lust sich künstlich aufzuregen damit scheint mein Onkel ein bißchen zu kokettieren, kommt es mir in den Sinn. So kommt es mir vor. Aber vielleicht steckt doch mehr dahinter. Ich hoffe ja inbrünstig, daß ich in den nächsten Tagen vieles von diesem Leben hier in der DDR hautnah miterleben werde. Nach dem reichhaltigen Abendbrot, daß man schon als Festmahl bezeichnen könnte, verspüre ich den Drang, noch ein bißchen meine Füße zu vertreten. Und so mache ich noch eine Runde in Richtung Bahnhof. Ich brauche Ihre Straße nur in östlicher Richtung verfolgen und komme so ganz automatisch zu den Schienen, so leitet mich meine Tante noch kurz. Auf der Straße spüre ich sofort wieder diese dicke Luft. Diese Kohle laste auf meiner Lunge wie ein gigantischer Lungenzug aus einer Havanna. Obwohl ich diesen Kohlegeruch wahnsinnig gerne riechen mag, warum weiß ich selber nicht, so ist das sonst im Allgemeinen einfach nur ein Geruch. Hier aber atme ich reinen Kohlenstaub ein, so kommt es mir vor. Aber abgesehen davon ist natürlich auch die Sicht hier ein undurchdringlicher Nebel, der mir alles nur schemenhaft darstellt. Was stellen Leuna und Buna eigentlich her? Ist der Scheiß in den Gerüchen mit eingebunden, oder rieche ich nur Kohle? Auch die Menschen, die mir irgendwo in Sicht kommen scheinen alle nur Schatten zu sein. Nur wenn sie auf mich zu kommen bekomme ich auf einen Meter Entfernung heraus, daß vor mir ist wirklich das Antlitz eines junges Mädchen oder eine älteren Frau. Und ich schaue jedesmal verwundert wenn es dann ein wirkliche Schönheit ist die an mir vorbei huscht, und wenn ich mich nach ihr umschaue, sie schon wieder nur noch ein dunkler Schatten ist, der sich langsam im Nebel auflöst. Erinnert mich an die alten Agententhriller, die immer gerne in nächtlicher Atmosphäre spielen, so daß der Täter im Nebel und auf den feuchten Straßen, wo einen das wenige Licht kurzzeitig blendet, nicht erkannt wird. Ein übrigens teilweise auch durchaus beklagenswerter Verlust an Reizen, denn nichts in der DDR, auch ihre Idyllen nicht, wird je wieder so sein, wie es mal war. Genug von diesem Abenteuer, wieder zurück lassen wir den Abend gemütlich bei Bier und Brause ausklingen, und die kommt sogar schon aus dem Westen. Beide müssen sie morgen recht früh aus den Federn, mein Onkel sogar schon um halb sechs. Ich mache mich kund in der Wohnung, wo ich mein eigenes Kinderzimmer habe. Das Bett ist schon bezogen. Leider muß ich das Fenster geschlossen halten, bin es eigentlich gewöhnt bei offenem Fenster zu schlafen. Aber die Luft da draußen ist echt der Hammer. Es gibt in der Wohnung nur einen bescheidenen, sehr engen Waschraum, mein kleines Gästezimmer, ein Schlafzimmer, Küche und Wohnzimmer. Bei normalen Ansprüchen und einer Miete von sage und schreibe DDR-Mark 56,— kann man sich kaum beklagen. Mein Zimmer ist ausreichend geräumig für einige Tage. Ich schlummere selig ein ohne eine Ahnung davon zu haben, daß ich morgen mein dunkelstes Kapitel meines gesamten DDR-Trips erleben werde.

Das Leben auf der anderen Seite

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