Читать книгу Das Leben auf der anderen Seite - Jörg Nitzsche - Страница 6

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Endlich auf nach Ost-Berlin

Schon wenige Tage später, am Donnerstag, breche ich dann endlich wieder nach Ost-Berlin auf. Die Transitstrecke Hamburg – Berlin ist über alle Maßen todlangweilig und ich habe Zeit meinen Gedankengängen ausgesprochen weitschweifig zu folgen. Ich muß an meine vielen Bekanntschaften denken, die in der ganzen DDR verteilt sind und die für mich so was wie einen Indikator für ostdeutsche Kultur darstellen. Mit ihnen will ich das andere Deutschland kennen lernen. Ich freue ich mich auch schon auf die Begegnungen. Menschen, die so viel anders sein müssen als wir, die anders denken, anders arbeiten, anders leben und andere Träume haben. Oder? Ich überlege, wie z.B. das Wetter, die Landschaften und die Arbeitsverhältnisse bestimmte Charaktere hervorbringen können. Die Mecklenburger sind bestimmt ganz andere Typen als die Sachsen, und ich überlege wie sie sich wohl unterscheiden. Oder, genau das möchte ich doch heraus finden, sind die Unterschiede unter diesem sozialistischen Schatten gar nicht so groß. Und jetzt in Ostberlin beginne ich endlich damit meine Idee zu verwirklichen, und Petra aus Bulgarien ausfindig machen. Und somit ist auch die Gaststätte „Gastmahl des Meeres“ ein Anlaufpunkt, in dem arbeitet sie angeblich. Ich hoffe, auch heute noch. Ich kenne nur ihren Vornamen Petra, ihren Nachnamen kenne ich nicht. Nur ein Urlaubsfoto, welches ich halbnackt von ihr gemacht habe habe ich bei mir. Wie schon erwähnt ist die Transit-Strecke Hamburg-Berlin furchtbar langweilig, aber dazu noch diese blöde 100-Stundenkilometer-Begrenzung. Und Radarfallen stehen mindestens eine zwischen 2 Ausfahrten auf der ganzen Strecke bereit. Die holen sich die Devisen jetzt auf diese Weise, Umtauschen brauchen wir ja nicht mehr. Doch ausgerechnet die entgegen kommenden Ostdeutschen zeigten sich da sehr fair, in dem sie mit Lichthupe signalisieren, daß da was in dergestalt kommen muß. Sofort bin ich mit dem Tempo runter. Wow, gerade noch mal davon gekommen. Da ich immer Führerschein und Fahrzeugschein vergesse, wäre ich vielleicht in eine ganz blöde Situation geschlittert. Verzichte ich gerne drauf. Viele kleine Dörfer links und rechts der Strecke, und auch immer wieder diese typischen Betonklötze zum Wohnen. Phantasielos hin geklatscht, aber dann kommt mir beim öden Cruisen der geniale Gedanke ob das nicht auch eine Spitzfindigkeit des Zentralkomitees gewesen sein könnte, ob man nicht die Phantasie der Bürger mit diesen Prachtbauten anregen wollte. Auf diesen blöden Gedanken ist bestimmt noch keiner außer mir gekommen. Bestimmt ist so in Sachen Kreativität einiges anders dort drüben und so ich auch Anderes als bei uns entstanden. Mit Sicherheit friemeln die Menschen an Sachen herum, mit denen sich bei uns keiner mehr abgibt. Die Kunst hat bestimmt Formen ihres Lebens angenommen, sind Ausdruck ihrer Schreie nach Freiheit und individuellem Denken und Reisefreiheit. An den Brücken sehe ich Werbeschilder von VEB-Betrieben, die dreißig Jahre durch Subventionen am Leben erhalten wurden. Ich frage mich unwillkürlich, wofür diese Schilder? Der DDR-Bürger hatte doch sowieso nie nichts kaufen können, also für uns, hmmm??? Und trotzdem bewirken diese Schilder, direkt farblos sind sie zwar nicht, Assoziationen des grauen DDR-Alltags. Und so geht meine Fahrt weiter. Abzweigungen nach Schwerin, Abzweigung nach Ludwigslust. Ich würde schon gerne mal kurz abbiegen, aber Berlin lockt. In Berlin zum Brandenburger zu kommen ist auch nicht gerade einfach. Ist blöd ausgeschildert. Endlich bin ich in der Straße des 17. Junis und sehe die Menschenmassen. Da kann ich mir ein Bild machen was hier Sylvester abgegangen sein muß. An einen Parkplatz ist überhaupt nicht zu denken, so parke ich noch vor der Bahnunterführung. Als ich aussteige, fühle ich mich wie gelähmt. Ich hatte während der Fahrt solche Rückenschmerzen bekommen, das ist nun das Resultat. Ich brauche ein paar hundert Meter, bis ich mich wieder in aufrechter Lage befinde. Das Brandenburger Tor, ich kann es sehen, es ist schon ein überwältigendes Gefühl davor zu stehen. An die ganzen Dokumentationen übers Kriegsgeschehen muß ich denken und an den Mauerbau. Ich erinnere mich auch an mein letztes Mal vor Jahren hier in Berlin, wo ich rüber schauen konnte, und dachte, was sind das da für Menschen drüben. Was für ein komisches Gefühl die Menschen auf der anderen Seite keine 200m von mir entfernt ganz normal in ihrem Alltagstrott bewegen zu sehen und Du kannst nicht zu ihnen hin, und sie nicht zu Dir. Erschreckend unwirklich und faszinierend zugleich. Das Geschehnis damals mit Worten zu beschreiben, das plätscherte an jedem Zuhörer einfach vorbei, haben die meisten einfach so abgeschüttelt. Schon komisch, das interessierte kaum jemanden, nahm jeder einfach so hin. Das ist vielmehr ein Gefühl, daß man selbst live erlebt haben muß, denke ich, um es zu verstehen. Aber es braucht vielleicht auch eine spezielle Sensibilität um sich in solche unwirkliche Situationen hinein fühlen zu können. Unter den Linden, wie beschaulich mag das noch bis kurz vor der Wende hier gewesen sein. Ost-Berlin gefällt mir irgendwie besser als West-Berlin. Ost-Berlin hat, und das ist verrückterweise dem DDR-Regime geschuldet, ein sehr reizvolles und abwechslungsreiches Stadtbild. Nun gut, über abwechslungsreich und reizvoll kann man natürlich streiten. Aber wo gibt es schon Prunkbauten und Museumsinsel, historische Stadthäuser, Plattenbauten und Trümmerlandschaften auf so einem überschaubarem Areal. Jetzt brummt das Leben rund um den Alex sehr intensiv. Das mag man oder eben auch nicht. Muß mir unbedingt auch ein Stück Mauergestein besorgen fällt mir bei dieser Hämmerorgie ein. Hier herrscht eine Euphorie als hätte einer Mondgestein anzubieten. Die Mauer steht noch, allerdings schon überall leicht angeschlagen. Hier wird gehämmert was die Mauer hergibt. Schon von weitem höre ich die Klopperei der Mauerspechte. Las ich nicht mal was von Asbest? Nur mal so nebenbei: Nach der Preußischen Niederlage 1806 beim Kampf um Jena-Auerstedt wurde die Quadriga von Napoléon nach Paris verschleppt. Nach seiner Niederlage 1814 brachten Blüchers Truppen die Quadriga zurück nach Berlin. Dies wird im Berliner Volksmund Retourkutsche genannt. Die Nazis wiederum verwendeten das Tor als Parteisymbol. Als 1961 die Mauer gebaut wurde, wurde es Teil der Russischen Zone und später schließlich das Symbol der Deutschen Wiedervereinigung am 9. November 1989, als Ost- und Westberliner gemeinsam auf und vor dem Tor feierten.

Meine Stimmung ist zum Bersten gespannt. Meine Euphorie geht schon jetzt fast mit mir durch. Ich kenne Ostberlin bisher nur Unter den Linden entlang bis zum Alexanderplatz. Dabei stehe ich gerade in der Warteschlange vor dem Grenzposten. Wie mag es drüben aussehen, hat sich dreißig Jahre nichts verändert? Zu beiden Seiten des Brandenburger Tores ist die Mauer ganz durchschlagen und Grenzposten kontrollieren die Pässe. "The same procedure ...". Aber es geht flott, ohne diese gewohnte Schikane. Ich habe es auch nicht so eilig. Und dann sehe ich den Todesstreifen zu beiden Seiten in seiner unerhörten Breite. Ein Wahnsinn! Was hier bloß zu welchem Schutze errichtet wurde. Ich stehe hier auf einem Gebiet, das für Jedermann dreißig lange Jahre tabu gewesen ist. Ich muß unwillkürlich an die Momente denken, als ich Mitte der 80iger zweimal in Berlin war und jedesmal ein Blick auf die andere Seite riskierte. Ich weiß gar nicht mal mehr genau ob ich mir nicht auch ein Tagesvisum hätte besorgen können. Auf jeden Fall, bei dem Einblick in diese andere Lebensrealität im Osten habe ich wirklich überlegt, ob ich nicht vielleicht eine Macke bekommen hätte wenn ich auf der anderen Seite der Mauer gewohnt hätte. Klar, so kann man nur als Wessi denken. Ich, der da im Westen über die Mauer spähte und die Menschen auf der anderen bestaunte. Was war das doch für ein kurioses Gefühlserlebnis, die Menschen da drüben, keine 200m von mir entfernt, in ihrem ganz alltäglichen Tagesablauf zu beobachten. Kam mir fast der Vergleich mit dem Warschauer Getto, das ich in Dokumentationen gesehen habe. Natürlich hinkt der direkte Vergleich in vielerlei Hinsicht, aber diese klaustrophobische Atmosphäre empfand ich schon sehr ähnlich. Hat sicherlich auch was mit dem vielen Grau und der alten Architektur zu tun. Und, na ja, auch irgendwie eingesperrt alles hier. Und die Trabis und Wartburgs, die auch wiederum was von einer Filmkulisse hatten. Auf jeden Fall eine irgendwie irritierende Art der Wahrnehmung des Ganzen überfiel mich damals. Ich konnte nicht mal eben da hin rennen, sie waren für mich in diesem Moment unerreichbar. Da lief direkt ein Film vor mir ab, aber der war gespenstig real. Da gingen vereinzelt Menschen mit ihren Einkaufstaschen entlang, ein Trabi bog von einer in eine andere Straße, und das alles in diesen düsteren Grautönen wie kurz nach dem Krieg. Ich konnte mir gut vorstellen gerade einer Filmeinstellung in einem Filmstudio beizuwohnen. Da muß man doch mit der Zeit einen Koller bekommen, dachte ich damals überheblicher Weise. Wenn ich da jetzt so die Vögel beobachtete, wie sie mal locker von Ost nach West fliegen, dann kommt mir doch sofort der Gedanke wie plemm-plemm wir Menschen doch eigentlich sind. Die vielen menschlichen Schicksale die damit verbunden sind, macht das alles noch mal komplexer als ich das mit meiner banalen Aussage überhaupt vermitteln kann. Die andere Seite der Stadt geriet unter das Joch eines System, das statt Freiheit und Wohlstand Bevormundung und Mangel brachte. Ich frage mich gerade, wie die Mauerschützen sich heute fühlen, flüchten sie sich in Ausreden gar nicht anders gehandelt haben zu können, weil sonst sie bestraft worden wären. Nun, dafür ein Menschenleben zu opfern beweist nicht gerade viel Rückgrat. Aber wenn man nicht selbst in so einer Situation steckt ist es immer leicht zu urteilen. Klar ist, auf beiden Seiten der Grenze gibt es solche und solche. Und nun sehe ich die Prachtstraße „Unter den Linden“direkt vor mir. „Unter den Linden“ galt als eine der schönsten Straßen Europas die jeder einmal gelustwandelt haben sollte habe ich gelesen. 1390 m benötigt man dafür – eigentlich wollte ich sagen, 4170 Schritte benötigt man vom Brandenburger Tor bis zur Schloßbrücke. Aber ob nun jeder, ob Mann oder Frau, einen Schritt von genau 33,33 cm tut, bezweifle ich dann doch ein wenig. Aber ursprünglich sind es nicht nur Lindenbäume gewesen, in gleicher Anzahl sollen es auch Nußbäume gewesen sein. Einiges an dieser Straße ist aber eindeutig zu streng sachlich geraten – beispielsweise der Palast der Republik. Trotzdem, West-Berlin wirkt hiergegen eher wie eine Vorstadt ohne Baudenkmäler. Die Menschen um mich herum nehme ich gerade nicht wahr. Es ist grandios, um mal ein anderes Wort zu gebrauchen, hier auf einer Breite von 60 Metern zu schlendern. Meine Gefühle in diesem Moment kann ich selbst nicht in Worte fassen. Es ist alles irgendwie überdimensional und irgendwie auch nicht real. Alles so gewaltig groß und weit. Ich gehe langsam, diese Eindrücke verarbeitend, bis ich einen kleinen Stand erreiche, an dem eine junge Ostberlinerin Stadtpläne verteilt. Ich frage sie nach dem Gastmahl des Meeres. Nach einigem Überlegen schildert sie mir sehr ausführlich den Weg obwohl es eigentlich nur geradeaus geht. Auf dem kleinen Stadtplan zeichnet sie mir ein Kreuz ein. Ich bedanke mich freundlich, sie ist wirklich sehr aufmerksam gewesen. Ich drehe mich wieder in alle Himmelsrichtungen. Es sieht anders aus als in Wismar, viel moderner. Viele Bestimmungen sind noch geblieben, Ostmark zum Beispiel darf nicht eingeführt werden. Zuerst müßte man sie ja mal ausgeführt haben um sie wieder einführen zu können muß ich gerade schmunzeln. Auch die Britische Botschaft ist vertreten. Wo die Konsulatsmitarbeiter wohl gewohnt haben, und wie haben die über das Leben in der DDR gedacht? Die Lindenallee gefällt mir gut. Sie ist schön breit. Ich mag dieses Großflächige und die Weite sehr gerne, und es ist auch alles sehr sauber. Hier stören direkt mal die Trabis im Stadtbild. Zu Ostberlin passen die Autos einfach nicht so richtig in Stadtbild, denn Ostberlin ist eine Weltstadt, zumindest im Kern. Dummerweise ist es heute sehr schwül und die Luft nicht anders als in Wismar, eher noch schlimmer. Es fällt mir schwer zu atmen. Drüben auf der anderen Straßenseite biegt ein Trabifahrer in die Charlottenstraße ab und zieht eine riesige blaue Wolke hinter sich her. Ich kann es gerade noch rechtzeitig fotografieren. Fahren doch schon viele Westautos hier rum. Komische Feststellung, ist ja irgendwie auch verständlich. Was ist an den Ostberlinern anders, versuche ich zu beobachten. Aber hier sind zu viele Touristen. Im Stadtkern finde ich auch nichts Uriges. Später werde ich ja noch mal auf Abwegen lustwandeln. Schönes Wort, gefällt mir. Paßt direkt zu dem was ich gerade mache, bzw. empfinde. Lust zum wandern. Eine Kunstgalerie mit interessanten Projekten. Preise gehen hier in die Tausende. Ok. Ost-Mark, aber trotzdem unerschwinglich für mich. Bei meinem Glück wird Petra nicht aufzufinden sein, nicht mehr dort arbeiten, oder sie wohnt weit, weit draußen. Ich frage noch einen Vopo. Auch er erklärt mir sehr freundlich den Weg. Ist der auch früher so freundlich gewesen? Es ist nicht weit vom Alex. Der Palast der Republik mit seiner goldfarbenen Fensterfront kommt in Sicht. Ein Schandfleck, ich weiß nicht, ob ich den Kasten nun gut finden soll oder nicht. Er paßt nicht unbedingt in seine historische Nachbarschaft. Gegenüber führt ein großer Platz zur Museumsinsel. Wer von weit her kommt, der fragt zuerst nach der Sehenswürdigkeit Nr.1 in Berlin: Dem Pergamon-Altar. Und der liegt ausgerechnet in Ost-Berlin. Zur Zeit dürfte aber noch die Mauer dieses Prädikat für sich in Anspruch nehmen dürfen, die Sehenswürdigkeit Nr. 1 zu sein. Einen Museumsbesuch habe ich heute nicht vorgesehen. Ich schaue mir statt dessen die Museumsinsel von außen an und bin auch so schon beeindruckt. Es wirkt alles sehr weltoffen, und dazu kommt diese unwiderstehliche Atmosphäre des alten Berlins. Majestätisch steht der barocke Dom gegenüber. Ich bin erschlagen von diesen wunderschönen ziselierten Figuren. Dieser ganze großprotzige Eindruck ist nicht DDR-typisch. Die Mahnwache - erinnert mich ein bißchen an London. Wirkt hier etwas uncool, erinnert nämlich irgendwie auch an die NS-Zeit. Meinen Argusaugen soll nichts entgehen, nehme ich mir vor. Jede neue Entdeckung, jede neue Begebenheit wird von mir in Augenschein genommen. Ich kann einfach nicht genug einfangen. Schon lange nicht mehr sind meine Sinne so überreizt gewesen. Überall habe ich meine Augen, denn alles ist neu für mich. Ostberliner würden jetzt bestimmt denken, aus welchem Loch ist der denn gegrabbelt? Echt verrückt, so unbekümmert kann man heute hier entlang spazieren. Wer hätte das noch vor einem halben Jahr gedacht. Dieser Satz wirkt auch schon etwas ausgelutscht. Aber trotzdem kommt mir der immer wieder mal. Da ist das berühmte Palasthotel, und hier soll doch das Gastmahl auch irgendwo sein. Ist wieder typisch, selbst das Hotel sieht nicht wie ein Hotel aus, steht nur Hotel drauf. Und dieses Meeresdingsda übersehe ich dementsprechend genauso. Ich frage also noch einmal, und dabei stehe ich direkt davor. Sieht nach nichts aus von außen. So'n komisches Wandmuster aus handflächengroßen und verschiedenfarbigen Glasmosaiken, die den Berufszweig Fischerei mit Seegetieren und Schiffen darzustellen versuchen. Kurios auch die Marienkirche nebenan. Eine alte Kirche zwischen all diesen Neubauten. Ich habe das Restaurant recht früh erreicht, es ist gerade kurz vor zehn. Doch erst ab elf Uhr ist hier Einlaß. Hmmm, na gut, ich bummel also noch ein bißchen rum und stelle mir vor, wie ich plötzlich vor Cathrin stehe. Doll war's ja nicht mit uns in Bulgarien. Komische Nudel dachte ich damals. Ich hatte nicht den besten Eindruck von ihr. Kettenraucherin sowieso. Was heißt hier sowieso, Redewendung eben. Ich stehe nicht so auf Zwangraucherinnen. Undankbar war sie auch, na ja, waren sie alle irgendwie, genau wie die Leipzigerinnen. Alles so selbstverständlich in Anspruch genommen, aber von ihnen kam nichts. Bahnhof Alexanderplatz, und meine Erinnerungen schweifen zu dem Film „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin, mit einem fantastischen Günter Lamprecht in der Hauptrolle. Von Lamprecht habe ich mal ein tolles Foto gemacht, welches er mir später auch signiert hat. Komisch, da haben die einen Film über Berlin gedreht, welches sich zu diesem Zeitpunkt im Ostsektor befand. Klar, das Buch ist über sechzig Jahre alt. Der Alex macht heute nicht wirklich viel her. Die vielen jungen Leute sind hier echt im 70er-Jahre-Stil hängen geblieben. Doch der Platz wirkt trotzdem wie ausradiert, eine einzige Betonoase. Ich versuche krampfhaft das alte Berlin hier unterzubringen. Der alte Bahnhof steht noch wie eine Urgewalt. Als erste deutsche Stadt erhielt Berlin 1902 eine U-Bahn. Zwanzig Pfennige für eine Fahrkarte, genausoviel wie die Benutzung der Toiletten. Verrückte Welt. Der Fernsehturm ist zwar schön hoch, aber die Menschenschlange davor? Schlangen gehe ich immer gerne aus dem Weg. Muß diesen gleistlosen Schwachsinn einfach los werden weil er mir einfach so einfällt: Echte Schlangen finde ich faszinierend, könnte mich stundenlang mit diesen possierlichen Tierchen beschäftigen. Ich versuche mir permanent vorzustellen, wie es wohl gewesen ist, hier zu leben. Hier in Ost-Berlin wird schon einiges mehr geboten. Hat sich hier seit dem Mauerfall überhaupt etwas verändert? Liefen hier vielleicht schon vor dem Mauerfall so viele Touris herum? Alles geht weiter seinen Trott. So allmählich könnte ich mal 'ne Biege zurück zum „Mahl des Meeres“ machen. Ach nee, „Gastmahl des Meeres“ natürlich. Manchmal sinne ich aus langer Weile über neue Wortschöpfungen. Auf einer Ente las ich mal "I fly Bleifrei". So ein Kauderwelsch aus Englisch und Deutsch hört sich dann auf einmal wie chinesisch an: "Ei flei bleiflei". Endlich ist dieses Mistding auf. Wieder so eine blöde Schlange davor. In einem langen Flur stehen sie alle. Ich wollte vielleicht sogar etwas essen, aber nee danke. Das ist nun schön blöd. Ich muß irgendwie in's Restaurant ohne da jetzt anzustehen. Das ist schon echt uri hier, die haben hier wie im Theater so ne Garderobenabteilung mit Empfangsdame. Diese Kleiderdame werde ich mal fragen. Ich zeige ihr das Foto, vorsichtshalber in der Mitte geknickt, und sie tönt gleich, "... das ist die Petra ...", Petra wer?, habe ich nicht verstanden. Ich bin begeistert, kann ja nur noch besser werden. Den Oberkellner soll ich fragen. Die Schlange schaut schon, aber ich bleibe cool, das muß ich nun durchziehen. Der Oberkellner: "Petra ist im Urlaub." Scheiße, denke ich. Adresse? „Ist gerade umgezogen“. So ein Mist, nun ist mir alles egal, ich muß es wissen. Eigentlich geht es ruhig zu im Laden trotzdem wirken alle gestreßt. Viele Worte braucht man über diesen Schuppen nicht zu verlieren. Es wirkt optisch nicht wirklich einladend, mehr wie so eine schlichte Firmenkantine. Und von diesen Fischläden soll es in jeder größeren Stadt eines geben, na ja. Das Plazieren in Lokalen besteht darin, daß nach 20minütigem Warten eine Person erscheint, die einen wie einen Bittsteller oder einen hergelaufenen Penner gründlich von oben bis unten mustert. Dieses gastronomische Affentheater muß man auch über sich ergehen lassen wenn man der einzige Gast im Restaurant ist. Aber womöglich ist das Essen hier was Besonderes. Werde ich leider nicht in Erfahrung bringen. Jedenfalls habe ich keine große Lust auf Schlangestehen während draußen so viel zu erleben ist. Eine Freundin von ihr, eine herbeigerufene Kellnerin, weiß weiter. Sie will jemanden fragen. Etwas dusselig stehe ich da nun im Türrahmen mit diesem blöden Foto von der nackten Petra in der Hand. Im Ganzen konnte ich keinem das Foto zeigen. Die Freundin kommt zurückgeschossen, wirft mir den Straßennamen zu. Schamhofstraße Nr. 5 also. Ich stecke ihr schnell das Foto zu, versehen mit einigen paar Worten und meiner Adresse hinten drauf. Vielleicht verpasse ich Petra ja. "Steck bloß schnell weg", sage ich noch mit einem Schmunzeln und bedanke mich. Puh, endlich raus hier. Wie aber zur Schamhofstraße kommen? Schnell noch mal rein und die Kleiderdame fragen. Buslinie 57 geht zur Schamhofstraße habe ich verstanden. Super, also komme ich auch noch mal dazu mit einem echten Ostberliner-Bus zu fahren. Auch nur zwanzig Pfennige. Hatte ich nicht, macht nichts. Auch Schwarzfahren muß ich mal erleben. Meine Buslinie ist also die 57. Bis Endstation soll ich fahren, hoffentlich habe ich die richtige Richtung erwischt. Petra Nass habe ich verstanden. Ein Depp, den ich frage, läßt mich zwei Stationen zu früh aussteigen. Jetzt hänge ich in der Chausseestraße. Egal, ich sehe das alte Berlin, und das entschädigt schon ein bißchen. Ich frage weitere Passanten nach der Schamhofstraße. Bin also in der richtigen Richtung. Emsige, kleine Geschäfte, kleine Buchläden, eine graue Apotheke, Elektroartikelladen, Fotogeschäfte, Spielzeugläden, Tabakläden. Eine ganz eigene Welt um mich herum, für die mir die Vorstellungskraft gefehlt hätte. Ich tippel einfach kreuz und quer die Straße entlang. Bin plötzlich beim Grenzübergang „Invalidenstraße“. Hier stehen sich zwei große Gebäude Aug in Aug gegenüber. Auf der Ostseite, was früher die Militärakademie war, dann das Justizministerium und jetzt das Krankenhaus ist. Eine zeitlang war das auch ein Diplomatenkrankenhaus. Oberste Justizbehörde nach dem Krieg. Hier haben die berühmten und spektakulären, politischen Schauprozesse in den 50er Jahren stattgefunden, und hier sind die ganzen absurden Grenzfluchturteile gefällt worden. Maßgeblich dafür verantwortlich war die als Rote Hilde bekannt gewordene damalige Justizministerin Hilde Benjamin unter Walter Ulbricht. Irgendwie beklemmend hier zu stehen und zu wissen, daß hier einer nach dem anderen zum Tode verurteilt wurde. Da ist der Grenzübergang Invalidenstraße für Pkw's. Der war schon immer da. Der Hamburger Bahnhof auf der Westseite ist erhalten geblieben. Als erster Kopfbahnhof Berlins, gebaut Mitte des 19.Jahrhunderts, ist diese Kathedrale der Eisenbahngeschichte eine echte Augenweide. Oben auf dem Kupferturm standen die Russen drin, weil sie wohl das sowjetische Denkmal in ??? sehen wollten, wie hier gerne gescherzt wurde. Die Invalidenstraße gehe ich wieder in östliche Richtung, weit kann es nicht mehr sein. Durch den kleinen Park soll ich gehen und da ist dann auch schon meine Straße. Scharnhorststraße? Kann ich nicht mal richtig zuhören, oder kann ich nicht berlinern? Mehrmals fragte ich Passanten nach der Schamhofstraße und jeder wußte welche Straße ich meinte. Witziges Ostberlin. In Hamburgs Innenstadt wüßte ich nicht mal den Namen einer Querstraße. Scharnhorststraße Nr. 5 soll es sein, und wie könnte es anders sein, ich bin natürlich genau am anderen Ende der Straße. Hier reiht sich ein Trabi hinter dem anderen wie eine Perlenkette am Straßenrand ein. Und eine Poliklinik neben der anderen. Viele kleine Betonburgen, die aber schon älter sind. Links von mir ist ein Friedhof. Ich schaue durch das Tor, schaue genau auf die Mauer, gerade mal 100 m von mir entfernt. Bin verwundert, daß hier die Mauer direkt am Friedhof entlang läuft. Ein alter Friedhof. Keine neuen Gräber kann ich entdecken, dafür Grabsteine aus dem 19. Jahrhundert. Eingebrochene Grabplatten. Der ganze Friedhof ist verwildert. Das hier ist also der Invalidenfriedhof. Während des Mauerbaus wurde ein Teil des Begräbnisfeldes speziell für die Wachtürme und Schießanlagen zerstört. Wahrscheinlich war der Friedhof gar nicht zugänglich all die Jahre. Er ist teilweise sogar von der Mauer getrennt worden. Doch selbst auf dem Gebiet des Todesstreifens finden sich alte Grabsteinreste. Ich kann bis zur Mauer gehen. Hinter dem Grenzstreifen fließt schon die Spree. Die Mauer ist hier nicht so gewaltig, ich kann aber einen Wachturm erspähen, von dem man sicher alles gut im Augenschein hat. Als ich auf dem Turm mitten auf dem Todesstreifen stehe sehe ich das ganze Ausmaß des Wahnsinns. Als ich mich auf die Wohnhäuser hinter meinem Rücken konzentriere beschleicht mich so eine perfide Vorstellung, nämlich direkt hier an der Grenze zu wohnen und rüber schauen zu können. Doch ich kann mich einfach nicht hinein fühlen in diese Situation, verdammt. Wie hat jemand in einer solchen Lebenssituation darüber gedacht. Wird man frustriert und depressiv? Wird einem alles egal? Oder muß man einfach nur vom System überzeugt sein. Unbeschreiblich, wie gewaltig das von hier oben ausschaut. Die hatten den totalen Überblick von hier oben gehabt. Komplett die Spree im Visier. Das soll hier also als kapitalistischer Schutzwall gegolten haben. Da die Spree als S-Schleife verläuft, steht der Turm fast parallel zum Reichstagsgebäude. Was für Geschichten stoßen hier aufeinander. Gegensätze, bisher von der Mauer all die Jahre schön getrennt gewesen, stoßen nun zwangsläufig brutal aufeinander. Auf der einen Seite alles harmonisch, gepflegt und sauber, hier ein Chaos, dem Zusammenbruch preisgegeben. Na ja, ich muß schon etwas differzieren. Der Stadtkern Ostberlins ist schon vorbildlich, aber gleich nach den ersten Metern in Seitenstraßen hinein zerfällt dieser gute Eindruck in’s komplette Gegenteil.

Auf dem Todesstreifen steht eine Aufschrift:

Es ist so bequem, unmündig zu sein.

Habe ich ein Buch, daß für mich Verstand hat,

einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat,

einen Arzt, der für mich Diät beurteilt,

usw.

so brauche ich mich ja nicht selber zu bemühen.

Das ist ein Extrakt von Immanuel Kant - Text über Aufklärung (1724-1804): "...Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab. Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit ..."

Man muß schon über den tieferen Sinn nachdenken, um sich vorstellen zu können was in dem Schreiber vorgegangen ist als er diesen Text an die Mauer schrieb. Ich gehe wieder zurück zu meiner Scharnhorststraße, und stehe direkt vor Haus-Nr. 6-7. Hier befindet sich die Deutsche Post mit ihrer Betriebsschule der Bezirksdirektion Berlin, die namentlich „N. D. Psurzew“ gewidmet ist. Warum auch immer sie den Namen dieses greisen Minister der damaligen UdSSR an diese Postdirektion vergaben, wenigstens ist Nikolaj Psurzew passender Weise Postminister (Minister des Post- und Fernmeldewesens) der Sowjetunion gewesen. Gut 30 Jahre lang, bis zu seinem 75.Lebensjahr hatte er den Posten inne, 5 Jahre später, 1980, ist er mit 80 Jahren gestorben. Warum schreibe ich das eigentlich. Vielleicht interessiert das einen ja wirklich – irgendwann mal. Ich komme nun an den Hauszeilen vorbei, die hier am Invalidenfriedhof anschließen. Und lese wieder so ein Schmarrn von Honecker:

Alles für das Wohl des Menschen, das Glück des Volkes

für die Interessen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen

Da sind die Häuser, die direkt zur Mauer stehen und sie sind tatsächlich bewohnt. Die müssen doch tatsächlich in den Westen schauen können. Was muß das für ein Gefühl gewesen sein, und wieder kommt dieses schaurige Gefühl in mir hoch, welches mich schon eben auf dem Turm überkam. Das ist schon beklemmend nur darüber nachzudenken. Aus dem Heckfenster eines Trabis winkt mir ein Kind zu, auf der anderen Straßenseite laufen zwei Frauen mit einer Vorschulkindergruppe. Die Kinder, denke ich, werden aufwachsen wie wir. Von der DDR werden sie später nichts mehr erzählen können. Ein schöner Anblick, ich erinnere mich noch, wie ich damals in Hamburg-Osdorf in die Grundschule ging. Wir machten auch eine Menge Ausflüge, zum Beispiel in die Harburger Berge oder in die Haseldorfer Marsch. Das waren noch so unbekümmerte Zeiten. Wie schwierig wird doch alles im Alter. Während ich so in Gedanken bin, nehme ich aber trotzdem dieses grau in grau um mich herum wahr. Kinder, die hier auf gewachsen sind kennen nichts anderes. Die mattfarbenen Trabis und die bunten Kinderjacken bringen einen unbedeutenden Kontrast in dieses Alltagsbild. Ah, ich erreiche die Nr. 5. Häh, eine Wäscherei, eigenartig. Da sind ein paar Baracken. Da soll sie wohnen? Ich stehe vor ihrer Toreinfahrt. Mir grummelt der Magen, nicht vor Hunger sondern vor Aufregung. Ich werde die Männer da mal fragen, die gerade von ihrer Pause aufbrechen wollen. Wieso schauen die mich mit so einem verbissenen Gesicht an? Lachen ist nicht. Auf meine Frage kommt prompt berlinerisch "hier wohnt keener". Kopfschütteln als zusätzliche Aussage schlurfen sie retour zu ihrer Arbeit. Kann nicht wahr sein, denke ich. So ein verdammter Mist. Alles Mögliche schießt mir durch den Kopf, vielleicht doch Schamhofstraße, vielleicht nur falsche Richtung? Gleich daneben sind allerdings einige Wohnblocks. Im Anschluß darauf diese schon genannte Ausbildungsstätte der Post. Alles hier ist ein total heruntergekommenes Wohnviertel. Altbau mit Toreinfahrt, d.h., die Toreinfahrt ist ein Durchbruch. Darüber sind ebenfalls Wohnungen. Auch an der Straße sind Eingänge, Namensschilder sind kaum zu entziffern, den Namen Nass kann ich jedenfalls nicht erlesen. Hoffentlich habe ich den Namen wenigstens korrekt verstanden. Vorsichtig taste ich mich durch die winzige Toreinfahrt in das Wohn-Paradies, als könnte mir etwas auf den Schädel krachen. Sieht ja wüst hier aus, ein Modellbahnfreund


würde Freudentänze aufführen bei diesem Anblick, Arbeiterquartiere der 50er Jahre lassen grüßen. Mein Gott, das ist ja kaum zu fassen, wie die Zeit hier stehen geblieben ist. Ich bin im ersten Hof, der zu drei Seiten mit fünfstöckigem Altbau zugebaut ist. Zur Wäscherei steht eine mannshohe Mauer. Beeindruckt von meiner neuen Umgebung, vergesse ich für einen Momente mein eigentliches Vorhaben. Abgedreht, ich bin hier in einem DDR Freilichtmuseum. In den sechziger Jahren haben wir im Alten Teichweg gewohnt. Erinnert mich auch hier ein bißchen an die Arbeiterwohnungen in Barmbek. Alles ist hier mit einer Patina überzogen, die Briefkästen, die Klingelknöpfe, Schrott aus Metall liegt überall verteilt herum. Wohnt hier vielleicht tatsächlich keiner mehr? Und sie soll ja angeblich gerade hier her gezogen sein. In diese abbruchreifen Häuser? Aber würde sonst hier frisch gewaschene Wäsche im Staub hängen? Wohl nicht. Die Stufen zu den verschiedenen Hauseingängen sind in sich zusammengefallen, entweder nach vorne, nach hinten, oder sie sind seitlich abgesenkt. 1969 bin ich mal mit meiner Oma nach Leipzig gefahren. In dem Haus, in dem wir wohnten, gab es im ganzen Haus nur ein Klo. Ob das hier genauso ist? Hier ist doch seit Jahrzehnten nichts verändert worden, über die Jahre hinweg alles verwittert. Alte Hausschilder versuchen sich durchs Tageslicht zu brechen. An den Fensterrahmen das blanke Holz, hier und da noch etwas Farbkruste. Keine geputzte Scheibe, die ich auf Anhieb entdecke, dafür hängt aber überall Wäsche aus den Fenstern. Hier wohnen wirklich Menschen. Alles wirkt hier wie nach einem Bombenangriff, total unwirklich, hat aber auch seinen Reiz.


Ich versuche mir vorzustellen wie es wohl ist hier zu leben. Fünf Stockwerke geht’s hoch. Ebenfalls eingekesselt stehe ich nun im zweiten Hof und schaue ungläubig dem bißchen Tageslicht entgegen welches sich die Mühe macht der ganzen Szenerie einen heimeligen Touch einzuhauchen. Hier bin ich ein Fremder, ein Eindringling, alle bestaunen mich ungläubig. Geradezu ist ein Garagentor geöffnet. Die Garage ist in die Hauswand eingebaut, es geht da leicht abwärts hinein. Dort bastelt einer an seiner MZ, den werde ich mal fragen. Man, ich hätte auch ne Kuh auf der Weide fragen können, denn außer einem völlig beschränkten Blick erfahre ich nichts von ihm. Er winkt ab als würde er vor etwas resignieren. Die Leute wirken hier so, als habe man hier einen Bereich für Bekloppte eingerichtet. Schauen hier alle so behämmert?


Vielleicht sind das die ganz normalen Menschen, die hier in Ostberlin ihr bescheidenes Dasein unbemerkt von der Öffentlichkeit meistern. In der DDR war der Tauschhandel fast lukrativer, denn für Geld gabs kaum etwas zu kaufen. Vielleicht hat der Typ gerade irgendetwas gegen Motorenteile getauscht und war nun völlig selig. Da muß doch so ein blöder Wessi auftauchen und ihn aus diesem Flash reißen. Ich erforsche meinen Weg weiter zu einem Hausflur wo kein Lichtquelle anzuknipsen ist. Trotzdem versuche ich die Namen auf den Briefkästen zu entziffern.


Vergebens. In allen Innenhofeingängen dasselbe Trauerspiel, das Treppenhauslicht funktioniert nicht. Ich komme mir vor als mache ich etwas Verbotenes. Ich schaue jetzt einfach mal in jedes Treppenhaus hinein. Die Klingeln funktionieren scheinbar auch nicht, oder es ist keiner da. Ich kapituliere endgültig. Ich gehe zurück zur Straße schaue mich aber noch einmal um. Wäre ich in die andere Richtung, durch ein weiteres Durchfahrtstor durch gegangen, wäre ich zum Stadion der Weltjugend gekommen. Was für ein Name, "Stadion der Weltjugend“. Viel Stadion, aber wenig Welt. Ich hole tief Luft. Und wenn die Straße nun doch richtig ist, und sie wohnt hier irgendwo? Ich frage eine Verkäuferin, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Gemüsestand aufbaut. Was soll ich überhaupt fragen. "Nur da drüben sind normale Wohnhäuser", erzählt sie mir, da bin ich ja eben gewesen. Was mir in der kurzen Zeit in der DDR aufgefallen ist, die Einwohner kennen die ungewöhnlichsten Örtlichkeiten, man kann sie nach Straßennamen am Rande der Stadt fragen. Aber innerhalb einer Straße, oder eines Wohnblocks, weiß mit einem Mal keiner mehr etwas. Alles nur Zufall? Eine zufriedenstellende Antwort erhalte ich jedenfalls nicht. Noch einmal mache ich einen Schlenker in Richtung Toreinfahrt. Den ganzen Tag wollte ich mit der Suche nach Petra nicht verbringen. Ich bleibe etwas nachdenklich stehen und überlege. Noch mal versuchen? Ich gehe also noch einmal in den zweiten Innenhof, schaue noch einmal in den hintersten Eingang des Hofes und in das Dunkel des Treppenhauses. Eine junge Bewohnerin schließt gerade ihren Briefkasten auf. Meine letzte Tat, sage ich zu mir und frage sie ebenfalls nach Petra Nass. "Ja, die wohnt hier", und schaut mich nicht wie ein Gespenst an, sondern ist mir gleich sehr sympathisch. Tatsächlich, jetzt erst lese ich Petra Lass. Mir bleibt fast das Herz stehen, sie wohnt tatsächlich hier. Es ist nicht zu fassen. Welche Eingebung hat mich ausgerechnet noch mal zu diesem Eingang geführt. Eine Woche wohnt Petra erst hier, klar, daß sie hier keiner kennt. Außerdem ist sie gerade erst vor ein paar Minuten aus der Wohnung raus. Ich zieh mir gleich einen Scheitel, das kann doch einfach nicht wahr sein. Glück im Unglück. Ich sage etwas von neunzehn Uhr heute Abend. Sie will es ausrichten. In die Sauna will sie jetzt. Höre ich richtig, „in die Sauna?“ frage ich völlig überrascht. "Gibt es so was auch bei Euch?". Für diese diskriminierende Frage müßte man mich eigentlich schlagen. Sie bemerkt mein verdattertes Gesicht und muß lachen. Wir trennen uns auf der Straße. Sie also zur Sauna. Eigentlich schade, hätte jetzt mit Gesellschaft gut leben können.


Denen geht es hier wohl zu gut, sinniere ich mal wieder etwas überheblich. Ich wundere mich beinahe über mich selbst, daß ich eine Sauna in der DDR nicht für möglich gehalten habe. Wie da wohl die Stasi abgehört und beobachtet hat? Die scheinen hier echt einen 7. Sinn für Namensverwechslungen zu haben, fällt mir gerade Petras Mitbewohnerin wieder ein. Ich frage nach Schamhoffstraße und jeder weiß bescheid, ich frage nach Petra Nass und ihre Nachbarin weiß auch sofort wen ich meine. Ich hau nochmals den Rückwärtsgang rein, vorsichtshalber mache ich noch einen Zettel an Petras Tür. Von der Scharnhorststraße zu Petras Hauseingang sind es zwei Unterführungen, denn sie wohnt am anderen Ende. Dort wo dann die 3. Toreinfahrt zu dem besagten Weltfußballstadion führt, oder was auch immer das da war. Petra wohnt im 3.Stock. An den Treppenhauswänden blättert die Farbe ab, und legt sich auf die knatschenden Holzstufen der Treppe, vermodert riecht es hier. Hier gibt scheinbar keine Aufteilungslisten, wer wann das Treppenhaus zu putzen hat. Ich bin im 3.Stock, Petras Klingel ist auch im Eimer. Werde ich heute Abend klopfen müssen. Die Nachricht muß sein, immerhin riskiere ich heute Abend noch einen Trip in diesen Uraltbunker. Beswingt bewege ich mich wieder der City zu. Alles, was mir vorhin bei meiner Busfahrt vorbeihuschte liegt jetzt vor mir und ich kann mit meinen erstaunten Augen alles in Richtung Innenstadt begutachten. Ich ertappe mich immer bei den gleichen Worten, kann meine Freude über dieses lebendige Schauspiel vor mir auf den Straßen kaum bändigen. Wie konnte sich das alles nur so erhalten? Ich schaue auf Bordsteinkanten, auf alles, nur um alles im Gedächtnis für die Ewigkeit einzufrieren. Viele kleine urige Buchläden, Tabakläden mit den wichtigsten, aber einfachen Utensilien, die ein Raucher benötigt. Elektroartikel in einem Schaufenster, alles wie in einem Diorama-Set einer Modelleisenbahn aus vergangenen Zeiten. Ein Fotoladen, Spielzeuge in einer Auslage, die seit 30 Jahren nie geändert wurde. Alles niedliche Geschäftchen. Ich bewege mich nicht zurück in die Zukunft, sondern vorwärts in die Vergangenheit. Würde das doch nie zu Ende gehen. Allerdings, dieses Treibstoffgemisch der Zweitakter macht mir doch ziemlich zu schaffen. Schon abgedreht, da träumt man zu Hause von der guten alten Zeit und hier erblüht sie direkt vor meinen Augen. Wie verblendet sehe ich nur die schönen Seiten, dabei war es damals bestimmt genausowenig ein Zuckerschlecken. Ich habe früher sehr gerne Charles Dickens gelesen, er hat die sozial Schwächsten der viktorianischen Epoche in England trivial aber sehr einfühlsam dargestellt. „The Old Curiosity Shop - Der Antiquitätenladen“ war eines meiner liebsten Bücher. Ich kann hinschauen wohin ich will, hier finde ich genau die Kulisse für so einen Film.


Die Luft ist dick, ich kann keine hundert Meter schauen. An den Mietshäusern sind die Fassaden so angegriffen, große Flächen vom Putz sind freigelegt, daß selbst die dahinterliegenden roten Backsteine sich lösen. Ich schaffe es über die Tucholskystraße bis zu Schönhauser Allee. Ich erblicke aber auch viele, teils wunderschöne Altbaufassaden. Verrenke mir fast den Hals beim Hochschauen dieser historischen Gemäuer. Völlig der Welt und der Zeit entrückt bin ich plötzlich in der berühmten Schönhauser Allee gelandet. Wie habe ich mich nur hier hin verirrt? Hier wirkt alles verschlafen. Was mögen sich für Lebensgeschichten hinter den grauen Fassaden dieser Altbauwohnungen abgespielt haben in den letzten Jahrzehnten? Einige Menschen leben hier vielleicht seit dem 2.Weltkrieg. Die letzten 40Jahre sind hier einfach vorüber gegangen. Ich kann mir vorstellen, daß hier 40 Jahre ein Dornröschenschlaf stattgefunden hat. Hier ist alles so geblieben, nichts hat sich verändert. Ob hier einer nach dem tieferen Sinn seines Leben gefragt hat, oder einfach nur sein Leben gelebt hat? Und dabei sind es genau so Menschen wie ich. Das ist Berliner Leben, wie es wohl ehrlicher nicht sein kann. Traumhafte Hinterhofmilieus in diesem alten Berlin meiner momentanen Zeitreise. Für Filme wie Tadelöser & Wolff könnte das Straßen- und Hinterhofmilieu hier hergehalten haben. U-Bahn steht für Untergrundbahn, die fährt hier aber oben während die S-Bahn unter der Straße entlang donnert. Hier geht wohl alles drunter und drüber. Aber das kenne ich ja auch von den Landungsbrücken in Hamburg nicht anders. Die Schönhauser mieft noch richtig den alten Charme, den ich einfach liebe. Früher konnte man hier wohl „schön hausen“, zumal eine Allee ja auch immer etwas hochwertigere Wohnkultur assoziiert. Es ist aber laut und schmutzig. Mehr oder weniger vom Ruß und Qualm der 2-Takter verdreckt. Ich schweife mit meinen Gedanken zu dem stimmungsvollen alten Berliner Milieu Otto Nagels, einer Sehnsucht nach dem bunten, aber bitterarmen Volksleben dieser Zeit. Wechselnde Anstriche, abbröckelnder Putz, alte Leuchtschriften und Plakate bepflastern das urige Szenario. Hausflure, die ich betrete, erforsche ich wie bei einer Höhlenwanderung. Auf jeder Etage ein Gemeinschaftsklo, also immer der Nase nach. Düstere Mietskasernen, so wirkt es von außen. Innen sind es vielleicht wunderschöne, große Kaufmannswohnungen mit hohen Stuckdecken. Mein Gott, jetzt habe ich aber auch richtig Hunger bekommen. Ich genehmige mir eine Wurst aus einer Wurstbude. Das ist ein Fehler, mir wird plötzlich kotz-übel. Zusammen mit dem Gestank der Zweitakter scheint das eine unheilvolle Mischung zu ergeben. Jede Hofeinfahrt, jede offene Haustür nutze ich zur Flucht von der Straßenverschmutzung hoffe auf einigermaßen frische Luft in diesen Häuserfluchten und überbrücke so meine Übelkeitsphasen. Doch das reicht nicht, ich brauche dringend frische Luft. Zwei hübsche Blondinen frage ich nach Grünflächen. Bescheuerte Anmache, denken die bestimmt. "Hier gibts nur Beton", ist ihre knappe Antwort und lächeln mich dabei verschmitzt an. Neben all dem Beton gibt es glücklicherweise noch ein paar menschliche Wesen, denke ich. Ich schaue mich in Richtung Alex und Fernsehturm noch ein wenig nach Flächen abseits der Straßen um. Am liebsten würde ich hier noch länger verweilen. Aber meine Atmung versagt und mit meiner Übelkeit ist es auch nicht zum Besten bestellt. Möchte jetzt nicht unbedingt auf offener Straße Kotzen müssen. Endlich am Alex angekommen kann ich endlich wieder etwas tiefer durchatmen. Was soll ich zu der Berliner Luft sagen. Mir fällt sogleich nur dieses eine Lied dazu ein:

Das ist die Berliner Luft Luft Luft,?

so mit ihrem holden Duft Duft Duft,

wo nur selten was verpufft pufft pufft ...“

Das muß noch zu Zeiten vor der Motorisierung geschrieben worden sein. Einen holden Duft stelle ich mir anders vor, als diesen Trabi-Gestank. Das spüre ich wohl als Hamburger ganz besonders. Bei uns treibt der Wind den blauen Dunst schnell von mir weg. Hier scheinen sie wirklich immun zu sein gegen diesen blauen Qualm. Hier am Alex bin erst mal weg von diesen Trabiwolken. Ich stand kurz vor einer Kotzattacke. Nun sitze ich hier und fühle mich gerade voll im Arsch. Und dann dieses Grau überall, davon wird mir gerade auch nicht besser. Schade, der Alex ist echt traurig anzuschauen. Hier ist Beton allgegenwärtig. Das MZG am Bahnhof Alexanderplatz heißt soviel wie Marathon-Zech-Garage und ist zum Abfüttern des Publikums gedacht. Danach ist mir aber jetzt nicht zumute. Zum Glück erhole mich doch recht schnell und weiter geht’s. Ohne Pause zieht es mich auf meiner Entdeckungstour weiter und zwar in Richtung des total neu renovierten Nikolaiviertels. Dabei komme ich auch an dem wirklich imposanten Backsteinrathaus vorbei, eine Klasse für sich. Das Nikolaiviertel sollte wohl ein bißchen auf Nostalgie getrimmt werden. Ist aber gefällig anzuschauen, das Nikolaiviertel am Nußbaum. Hier fließt auch wieder die Spree, die sich am Nikolaiviertel entlang schlängelt und hier so eine Trachtenoptik wie in Amsterdam vorgaukelt. Nein, das ist jetzt gemein, das sieht hier echt toll aus. Mittendrin die Nikolaikirche umringt von schönen Geschäften, Bars, Kneipen und Cafe's. Kleine schnuckelige Läden, das Nikolaicafe, Gewürzläden und andere. Eine alte Wasserpumpe steht da nicht nur zur Zierde. Gut 2 m hoch, sie funktioniert sogar. Das sieht wirklich toll aus, so etwas Schönes muß man auch bei uns erst einmal suchen. Gleichzeitig ist hier auch ein Wohnungsbaukomplex entstanden. Die Wohnungen dürften hier einen außergewöhnlichen Standard haben. Wer hier wohl wohnen durfte? In dieser privilegierten Wohngegend werden sicher auch nur Parteiangehörige wohnen. Paßt schon, das Regierungsviertel in der Kurstraße/Werderscher Markt ist ganz in der Nähe. Bin überwältigt von diesem Kontrastensemble. Wunderschön und liebevoll aufgebaut ist dieses Viertel. Die schönen Wohnhäuser sind nicht höher als drei Stockwerke. Über den Mühlendamm drüber lande ich an der Spree. Auch hinter der Spree ein wirklich ansprechendes Neubauviertel. Ostberlin hat schon seinen ganz eigenen Reiz. Auch der Innenstadtbereich, wenn er auch komplett im Kontrast zu meinem bisher gesehenen steht. Hier an der Spree sind einige Grünanlagen und Ruhezonen, die zum Verweilen einladen. Hier steht auch die Parteihochschule. Ich setzte mich kurz auf eine Bank. Endlich mal frische Luft schnappen. Bin auch immer wieder von den künstlerisch gestalteten Plakaten beeindruckt. Vor allem darüber beeindruckt, wie scheinbar Banales zu Heldentaten hochstilisiert wird. Beim Hochhausbau wird von Taten, Leistungen und Erreichtem gesprochen. Die Worte Macht, Bauern und Arbeiter dürfen dabei natürlich nicht fehlen. So soll ja auch der Berliner Tierpark unter eindrucksvollstem Einsatz der Einwohner der Hauptstadt, vom nationalen Aufbauwerk aufgerufen und entstanden sein. Bis zu 1000 Aufbauhelfer an manchen Tagen gleichzeitig. Aufbauhelfer sind all diejenigen, die auf der Suche nach einer Wohnung sind und dafür freiwillige Arbeitsstunden, bzw. Aufbaustunden wie es im DDR-Jargon hieß, ableisten mußten. Ich spreche hier in Vergangenheitsform, weil ich keine Ahnung habe ob das immer noch passiert. Ich beobachte ältere Herrschaften, die mit ihrem Hund oder auch alleine spazieren gehen. In der Leipziger Straße in Berlin wohnt die Prominenz fällt mir ein. Habe ich mal gelesen. Mein Orientierungssinn soll mich wieder zur Mauer bringen. Viel zu kurz habe ich am Brandenburger Tor verweilt. Entlang der großen Leipziger Straße streife ich die Einkaufszentren ab. Gerade rast eine Polizeisirene an mir vorbei, ich meine natürlich ein Polizeiauto. Aber diese Polizeisirene hier in der DDR finde ich absolut cool. Dagegen hören sich unser Tatütata wie beschissen klingendes Playmobil an. Also das hier ist absolut nicht DDR-typisch. Ich hätte kaum vermutet solch modern gestylte Geschäfte hier zu sehen, schon gar nicht nach all dem was mir bisher heute so ins Auge stach. Ein wenig kreuz und quer streife ich so noch weiter, immer in die Richtung, die mich wieder zu den Linden führt. Ein gewaltiges Bau-Areal namens „Passage Friedrichsstraße“ erscheint plötzlich vor mir, hier wird eine Kaufhalle mit 60 Läden, 12 Gaststätten, 82 Wohnungen entstehen. Sollte früher ein Exquisit-Kaufhaus werden. So schlecht geht’s denen hier aber nicht, entfleucht es mir wieder mal scherzhaft. Hauptgebäude der Humboldt-Universität „Unter den Linden“. In diesem Haus lehrte schon Max Planck von 1889-1928. Zurück in der Friedrichsstraße stehe ich plötzlich vor einem Antiquitätengeschäft, welches wundervolle Porzellanskulpturen aus Meißen präsentiert. Ich konnte mich schon immer für Meißner Porzellan begeistern, und kann mich auch jetzt nicht sattsehen. Diese Barockfiguren mit diesen feinen Farbanstrichen müssen einfach begeistern. Für die Rock- und Armbereiche wird echter Tüll verwendet, in flüssigem Porzellan getaucht und später ausgebrannt. Ich erfahre im Geschäft, daß es nur DDR-Bürgern vorbehalten ist, Kunstgegenstände zu erwerben und nur Dienstags und Donnerstags neue Stücke eingekauft werden. Mit dem ersten Punkt kann ich gut umgehen, denn das wäre ja mal etwas Neues wenn ausgerechnet DDR-Bürger bevorzugt werden. Frag mich nur wer diese DDR_Bürger sein sollen, die sich das hier leisten können. Mein Weg führt mich auf die Mohrenstraße. An einem U-Bahnschacht komme ich schon der Neugier wegen nicht vorbei, ohne einmal in die Station reinzuschauen. Eine Bahn in ihrem typisch weißroten Anstrich steht zum Abfahren bereit. Sieht ja wie bei uns aus. Ein bißchen dunkler alles. Was mich dabei am meisten wundert ist der Stationsname. Warum heißt die Station nicht Mohrenstraße? Die U-Bahnstation in der Mohrenstraße heißt nämlich „Otto-Grothewohl-Straße“, die gibt es aber, glaube ich zumindest überhaupt nicht. Es gibt auch eine Mauerstraße und die steht auch nicht an der Mauer könnte man mir jetzt spitzfindig entgegnen. Sehr bedeutungsschwangerer Straßenname, zumal die tatsächliche Mauer gerade mal, na ja, sagen wir zweihundert Meter entfernt ist. Also ab in die Mauerstraße. Die Mauerstraße ist mal eine literarische gewesen, in der haben schon Heinrich Kleist und Heinrich Heine gelebt. Das Ministerium für Inneres, welches ich für die Stasi-Zentrale hielt, weil es so ehrfurchtsvoll dreinschaut, liegt auch in dieser Straße. Überall Kameras, Spiegel und Antennen. Auch besondere Kennzeichen besitzen die meisten parkenden Autos. Aber das Gebäude ist gewaltig in seinen Ausmaßen, gewaltig grau vor allem. Ich habe Checkpoint-Charly noch von der Westseite in Erinnerung, schaue es mir kurz von Höhe der Mauerstraße an. Ich bin des Laufens etwas müde geworden, und will mich endlich mal ausruhen. Am Liebsten mitten auf dem Todesstreifen. Ich finde, der Todesstreifen sollte schon allein wegen der durch Schüsse Gestorbenen als Gedenkstätte erhalten bleiben. Ich stelle mir vor, der ist weg, und Häuser werden drauf gebaut. Allein der Gedanke erschreckt mich. So etwas muß einfach als Mahnmal erhalten bleiben. Andererseits, das Gegenargument könnte ich auch verstehen. Bloß alles schnell vergessen. Unter Umständen wird es wirklich mal eine Streitfrage. Vom westlichen Ende der Mohrenstraße trennt mich zum Todesstreifen auch eine riesige Baustelle auf der im Zeitlupentempo gearbeitet wird. Das sieht wirklich komisch aus, ich muß mir direkt wieder die Augen reiben, ob mich die Trabiwolken nicht tatsächlich ein bißchen benebelt haben oder ob die da so einen Wettbewerb veranstalten, wer sich zu schnell bewegt hat verloren. Wollen die überhaupt mal fertig werden? Ich staune wieder über diese imposante Breite des Todesstreifens auf dem einem das Seelenleben dieses ehemals so falschen Systems direkt zu Füssen liegt. Die Zeit vergeht aber ganz schön schnell, muß ich gerade bemerken. 17 Uhr haben wir's schon. Und zu regnen fängt es auch wieder an. Schon ganz schön dunkel. Aber was erwarte ich, es ist gerade mal Anfang Februar. Der Trubel am Brandenburger Tor hat mich wieder. Carl Gotthard Langhans schuf das Brandenburger Tor zwischen 1788-91. Es galt als Friedenstor. Wie oft doch von Frieden die Rede ist und immer wieder schaffen wir Menschen das Gegenteil davon. Ich brauche unbedingt ein Stück Mauer. Vielleicht kann ich eines abstauben. Gern hätte ich eins in Handflächengröße. Da wird dermaßen rumgekloppt, daß die Fetzen fliegen. Nicht ganz ungefährlich, so ein Splitter kann auch mal ins Auge gehen. Ich entscheide mich für ein paar kleinere Stücke, die ich bruchsicher in Taschentücher einrolle und in eine leere Plastikfilmdose verfrachte. Nach meiner Uhr ist es noch zu früh, also genieße ich den Anblick dieser Mauerspechte noch eine Zeitlang. Ist das nun clever oder einfallslos? Ich kann mich weder für ja noch für nein entscheiden. Wem schaden die schon. Ein paar Künstler bauen etwas Eigenartiges dazu auf dem Boden. Ich verstehe es nicht. Mir fehlt die Muße mich darauf zu konzentrieren. In einem Geschäft, nahe des Nikolaiviertels, bemerkte ich eine sehr hübsche Verkäuferin die mir sehr gefiel. Die werde ich noch mal aufsuchen, genügend Zeit habe ich ja.


Ich bin aber auch ganz schön müde geworden von meinem Rumgerenne stelle ich fest. Die Menschen sind alles Ostberliner, rede ich mir ständig ein. Eine andere Welt, ein anderes Leben, eine andere Erziehung, anderes Essen, andere Gedanken und Wünsche. Was haben sie gedacht, wenn sie am Brandenburger Tor in Richtung Westen schauten. Alles trennte die Mauer. Kann man sich wirklich daran gewöhnen nach drüben zu schauen? Was sind wohl die Sehnsüchte mancher Bewohner hier gewesen? Welchen Einfluß haben die Medien gehabt? Und was geht mir bloß alles so durch den Kopf?


Ich bin jetzt ein Ostberliner, stelle ich mir einfach so vor. Auf einmal fliegen da einfach so ein paar Tauben mir nichts dir nichts von der einen Seite auf die andere Seite. Mir kräuseln sich die Nackenhaare, weil mir jetzt schlagartig bewußt wird, was mir Menschen uns in so einem beschissen kurzen Leben antun. Mann, was für einen Scheiß, ich kann da jetzt nicht rüber weil so ein paar Schockschädel mir das verbieten. Und die Vögel fliegen einfach von Ost nach West. Bei dieser Beobachtung schlägt dieser Wahnsinn erst so richtig auf mich ein. Fällt mir jetzt gar nicht so schwer dieses Eingesperrtsein zu visualisieren. Du bist ein Depp, Junge, jetzt bist Du ja auch nur Urlauber und stellst dir alles rosarot, oder besser, als ein Abenteuer vor, aus dem du jederzeit wieder aufwachen kannst. Die jahrelange Realität der Menschen hier ist aber mit Sicherheit eine Mischung aus Hoffnungen und Resignation, Träumen und Enttäuschungen gewesen. Und was haben wir eigentlich über die da drüben gedacht. Wenn ich ehrlich bin, so richtig konkret sind meine Vorstellungen nicht, aber irgendwie habe wohl schon so was gedacht wie, daß die da drüben bestimmt etwas zurück gebliebener sind als wir. Viele Gedanken machte ich mir aber nicht, von wenigen Ausnahmen mal abgesehen. Und trotzdem hatten wir ein gutes Bild von denen da drüben, wie sich jetzt herausstellt, ein besseres als die von uns. "Kontraste" und "Kennzeichen D" haben großartige Arbeit geleistet. Endlich hat mein Gelatsche ein Ende. Meine süße Verkäuferin kann ich von draußen gut erkennen, aber der Laden füllt sich andauernd wieder mit Kunden. Wie soll ich sie da ansprechen. Außerdem, was soll ich abmachen wenn ich Petra nun zu Hause wirklich antreffe. Kurz vor halb sieben ist es jetzt, ich könnte noch etwas warten, bis sie den Laden schließt. Ob auch hier die Kasse gezählt werden muß. Es könnte im Grunde alles anders sein als bei uns. Keine Marktwirtschaft, keine Einbrüche, kann die Kohle doch einfach in der Kasse schmorren. Los Junge, mach dich auf, die Frauen laufen nicht weg, und neunzehn Uhr sollte ich schon in etwa schaffen. Vielleicht wartet sie sogar schon auf mich. Ich komme überhaupt nicht auf den Gedanken, daß Petra sich womöglich gar nicht mehr an mich erinnert. Wieder in den Bus, muß schon wieder schwarz fahren. Dieses mal aber bis zur Endhaltestelle. Ich stehe wieder vor der düsteren Toreinfahrt. Es ist Dunkel wie in der Nacht, es könnte gut 12 Uhr nachts sein, stolpere ich im Sinne des Wortes über die Höfe zu ihrem Hauseingang. Muß mich an das wenige Licht gewöhnen. Im Treppenhaus halte ich die Arme ausgestreckt, gegen eine Mauer rennen wollte ich nicht unbedingt. Zählen habe ich zum Glück noch nicht verlernt, so wußte ich dreimal im Kreise laufen, hier muß es sein. Ich klopfe, in weiser Erinnerung, daß die Klingel nicht geht. Den Knopf hätte ich sowieso nicht gefunden. Leichte Erregung beherrscht mich, was wird sie wohl denken? Verliebt fühle ich mich nicht. Die Tür wird nicht geöffnet. Hört sich nach Geräuschen an, hätte vermutet, daß sie drin ist. Also gehe ich einen Stock höher zu ihrer Freundin. Ist das möglich, die Klingel funktioniert. Sogleich wird mir geöffnet, und Petra und ich stehen uns gegenüber. Mit dem gleichen Resultat, daß es uns beiden die Sprache verschlägt. Aber nur für eine zehntel Sekunde. Da ich auf dem Zettel nichts von Bulgarien geschrieben habe, ist sie die ganze Zeit am Rätseln gewesen wer der mysteriöse Besucher sein könnte. Mit mir hätte sie tatsächlich nie gerechnet. An sich hätte sie auch nie mit mir rechnen können. Aber die Umstände haben sich nun mal geändert. Wir beide waren weniger erfreut als vielmehr überrascht. Ich muß sie immer wieder anschauen. Kein schönes, aber sehr interessantes Gesicht. Ich würde sagen, ein slawischer Einschlag. Eine eindrucksvolle Nase, schmales Gesicht und eine Mimik, welches an ein freches Grinsen erinnert. Dazu blonde Haare, die ihre sehr attraktive Erscheinung unterstreichen. Daß sie eine Traumfigur hat, wußte ich ja schon. Ihre sehr helle Hautfarbe kommt hier im Kunstlicht viel edler zum Ausdruck. Das ist mir bei ihr sicher aufgrund ihrer Sonnenbräune damals in Bulgarien nicht so aufgefallen. Ich wundere mich, welch eine Verwandlung stattgefunden hat. Wir verabschieden uns von ihrer Nachbarin und bewegen uns stolpernd in ihre Wohnung. Das Treppenhaus verdreckt und verschlampt, ihre Wohnung begrüßt mich dagegen mit einer freundlichen Möblierung. Das meiste sind ihre eigenen Sachen, die sie mitgebracht hat, auch das Bett. Viel Streß habe sie gehabt mit dem Umzug. Wirklich sehr geschmackvoll eingerichtet, wie die Mädchen auch bei uns. Ich könnte jetzt tatsächlich keinen Unterschied in Form von modern West und spießig Ost feststellen. Und genauso bei uns beklagt sie auch die Unordnung, die ich netterweise natürlich übersehe. Ein Kassettenradio reicht aus zum Aufwachen und Träumen. Frauen brauchen keine aufgemotzte Stereoanlage. Während unsere Überraschung langsam auftaut, ich ihre Wohnung sehr nett finde, obwohl sie selbst mit der Wohnung eher unzufrieden ist, kommen wir mit unserer Konversation so langsam in's Alltägliche. Ich berichte von meinen heutigen Erlebnissen und muß sie allerhand mir unbegreifliche Sachen fragen. Immer wieder die Fragen, die mir schon den ganzen Tag im Kopf rumzwitscherten. Ich stelle fest, daß sie der Wende nicht gerade außergewöhnliche Bedeutung beimißt. Ich merke auch schnell, daß sie Probleme hat, mit denen sie nicht fertig zu werden scheint, oder ihr zumindest einige Kopfzerbrechen bereiten. Sind es Liebesprobleme mit ihrem Fußballerfreund vom BFC Dynamo, einer vom Stasi geförderten Fußballmannschaft. Ihr Zigarettenkonsum ist ein Beweis für ihre innere Unruhe. Mit meiner Anwesenheit hat das weniger zu tun, das fühle ich sofort. Sie erzählt mir von ihrer Schwester, die in einem Westberliner Hotel untergekommen ist, und sie selbst hatte im Kempinski ein Angebot. Aber es gefiel ihr alles nicht, sie braucht ihre vertraute Umgebung. Was sie jetzt sagt, erstaunt mich, "die Grenze hätte ruhig zubleiben können, ich habe alles gehabt, sogar gut gelebt. Vieles ist schlechter geworden.“ Ihre Resignation ist nicht gespielt, sie erzählt mir von westdeutschen Gästen in ihrem Restaurant, die schnell mal rüber kommen und die große Klappe riskieren. Die Ruhe ist futsch, überall, so verändert sich vieles zum Nachteil. Meine Petra ist gerade mal zwanzig Jahre alt, spricht aber schon wie eine, die schon ihr halbes Leben im Gaststättengewerbe gearbeitet hat. Vier Jahre arbeitet sie in diesem Metier allerdings schon. Und da heißt es immer, die DDRler kennen das Wort „arbeiten“ nur vom Hörensagen. Und was wird ihnen jetzt geboten – selbstgefällige Wichtigtuer aus dem Westen. Selbst der Kleinste kann hier mal Held sein, für einen Tag. Erinnert mich an den Song von Bowie. Und viele der Rübergemachten schauen schnell mal mit Westwagen in die Disko rein. Ein wichtiges Gesicht machen und Westscheine zählen, das vergrault viele, verständlich. Es gibt natürlich auch Frauen, die lassen sich auch etwas vormachen. Diese Veränderungen macht ihr vielleicht Angst. Ich sehe das naturgemäß ziemlich entspannt. Aber wie minderwertig müssen sich die Ostbürger dabei vorkommen. Beide deutsch, beide haben sie gearbeitet, nur einer fragt sich jetzt wofür. Fühlen sie sich reingelegt oder verraten? Das kann ich schon nachfühlen. Diese Diskrepanz ist auch für mich nicht zu übersehen. Petra ist heute auch erst wieder nach Hause gekommen. Sie hat nämlich über's Wochenende bei ihren Eltern außerhalb von Berlin gewohnt. Zu essen hat sie nichts. Ihre Nachbarin bringt uns etwas zu trinken. Ist wirklich eine sehr aufmerksame und nette Person. Lebt mit ihrem unehelichen Kind alleine. Petra möchte irgendwo hingehen. Jetzt, wo ich mich einen Moment hingesetzt habe, bin ich richtig müde geworden. Aber ich gebe nach. Essen wollen wir gehen, eine Kleinigkeit zumindest, irgendwohin wo es gemütlich ist. Ich denke, sie wird schon wissen, wo wir hingehen können. Wir müssen wieder einmal mit dem Bus fahren, denn ein Auto besitzt sie nicht. „Warum hast Du kein Auto?“, frage ich sie, nicht ganz so ernst gemeint. „Wer hat hier schon eins. Und der Bus hält ja nun mal direkt vor meiner Haustür, oder fast davor“. Also los. Die Verkehrsvertriebe funktionieren hier genial zuverlässig. Länger als zehn Minuten wartet man hier nicht. Bei zwanzig Pfennigen, wie wird das bloß finanziert? Ich schätze mal, die drucken wahllos Geldscheine wie sie sie gerade brauchen. Ich weiß nicht wohin, aber sie macht das schon. Kann ich doch wohl erwarten, daß sie sich hier auskennt, oder? Verlegen schaut sie aus dem Busfenster, grinst mich wieder frech an. Ihr Lächeln gefällt mir, auch berlinert sie so wunderbar, daß es eine Wonne ist ihr zuzuhören. Sie glaubt jedesmal, wenn ich was Typisches wie "Icke" oder "wa" wiederhole, sie aufziehen will. Aber das ist nicht wahr. Ich bin nur begeistert von ihrer Aussprache. Das Berlinerische hört sich nicht so vulgär an wie andere Straßenslangs, eher niedlich. Das Berlinerische, dieses „icke“ mögen viele nicht gerne hören, ich aber liebe es. Petra berlinert mir da einen vor, zum dahin schmelzen. Det iss aber jemein - wirst Dir umgucken - und so einiges mehr! Zugegeben, ich muß sie ständig anstarren. Verärgert darüber versucht sie sich typisch frauenhaft aufzuregen. Richtig lachen kann sie scheinbar nicht. Sie schmunzelt vielmehr. Ich schaue immer in ihr faszinierendes aber auch sorgenvolles Gesicht. Sie tut mir leid und ich weiß eigentlich gar nicht warum. Was mag mit ihr nur sein? Friedrichsstraße, "laß uns aussteigen", ist alles, was sie ohne weitere Begründung sagt. Sie scheint zu wissen wohin sie will. Ich lasse alles geschehen ist es mir doch letztlich egal wohin es geht. Sie hat oder hatte wohl etwas mit einem Fußballspieler vom Berliner Fussball Club Dynamo e.V. Hatte ich in Bulgarien irgendwie, ohne mir viel Gedanken darüber zu machen, so nebenbei mit bekommen. Oder hat sie es mir direkt gesagt, ich weiß es gar nicht mehr genau. Da ich nur sie als einzige Ostberlinerin kenne kann ich eigentlich nicht viel über eine typische Ostberlinerin sagen. Doch insgeheim suchte ich wohl die typisch ostberlinerischen Lebensumstände und Geheimnisse dieser Stadt in ihr reflektiert zu sehen. Schräg gegenüber der Haltestelle ist ein Hotel, in das will sie. In's Metropol könnten wir doch auch. Es kommen nur Hotelgäste rein, teilt ein Boy uns freundlich aber bestimmt mit. Eine Widerrede ist unangebracht, aber ich kann mich wieder nicht beherrschen. "Was soll denn dieser Scheiß, warum ist das bei Euch so ein Mist?“, frage ich sie. Aber nicht aufbrausend, sondern eher in Gedanken vor mich her sprechend. Ich muß dabei denken, daß ich mich jetzt gerade auch wie ein Wessi benehme. Hier ist das für die meisten eben einfach so, kennen sie nicht anders, ist für sie in Fleisch und Blut übergegangen. Ohne eine Antwort abzuwarten gehen wir wieder. Ich könnte mich über diesen Mist jetzt zwar echt aufregen, und mache Anstalten ein bißchen gespielt durchzudrehen. In Petra's Beisein will ich mich aber beherrschen. Sie ärgert sich ganz anders. Resignation spiegelt sich in ihrem Gesicht, als sie sagt "siehst Du, so ist das bei uns." „Irgendwo müssen wir doch hingehen können um was zu essen und trinken, oder?“. Worauf sie "das ist nicht wie bei euch, wo man sich an einen freien Tisch setzt, hier mußt du vorbestellen". Ich frage mich gerade, wieso wir überhaupt losgegangen sind. Nicht mal eine Kneipe (?), murmelte ich leise fragend vor mich hin. Sie sieht hinreißend aus. Wie ein Engel, wenn nicht diese Nase wäre. Am schönsten ist sie wenn sie sich ärgert. Sie flucht doch nicht etwa? Nicht ganz klar ist mir, ob sie sich jetzt für diesen Vorfall schämt, oder ob ihr das auch schon immer auf die Nerven ging. Was würden manche Westbürger jetzt für einen Aufstand machen. Wahrscheinlich den ganzen Laden zusammen schreien, da kenne ich einige. Ich habe mich wieder beruhigt und tippel einfach neben ihr her. Es ist dunkel, die Gesichter der Stadt verblassen, die Dynamik des Berliner Alltagslebens geht in einen spürbaren langsameren Gang über, um dann vollends in einen kaum vorstellbaren Tiefschlaf zu enden. Es ist unbegreiflich, eine Weltstadt ohne einen Hauch von kulturellem Leben. Das spielt sich bestimmt irgendwo im Verborgenen ab. Statt dessen eine Leichenstarre die beinahe unheimlich wirkt. Alles nur noch Schatten, die an uns vorbei flitzen. Ist jetzt gar nicht so viel anders als in Wismar. Und wieder einmal stehen wir in der Prachtstraße Unter den Linden, und mehr zufällig ins Grand-Hotel in der Friedrichsstraße. Macht einen passablen Eindruck. Und wow, wir bekommen einen netten Platz zugewiesen. Untermalt wird die gediegene Atmosphäre mit gedämpften Klavierklängen. Doch, hier kann man sich wohlfühlen. Die Preise sind in Ostmark, etwa 1:1, und das ist schon direkt teuer. Für 22,- Mark der DDR würde ich gerne satt werden, und 12,- Mark für das Glas Wein ist auch ganz nett. So vergeige ich 100,- Mark, was für mich knapp 25,- DM sind, mich also auch nicht vom Hocker haut. Was in Bulgarien den Anfang nahm, und mir jetzt auch wieder ganz extrem auffällt ist, daß die Ost-Mädels, mir ist normalerweise jede Verallgemeinerung zuwider, trotzdem - eine sonderbar undankbare Art an den Tag legen. Mit einer ungeheuren Selbstverständlichkeit nimmt sie alles entgegen, aber auf einen Dank warte ich vergebens. Das muß hier einfach normal sein, auf uns Westdeutsche wirkt das jedenfalls unhöflich. Was mich aber auf dem Hocker hält, um bei dieser Redewendung zu bleiben, sind meine Ausgaben, die sich finanziell in Grenzen halten. Doch richtig übelnehmen tue ich es ihr natürlich nicht. Verhalte ich mich etwa schon wie ein verliebter Gockel, lasse ich mich von Gefühlen blenden. Nein, es ist einfach nur meine blöde Art, immer viel zu gutmütig zu denken. Wir unterhalten uns über Gott und die Welt, und, als hätten die Grenzen nie existiert, verabschiedeten wir uns bis recht bald. Ein Privattaxi will sie sich nehmen. Und tatsächlich hält ein Wagen. Ich lerne wieder etwas dazu. Privattaxis sind hier gang und gebe, werden aber, so glaube ich, nur geduldet. Ich bin ein wenig skeptisch als sie zu dem Fremden einsteigen will. Noch einen Abschiedskuß und sie ist in die Nacht verschwunden. Allein mit meinen Gedanken und den unendlich neuen Eindrücken gehe ich in meiner ureigenen langsamen Gangart zum Brandenburger Tor. Es sind nur etwa dreihundert Meter. Eine angenehm warme Beleuchtung erfüllt die gesamte Anlage. Ich träume vor mich hin. Ob Petra nebenbei als Prostituierte arbeitet? Ich wurde den Eindruck nicht los, daß sie eine Prostituierte sein könnte. Ein paar Anzeichen sprechen dafür, aber irgendwie verfluche ich mich auch für diesen Gedanken. Sie hängt sehr an ihrem Fußballerfreund, aber das Wahre wäre es auch nicht, meint sie selber. Frauen erkennen oft viel realistischer ihre und die Zukunft allgemein, und gehen trotzdem bewußt Fehler ein. Sie wissen oft genau, daß der eine Typ Mann genau der Falsche für sie ist, verlieben sich aber trotzdem immer wieder genau in diesen Typen. Abgesehen davon, daß ich mich in Berlin West noch einmal tödlich verfahre, und daß ich noch mal beschissene vier bis fünf Stunden Fahrt vor mir habe, war das heute ein tolles erstes Abenteuer in Ostberlin.

Pünktlich zur Leipziger Messe, es sind etwa zwei Wochen vergangen, mache ich mich erneut auf den Weg in Richtung Berlin. Die Zeit dazwischen habe ich genutzt, um meine Eindrücke zu verarbeiten. Ich habe die Bilder von Petra nun auch in Farbe vergrößern lassen. Es gefällt mir zwar in Farbe besser, ein paar Freunde von mir finden sie aber eher häßlich. Eigenartig wie unterschiedlich Geschmäcker sein können. Von Manfred hatte ich zudem die Adresse einer Freundin in Dresden erhalten. Ein paar kleine Geschenke sind für meine Verwandten in Merseburg reserviert. Das liegt ganz nah bei Leipzig wie ich neulich auf der Karte gesehen habe. Hatte ich vorher echt keine Ahnung wo Merseburg genau liegt. Vor kurzen hatten sie auch uns besucht, und mich bei dieser Gelegenheit gleich eingeladen. Die Leipziger Messe hat mich am meisten interessiert. Es ist allerdings auch so ziemlich das einzige, was mir zu Leipzig aktuell einfällt. Man abgesehen von den Friedenskundgebungen im letzten Herbst, und meinen beiden Studentinnen aus Bulgarien. Ich habe mir vorgenommen, mir einen Blick hinter die Kulissen in der Provinz zu verschaffen und so den Grauschleier hinter allen den Gerüchten lüften. Was sich hinter dem voran gegangenen Satz genau verbirgt, weiß selbst ich nicht genau. Ich bin echt extrem gespannt, was mich in den nächsten zwei Wochen erwartet. Irgendwie witzig, wir haben schon jeden Quadratmeter auf dieser, unserer schönen Erde, erobert. Entweder touristisch oder der Bodenschätze wegen. Haben wir wirklich? Nein, denn jetzt können wir doch tatsächlich eine ganz neue und fremde Welt entdecken: Die DDR. Wir kennen England oder Italien, ja selbst Amerika und Australien besser, als Thüringen und Sachsen oder Mecklenburg Vorpommern. So nah, und doch so unzugänglich waren die Länder. Diese ganzen Schikanen, denen man nicht nur an den Grenzen ausgesetzt war, haben solche Ideen gar nicht erst zu Ende denken lassen. Nun können wir Dresden, Leipzig, Warnemünde oder Erzgebirge angucken. Das alles ist von einem auf den anderen Tag möglich geworden, geht die DDR unter. Erwarten tue ich eine DDR, die nach dem ganzen Trubel wieder in ihr altes Verhaltensmuster zurück gefallen ist. Soll heißen, daß nach der friedlichen Revolution und der damit verbundenen politischen Wende ein Volk wieder in seinen ganz eigenen normalen Alltag zurück gefunden hat. Denn ich möchte das Ursprüngliche der DDR-Lebensqualität entdecken. Mir graut im Geheimen vor dieser Ochsentour zumal ich unter Umständen schon heute ganz bis nach Merseburg durchfahren muß. Da bei mir alles sehr spontan abläuft, konnte ich mich bei Petra nicht vormelden, wie sie erbeten hatte. Also wieder ein Überfall mit der vagen Hoffnung, dieses Mal vielleicht bei ihr übernachten zu können. Ich fahre dieses Mal jedenfalls gleich mit dem Auto nach Ostberlin rein, was sonst, und auch in ihre Straße. In Ost-Berlin dann aber zu ihr zu finden verläuft ziemlich chaotisch. Einmal fahre ich in eine Sackgasse, die direkt am Todesstreifen endet. Dann in die Kastanienallee, wo ich nach dem richtigen Weg frage. Ich bin erstaunt wie freundlich und hilfsbereit sich die Menschen umdrehen um mir den Weg zu weisen. Eine graue Straße, in der viele alte Menschen wohnen, die dieses Jahr das erste Mal seit 1933 wieder frei wählen dürfen. Ob diese Menschen hassen oder traurig sind über die vielen verschenkten Jahre? Sie sind so freundlich, kann sein, daß sie glücklich sind, wenn sie jemanden weiterhelfen können; glücklich sind, weil sie das gute in uns Westlern vermuten, oder einfach nur ein bißchen Hoffnung haben. Das Schicksal hat ihnen weitaus schlechter als uns mitgespielt. Aber ist es nicht auch unfair von mir den Menschen hier eine Lebensunzufriedenheit zu unterstellen, vielleicht sind sie doch glücklich mit ihrem Leben. Ich würde fast sagen hier ging es doch allen, oder besser, fast allen gleich gut. Bei uns sieht man doch am ehesten, was man alles nicht hat aber gerne haben würde, um zu einer der elitären Gruppen dazu zugehören. Nach dreißig Minuten sinnloser Gurkerei komme ich endlich an. Heute ist so ein super Wetter, dadurch ist ein bißchen dieser geheimnisvolle Schleier dieser Stadt gewichen, aber den Flair des "Anders seins" versprüht Ostberlin allemal noch. Insbesondere die Straßen abseits des Propaganda-Berlins vermitteln einen schweren Duft, nicht den einer weiten Welt. Möglicherweise die originale Berliner Luft, die man früher schon einmal in Flaschen kaufen konnte. Das ist kein Witz, auch Berlin hat seine Originale gehabt. Gerade weil mich das Alte so fasziniert, habe ich mir als einzigen Programmpunkt Köpenick vorgenommen. Alles andere will ich auf mich zukommen lassen. Ich treffe Petra überraschenderweise an. Sie muß leider heute arbeiten, und auch sonst ist mit ihr nicht gut Kirschen essen. Sie muß in ihrer Wohnung reine machen. Ich störte da natürlich. So gehe ich eine Zeitlang noch mal an die frische Luft. Aber dann reicht es mir, ich will heute noch was sehen, und wenn sie sich pingelig anstellt, dann ist das ihr Problem. Ich also wieder hoch, sie macht gerade Kaffee und wir unterhalten uns wie alte Freunde. Eine irgendwie geartete Spannung gibt es zwischen uns keine mehr. Das liegt aber an ihr. Sie hat bisher alles, was ich so erzählte, mit Gelassenheit aufgenommen. Kein Interesse für die Lebensumstände im Westen, geschweige denn für meine Interessen. Insofern bleibt es bei einer nüchternen Unterhaltung. Hat wenig Pepp die Frau. Nur zum Anschauen, das ist mir doch zu wenig. Aus allem, was sie aber so von sich gibt, höre ich Zweifel jeglicher Art. Ein Mensch voller Zweifel? Ob sie mit ihrem Leben nicht klar kommt, kann ich nicht beurteilen. Zu wenig läßt sie mich in sich hineinschauen. Mein Verdacht, daß sie womöglich auf den Strich geht, bzw. sich in feinen Hotels den Männern anbietet, erhärtet sich ein bißchen. Darauf spreche ich sie natürlich nicht an. Da sie sich mir auch nicht offenbart, kann ich ihr letztlich auch keine Hilfe anbieten. Was soll's, zwischen uns wird sich sowieso nie etwas abspielen. Jedem das seine. Ostberlin ist dem Westen sicher immer näher gewesen, als der Rest der Republik und doch, wenn ich gerade diesen Moment mit Petra erlebe, scheint mir da eine unüberwindbare Kluft zu existieren. Wir vereinbaren, daß ich in etwa zwei Wochen auf der Rückfahrt vorbeischaue, mich ansonsten telegrafisch melde. Was anderes ist in der DDR eh nicht zweckmäßig. Dieses Telefonnetz ist schon echt ein Kreuz. Ich fahre Petra noch zu ihrer Arbeitsstätte, dieses Mal finde ich mich auf dem Hinterhof der Meeresgaststätte, der Anlieferung, wieder. Ich werde hier auch parken, überlege ich kurzfristig. Während sie also durch die Personaleingangstür verschwindet, esse ich noch meine Stulle von Zuhause, und hänge meinen Gedanken nach. Auch über die Bekanntschaft mit Petra, mit dem Ergebnis sie als eine von vielen abzutun. Petra ist ein Mensch in deren Inneres ich nicht hinein zu gucken vermag. Einer Maske ähnlich, würde sie sie ablegen, könnte ich den Grund ihre Verletzlichkeit möglicherweise erkennen. Sie entweicht mir aber jedesmal bei meinen Versuchen hinter ihre Fassade zu schauen. Vielleicht ein Schutz, vielleicht aber auch ein Problem für sie, sich ausgerechnet einem Wessi zu offenbaren. Immerhin habe ich noch gar nicht überlegt wie stark die sozialistische Anti-Kapitalistische Propaganda in ihrem hübschen Kopf gewütet hat. In der Schule mit Staatsbürgerkunde, in der FDJ mit ihren bekannten Parolen, da könnte einiges hängen geblieben sein. Petra hat sich in diesem System eingerichtet wird es mir schlagartig bewußt. Ich hab das Autofahren satt und ziehe die S-Bahn auch schon deshalb vor, um einmal mit ihr gefahren zu sein. Berlin Alex in Richtung Erkner nach Köpenick. Die Ausschilderung ist sehr ungünstig.


Zwanzig Pfennige konnte ich gerade noch verkraften. Das ist genauso teuer wie einmal pinkeln, geht es mir erneut durch den Kopf. Das Wetter hat total umgeschlagen, richtig ungemütlich ist es mit einem Mal, kalt und mit leichten Schauern vermischt. Im Grunde nicht das Schlechteste, wenn man etwas besichtigen möchte. Es ist mir direkt unangenehm an der Bahnhofskasse zwanzig Pfennige zu bezahlen, da kann man ja gleich schwarzfahren. Es macht Spaß mit der S-Bahn zu fahren, die Leute zu beobachten wie sie ein und aussteigen. Es ist einfach alles spannend für mich, weil neu und anders. Ich versuche in allem etwas Besonderes zu sehen. In der S-Bahn ist alles heil. Zwar alt aber heil. Keine Bezüge mit dem Messer aufgeschlitzt oder Scheiben mit der Sprühdose bekleckert. Immer wieder komme ich dabei auf so kuriose Gedanken wie ob diese Menschen auf den Sitzen mir gegenüber glücklich sind, wo sie wohnen, ob der Mann da eine Familie hat. Ob sie wissen, daß die Grenzen seit vier Monaten auf sind. Ich muß manchmal schon selbst über meine unsinnigen Vorstellungen lachen. Ich versuche den Gesichtern eine passende Stimmung zuzuordnen. Aber sie sind alle so gleich. Erstarrt, und so anteilnahmslos und brav. Ob ich wohl als Wessi erkannt werde? Kleidungstechnisch bin ich ja auch nicht unbedingt der Überflieger. Aber vielleicht sehen die mich auch überhaupt nicht. Ich muß an der Station Ostkreuz umsteigen. Ein wunderschönes Geschöpf verdreht mir wieder einmal den Kopf und ich Trottel würde glatt wieder wegen ihr zurückfahren. Doch ich bleibe stark und warte die paar Minuten auf die Weiterverbindung. Die Warterei stört mich heute nicht, sonst bin ich immer verdammt ungeduldig. Denn auch jetzt spiele ich dieses „Menschen beobachten". Daß mich das so begeistern kann wundert mich direkt selbst ein bißchen. Wie hypnotisiert fühle ich mich dabei. In Köpenick steige ich aus und unten auf dem Vorplatz sehe ich einen typischen DDR-Vorortstadtteil, der wohl genauso gut in Leipzig oder Dresden hätte sein können. In Köpenick stehe ich erstmalig auf der Bahnhofsstraße. Hier ist Köpenick nicht ungewöhnlich anders als andere Stadtteile, nämlich grau, schmutzig und stinkig. Aber wenigstens habe ich nicht mehr diese sozialistischen Leistungs- oder Kraftbauten um mich herum, sondern das schnuckelige alte Berlin. Ich fühle mich wohler in diesem Quartier. Wenn es nur nicht so verdammt nach Trabi stinken würde. Ein uriger Verfall überall um mich herum, an dem ich meine Freude habe. Hier scheinen alle und alles seit Hauptmann Köpenick geschlafen zu haben. Die Betriebsamkeit hat dörflichen Charakter. Links am Weg ein Freßpark. Die Freßstätte nennt sich „Mecklenburger Dorf“ mit alten nachgebauten Katenhäusern. Ganz niedlich aufgebaut, sogar mit einer Mühle ohne Flügel. Aber von diesem Imbißfraß lasse ich lieber die Finger, so billig es auch sein mag. Also weiter Kohldampf schieben. Ein toller Kasten am Ende der Bahnhofsstraße ist die pädagogische Schule für Kindergärtnerinnen. Leider heute auch völlig ergraut hieß sie früher Körnerschule und auch Hegelschule. Hier treffe ich auf die Lindenstraße und auf das alte Postamt 1 in der Lindenallee 42. Das ist wirklich ein Baudenkmal, auf der Rückseite des Gebäudes die Paket und Annahmestelle - wie in Stein gemeißelt – hat vermutlich auch der Hauptmann von Köpenick noch erlebt. Zur Sicherheit erfrage ich mal den Weg zum Köpenicker Schloß. Mit dem Postamt in der Lindenstraße fängt das alte Köpenick an, das weiterführt über die Brücke und auf Alt-Köpenick trifft, wie auch der gleichnamige Straßenname heißt. Rechts bzw. links von der Dammbrücke, je nach dem in welcher Richtung man sich bewegt treffen Spree und Darme aufeinander. Alles ist hier verfallen. Gleich am Anfang führt mich mein Weg in die Freiheit. Schönes Wortspiel, aber die Straße heißt nun mal so. Toll finde ich auch die Straßenbahnen, die teilweise nur auf einer Trasse durch die alten Gassen fahren. Wo ich mit welcher Bahn wo hinkomme kann ich nur vermuten. Ist etwas verwirrend. Ich schlendere die Kirchstraße entlang und schaue in Hinterhöfe aus der Jahrhundertwende. Überall Pflastersteine und alte Laternen. Die Stadtkirche in der Kirchstraße ist aus Backsteinen erbaut, so wie man das auch von ganz normalen Häusern kennt. Neben der Kirche aber wieder total zerfallene Häuser. In Alt-Köpenick stehen wunderschöne alte Straßenkandelaber, allerdings heute mit Glühbirnen ausgestattet. Auch das Rathaus befindet sich in Alt-Köpenick, und besticht durch alte Backsteingotik, wie ich es von Lübeck her kenne. Köpenick war einst eine selbständige Stadt. Sie besaß zwar keine Garnison, gelangte aber trotzdem durch eine militärische Aktion zu Weltruhm. Zu verdanken ist das dem Schuster Wilhelm Voigt, bekannt geworden als der Hauptmann von Köpenick. Ich kann mich gut an die Verfilmung mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle erinnern. Heute wird davon abgeraten das gleiche zu tun, da fällt man in Köpenick heute nicht mehr drauf herein. Das Restaurant „Zur alten Laterne“ heißt direkt passend zur Umgebung.



Das Empfangstor vom Schloß ist nicht gerade ein Besichtigungshöhepunkt. Von Erhaltung keine Spur. Der „Rat des Stadtbezirks Berlin-Köpenick“ scheint hier hinter diesen Gitterstäben zu residieren. Auf dem Platz vor dem Schloß steht ein merkwürdiges Uhrenmonument, gestaltet wie ein Faß, hat aber zu beiden Seiten eine Uhr. Sinnigerweise ein Faß ohne Boden aber dafür 2 Uhren. Das Schloß selber ist nicht so berauschend. Hat auch so eine Art Dornröschenschlaf hinter sich. Dafür gibt es in der einen Straße eine sehr gemütliche Kneipe, die ich nun hier überhaupt nicht erwartet hätte. Für mich ist sie gleichzeitig die Rettung vor dem sicheren Erstickungstod. Die Luft sammelt sich in diesen engen Gassen dermaßen konzentriert, daß ich direkt nach Luft japse. Nach einem gemütlichen halbstündigen Aufenthalt bei einem Glas Bier geht es wieder los. Ich will diese Fast-Insel, sie ist immerhin zu 4/5 von Wasser umschLassen, jetzt auch noch mal quer durchwandern. Und spüre jetzt auch den Hunger recht massiv. Während ich so laufe halte ich immer Ausschau nach einem HO-Laden oder Konsum. Ich schaffe es bis in die winzige Spindlergasse. Selten so eine kurze Straße gesehen, aber da ich hier wieder auf die Spree treffe geht die Straße eben nicht weiter. Irgendwo auf Höhe des Alten Marktes finde ich endlich einen Laden. Und plötzlich passiert da etwas Komisches. Während ich mich im Laden nach etwas Eßbarem umsehe kommt auf einmal ein umwerfend ausschauendes Mädchen herein stolziert. Ich bemerke sie sofort. Sie ist bestimmt 180cm groß, hat eine wahnsinnig grazile Figur und ist kurvenreich wie ehemals Samantha Fox. Und mit einem Gesicht ausgestattet wie ein makelloses Model. Sie wirkt einerseits sehr selbstsicher, aber gleichzeitig auch ganz natürlich. Wow, so was hätte ich hier und jetzt nicht erwartet. Ich kann kaum meinen Blick von ihr abwenden, aber um mit meiner Glotzerei nicht zu blöd aufzufallen begebe ich mich langsam zur Kasse und bezahle. Natürlich warte ich draußen. Und zum Glück dauert es bei ihr auch nicht so lange und sogleich frage ich sie nach einem Weg den ich natürlich genau kenne. Sie wendet sich sogleich mit einem Lächeln zu mir hin und erklärt mir ausgesprochen hilfsbereit den Weg. Ich bin hin und weg. So jemanden wie sie habe ich noch nie erlebt. Also nicht mal bei uns. Überhaupt nichts Abweisendes erkenne ich an ihr, vielmehr tatsächlich sogar mal ein bißchen Neugier für mich Wessi. Ich komme nicht los von ihr und schaffe es irgendwie sie zu begleiten. Und sie ließ mich auch gewähren, und so ging ich mit ihr ohne bewußt zu registrieren welchen Weg wir überhaupt gehen. Wir kommen zu einem Haus mit dieser typisch grauen DDR-Fassade, und sie nimmt mich mit in den Gartenbereich. Keine Ahnung ob das hier ihr Zuhause ist. Ohne Worte zieht sie mich an sich heran, nahm behutsam meine Hand in ihre beiden und streichelte meine Finger. Schaut dabei abwechselnd mal in meine Augen, mal auf meine Hand. Ich komme ihr etwas näher, spüre ihren Atem und ihre Brüste die sie ihrem Atem folgend seicht gegen meine Brust preßt. Dann führt sie meine Hand zu ihren Brüsten hoch und drückt sie dagegen. Sie will es wissen, denke ich, denn so etwas habe ich noch nicht erlebt. Ich spüre ihre üppigen wohlgeformten Brüste und es beginnt in mir zu Beben und eine Erregung erfaßt mich der auch sie sich hingibt. Ein Traumweib, groß und modelmäßig gebaut, nur ihre Zähne konnten da nicht ganz mithalten. Erst jetzt sehe ich, daß die regelrecht vergammelt sind. Aber einen klaren Gedanken zu formen fällt mir in diesem Moment schwer. Ihren Kopf legt sie zwischen meinem Kopf und Schulter ab und ihr weicher und warmer Atem streichelt meinen Hals. Sie roch nicht nach Parfum und doch angenehm weiblich. Ihr Busen wiegt weich an meiner Brust und ich drückte sie mit meinem anderen Arm noch fester an mich. Wir küßten uns zuerst zart, und wie eine geheime Gedankenübertragung fühlen wir beide das Gleiche in diesem Moment. Ihre Lippen ziehen mich magisch an und wollen mich nicht mehr frei lassen. Nur nicht an ihre Zähne denken beschleicht es mich kurz. Aber meine Erregung läßt mich das schnell vergessen. Sie umschlingt mich mit ihren Beinen, fesselt mich regelrecht mit ihnen. Was für ein Körper, kaum bändigen können wir unsere Gefühle und werden immer rasender. Knoten uns immer noch enger zusammen. Eine Wespentaille hat sie, ich kann sie mit meinen beiden Händen fast umschließen. Und so kommen wir in einer Art Gartenbaracke zum Höhepunkt. Nachdem alles vorbei ist ist sie zwar nicht total wie verwandelt, aber sie verhält sich plötzlich wieder so als habe sie mir gerade den Weg erklärt und verabschiedet sich von mir. Ich bin wie von Sinnen, klar denken ist auch jetzt noch nicht. Auf ihr Verhalten kann ich überhaupt nicht reagieren. Und somit begebe ich mich langsam wieder zum Schloßplatz von wo ich jetzt mal die Straßenbahn zurück zum Bahnhof nehme, also die gleiche Strecke retour die ich zuvor zu Fuß abgelaufen bin. Ich muß an meine Fahrt nach Merseburg denken, die noch vor mir liegt. Es ist jetzt gar nicht mehr so regnerisch aber immer noch stürmisch und ungemütlich. Da laufen gerade 2 Filme in mir ab, die so gar nichts gemein haben. Das Erlebnis mit der hübschen Köpenickerin spukt wie ein nicht reales Erlebnis in meinem Schädel, während ich auch alles andere um mich herum registriere. So will ich unbedingt noch mal zum Brandenburger Tor. Dort angekommen lasse ich lieber den Gesamteindruck noch einmal auf mich wirken. Den Reiz des Besonderen sehe ich hier schon noch überall, aber es erzielt, zumindest heute, nicht mehr eine so spannende Wirkung wie bei meinem ersten Berlin-Besuch. An allen Ecken werde ich bedrängt mit den Worten, tauschen ... tauschen ... Kannte ich bisher nur aus den Geschichten der Nachkriegszeit. Und von Versorgungsknappheit kann hier in Ost-Berlin nun wirklich nicht die Rede sein. Jedenfalls nicht so wie man es allerorten über die DDR hört. Da wurde wohl alles hier in der Hauptstadt gebunkert, um den vielen Touristen ein besseres Bild zu suggerieren. So war das sicher in den ganzen letzten 40 Jahren schon.

Das Leben auf der anderen Seite

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