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ОглавлениеGriechische Gastfreundschaft
Sonntag, 03. Juli 2016
3. Wanderetappe, Husum – Hennstedt, 30 km
Ich erwache nach gutem, tiefem Schlaf um 05:00 Uhr und höre Regentropfen an das Fenster klopfen. Ein Blick bestätigt mir das Ganze, ich lege mich wieder hin und gebe mir so viel Zeit, bis der Regen aufhört. Dies geht recht schnell, sodass ich – sogar die Sonne zeigt sich jetzt – Punkt 06:00 Uhr loslaufe. Die ersten 500 Meter gehen recht schleppend, die schmerzenden Stellen der Blasen lassen mich erstmals auf die Zähne beißen. Meine Stöcke fungieren daher am Beginn meiner heutigen Etappe auch als eine Art Gehhilfe, dennoch bin ich gut gelaunt und optimistisch für den Tag. Ich kann ja jetzt noch nicht ahnen, dass sich in den nächsten Stunden eine weitere Blase ansiedeln wird. Bald verlasse ich Husum, gut ausgeschildert geht es in Richtung Friedrichstadt über 15 Kilometer einen Radweg entlang. Nach gut 45 Minuten setzt ein kräftiger Regenschauer ein, ich ziehe schnell die Regenjacke über, bleibe aber in meiner kurzen Hose. Wie bereits in den letzten Tagen, ob in Leipzig oder hier oben, sind wir in diesem Jahr vom Sommer weit entfernt. Regen und Sonne wechseln immer wieder einander ab. Tröstlich ist die Tatsache, dass es nahezu windstill und die Temperaturen zum Wandern geradezu ideal sind. Als Ersatz schenkt mir der Himmel einen wunderschönen doppelten Regenbogen und gegen 09:30 Uhr erreiche ich das Holländerstädtchen Friedrichstadt.
Ich laufe an Grachten vorbei über den Markt bis hin zur evangelischen St.-Christopherus-Kirche. Am Eingang weist ein Schild den Besucher darauf hin, dass sonntags erst ab 12:00 Uhr die Kirche zu besichtigen sei. Eine nette Dame, sie scheint Kirchendienst zu haben, bittet mich dennoch herein. Wir kommen ins Gespräch und ich erfahre, dass sie regelmäßige Besucherin der Leipziger Buchmesse, der Nikolai- und Thomaskirche meiner Heimatstadt ist. Ich suche mir ein Plätzchen in der äußersten Ecke der Kirche, breite meine Sachen zum Trocknen aus und nehme mein Frühstück zu mir. Kurze Zeit später kommt auch der freundliche Pfarrer, er hat Gitarre und gute Laune mitgebracht, und scheint Freude an seinem Beruf zu haben. Dies ist Grund genug, den folgenden Gottesdienst mitzufeiern, einige Sätze aus der Predigt deute ich auf meine Wanderschaft, ich greife zum Gesangsbuch und singe mit. Hier hinten und alleine in meiner Ecke kann mir ja keiner die schiefen Töne verübeln.
Schließlich verabschieden wir uns sehr herzlich. Auf dem Kirchhof ergeben sich weitere Gespräche mit Kirchgängern, mein großer Rucksack lässt entsprechende Fragen zu. Schließlich geht es bei nun schönstem Sonnenschein weiter, immer an einem Deich entlang. Ich stelle fest, dass ich aus dem Landkreis „Nordfriesland“ nach „Dithmarschen“ gewechselt bin. Ich überquere schließlich eine größere Schleusenanlage und komme am Nachmittag geschafft, aber doch glücklich nach Hennstedt, meinem heutigen Tagesziel.
Nun kann man sicherlich Besseres am Sonntagnachmittag tun, als seinen Vorgarten von Unkraut zu befreien, ein Pärchen in meinem Alter tut dies dennoch. Eine gute Gelegenheit für mich, nach der Kirche und einer Pension zu fragen. Heute ist der erste Tag, an dem ich mir noch eine Schlafgelegenheit suchen muss. Ich bin auf das Ergebnis schon seit dem Morgen gespannt. Ich erhalte den Hinweis, dass beides direkt nebeneinanderläge und ich mache mich auf den Weg. Weder in der verschlossenen Kirche noch im Pfarramt erreiche ich jemanden, um meine von der Kirchgemeinde Leipzig-Holzhausen ausgestellte Beherbergungsempfehlung vorzuzeigen und auf Unterbringung zu hoffen. Also nach nebenan, wo eine griechische Familie ein Restaurant mit Pensionsbetrieb betreibt. Ich stelle mich und mein Übernachtungsbedürfnis einem Mitarbeiter vor und verweise auf mein eingeschränktes Budget. Er verschwindet kurz im Haus und kommt wenig später zurück, um mich zu fragen, ob ich 30 Euro oder lieber 25 Euro ausgeben möchte. Ich sage ihm, dass ich mit 20 Euro zufrieden wäre, dafür aber keine Bettwäsche benötigen würde, ich habe ja meinen Schlafsack dabei. Er lacht, reicht mir die Hand und wir sind im Geschäft! Er führt mich in die erste Etage. Ich erhalte ein schönes Zimmer mit Bad, welches gerade fertig geputzt wird. Die deutsche Putzfrau fragt mich gleich wegen meines Rucksacks nach dem Woher und Wohin, schüttelt bei meinen Antworten den Kopf und besteht darauf, meine Wäsche zu waschen. Dies nehme ich sehr gerne in Anspruch. Es folgten eine ausgiebige Dusche mit kaltem Wasser für die Beine, das Eincremen und die Massage der Wadenmuskulatur sowie eine Blasenpflege. Aktuell haben sich da drei recht ansehnliche Berge an meinen Fersen entwickelt. Ich greife zu Nadel und Zwirn, ziehe einen fünf Zentimeter langen Faden durch die Blase. Zunächst die komplette Nadel, dann die Hälfte des Zwirns, sodass auf beiden Seiten genügend Faden heraushängt. An diesem kann jetzt das Wasser in den nächsten Minuten und Stunden herauslaufen, ohne dass die alte Haut zerstört wird. Sofort tropft es an beiden Enden und ich spüre eine unmittelbare Entlastung. Über Nacht lasse ich die Blasen ohne Pflaster, um Luft heranzulassen.
Es folgen zwei Stunden Nachmittagsschläfchen im sonnenüberfluteten Raum. Da das Zimmerfenster über keine Gardine verfügt, weiß ich schon jetzt, dass ich morgen wieder früh erwachen und mich auf die Socken machen werde. Gegen 18:00 Uhr setze ich mich in den sonnigen Freisitz und komme mit dem Chef des Hauses ins Gespräch. Ich bestelle mir eine Portion Gyros mit Pommes sowie ein alkoholfreies Weizen und drücke ihm interessehalber einen Flyer zu meiner Wanderung in die Hand. Ich genieße das Nichtstun, die letzten Sonnenstrahlen und ein weiteres Weizenbier. Irgendwann, es ist noch nicht spät, zieht mich aber die Müdigkeit aufs Zimmer. Ich bestelle die Rechnung für Bett und Essen und werde mit der Aussage überrascht, dass mit meinen 20 Euro Übernachtungsgeld die Speisen- und Getränkerechnung inbegriffen sei. Der Chef reicht mir die Hand, erklärt mir, wie cool er mein Projekt für die zu unterstützenden Kinder- und Jugendvereine findet und fragt, ob ich noch irgendetwas brauche. Noch ganz ergriffen verneine ich seine Frage und wir umarmen uns spontan zum Abschied. Er wünscht mir viel Erfolg und will im Internet meinen Weg verfolgen. Ich bin echt gerührt von so viel griechischer Gastfreundschaft und ziehe mich gut gelaunt auf mein Zimmer zurück. Ich verzichte auf die Fernsehübertragung des EM-Spiels zur Ermittlung des Halbfinalgegners der deutschen Fußballnationalmannschaft, sondern schlafe sehr schnell und zufrieden ein.
Tagesbedarf: EUR 20, Gesamtverbrauch: EUR 30,
Gesamtstrecke: 89 km
Von Rehen und Regen
Montag, 04.Juli 2016
4. Wanderetappe, Hennstedt – Hanerau-Hademarschen, 33 km
Wie erwartet erwache ich bereits beim Morgengrauen mit einem mächtigen Brand, das Tsatsiki hat seine Schuldigkeit getan. Also aufstehen, Zähne putzen, die Fäden aus den Blasen ziehen und diese verpflastern. So langsam entwickelt sich eine morgendliche Routine. Um kurz vor 05:00 Uhr schleiche ich mich aus der Pension und es zieht mich bei langsam aufgehender Sonne zunächst durch Getreide- und Maisfelder in Richtung Hanerau-Hademarschen. Unmittelbar vor einem ersten Waldstück bekomme ich heute erstmals einige Rehe zu sehen. Während alle anderen schnell das Weite vor mir suchen, bleibt eines der scheuen Tiere hinter einem Baum am Wegesrand stehen. Da mir dies nicht entgangen ist, schleiche ich mich, sofern dies mit Rucksack und Wanderstöcken irgendwie geht. langsam heran. Es gelingt mir sogar, ein Foto mit dem iPad zu machen. Plötzlich, ich habe mich vielleicht auf 20 Meter genähert, springt es auf und mit einem mir unbekannten Geräusch sucht es auf einer Wiese das Weite. Dann bleibt es aber wieder stehen, schaut sich um und das Spiel beginnt von vorn. Ich nähere mich soweit wie möglich, bis das Reh sich wieder unter komischen Lauten entfernt. Tage später, als ich diese Geschichte erzähle, erfahre ich von einem Jäger, dass Rehe bei Angst bellen, sicherlich hatte das Muttertier ein Kitz im Gras liegen.
Nach circa zwei Stunden geht mal wieder ein mächtiger Regen los. Zunächst hoffe ich, unter einem Baum den Schauer abzuwarten, um mir den Klamottenwechsel zu ersparen. Nach einigen Minuten und der nicht vorhandenen Aussicht auf ein Aufreißen der Wolkendecke ziehe ich schließlich sowohl Regenjacke als auch -hose über und bringe auch den Regenschutz über den Rucksack an. So ausgestattet wandere ich weiter. Es weht kein Wind, es ist nicht kalt, aber dennoch ist Sommer irgendwie anders.
Gegen 09:30 Uhr erreiche ich Tellingstedt und kehre zunächst bei einem Bäcker ein. Dies mit der festen Absicht, bei einem heißen Kakao mich von innen zu wärmen und gleichzeitig in der Backstube meine Sachen zu trocknen. Das mit dem Kakao funktioniert nicht, da keiner vorrätig ist. Aber die junge, etwas bäuerlich wirkende Verkaufskraft hat gegen einen Klamottenwechsel im Hinterzimmer nichts einzuwenden. Mit Wäschetrocknen wird es aber nichts, da es sich nur um einen Backshop und keine klassische Bäckerei handelt. Sei es wie es sei. Ich bedanke mich und spaziere in einen gegenüberliegenden Supermarkt, kaufe Wasser, Schokolade und Brötchen. Schließlich bekomme ich hier auch eine heiße Schokolade, welche ihrem Namen relativ wenig Ehre macht, wenigstens ist sie warm. Ich setze mich in das kleine angrenzende Café und lausche den drei älteren Tischnachbarn. Ich muss schnell feststellen, dass ich nichts, aber rein gar nichts verstehe, die drei reden Plattdeutsch. Später gesellt sich ein weiterer Gast hinzu, man geht in einen für mich etwas verständlicheren Dialekt über und so bekomme ich mit, dass es zum Siebenschläfer in der Region geregnet habe und damit in den nächsten sieben Wochen das Wetter entsprechend programmiert sei. Na danke auch! Wobei, es wird ja am Tag des Siebenschläfer hoffentlich nicht in allen von mir in Deutschland zu durchwandernden Gegenden geregnet haben!?
Mein Weg führt mich schließlich weiter südlich und nach einiger Zeit erreiche ich den Nord-Ostsee-Kanal. Es ist schon ein besonderes Gefühl, die Brücke per pedes zu überwinden. Ich erhalte ein wahres Gefühl für die Dimensionen von Höhe, Länge und Breite dieser Überquerung. Und wie klein die zahlreichen Lastkähne auf dem Wasser unter mir wirken! Auf dem anschließenden Autorastplatz mache ich nochmals eine Pause, um die notwendigen Kräfte für die verbleibenden sechs Kilometer bis zum Zielort zu sammeln. Ich habe in den ersten Tagen festgestellt, dass ich im Tagesdurchschnitt mit vier Kilometer pro Stunde vorankomme, also jetzt noch ungefähr eineinhalb Stunden vor mir habe. Die Streckenführung verläuft jetzt auf einem Fuß-/Radweg parallel zur Bundesstraße. Um den zwar nur mäßigen, aber dennoch lästigen Verkehrslärm zu überspielen, lege ich mir etwas Techno auf die Ohren, so läuft es sich bei zunehmender Erschöpfung doch ganz gut.
In Hanerau-Hademarschen angekommen frage ich die erste mir über den Weg laufende Person nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Mir wird ein preiswerter Gasthof empfohlen, welcher nicht mehr auf dem neuesten Stand sei, im Oktober schließe, aber eine gute Küche hätte. Und richtig, auf der Straße zeigt schon ein Schild an, dass hier die Chefin noch persönlich kocht. Da der Mittagstisch vorbei ist, ist der Haupteingang verschlossen. Ich gehe durch den nicht sehr einladenden Biergarten auf den Hintereingang der Küche zu, wünsche einen Guten Tag und empfange ein etwas lustloses „Ja“. Also ohne „Bitte“. Ich sage mein Ständchen auf, wir einigen uns auf die anscheinend üblichen 20 Euro und eine junge Angestellte, ob Auszubildende oder Familienmitglied bleibt mir unklar, zeigt mir „Zimmer 2“. Naja, so muss Hotellerie in den 1960er-Jahren ausgesehen haben. Dusche und Toilette über dem Gang, ansonsten alles reif für den Sperrmüll. Aber – und das ist für mich das Wichtigste – alles sauber und in dem Bett kann man auch gut liegen.
Es folgt das nun schon übliche Nachmittagsritual, bestehend aus duschen, Fußpflege und Wadenmassage sowie zwei Stunden Nachmittagsruhe. Am Abend esse ich im Hause eine kleine Gulaschsuppe sowie einen großen Salat, beides wirklich lecker und durchaus preiswert. Ich kann ja jetzt noch nicht wissen, dass diese Mahlzeit eine noch wichtige Rolle auf meiner Reise spielen wird. Anschließend gehe ich in den nahegelegenen Supermarkt, um die Rationen für den morgigen Wandertag sowie zwei einheimische Bierchen als Schlaftrunk zu erwerben. Den kurzen Rest des heutigen Abends verbringe ich mit meinen Tagebucheinträgen. Bald falle ich auch heute, bedingt durch die viele ungewohnte Bewegung und die frische Luft, in einen traumlosen Schlaf.
Tagesbedarf: EUR 40, Gesamtverbrauch: EUR 70,
Gesamtstrecke: 122 km
Freud und Leid
Dienstag, 05. Juli 2016
5. Wanderetappe, Hanerau-Hademarschen – Kellinghusen, 37 km
Mein Biorhythmus pendelt sich langsam ein, heute stehe ich um 04:30 Uhr mit gepacktem Rucksack vor dem Gasthof und ziehe an der Kirche des Ortes vorbei in Richtung Ortsausgang. Noch habe ich den Begleitbrief der Kirchgemeinde Leipzig-Holzhausen nicht in Anspruch nehmen müssen oder vielleicht dürfen, um im Fall des Falles „Kirchenasyl“ für eine Nacht zu bekommen. Zunächst geht es über weitläufige Feldwege mit kraftvollen Schritten gut voran, die Sonne geht heute in einem bemerkenswerten Schauspiel blutrot im Osten auf. Ich halte inne. Wann hat ein Großstadtmensch wie ich schon Gelegenheit, einen Sonnenaufgang zu beobachten. Und dann noch im Sommer um diese Uhrzeit. Einem solchen Naturereignis wohnen doch meistens nur junge Leute bei, wenn sie frühmorgens von der Diskothek nach Hause kommen. Oder es sind diejenigen Berufstätigen, welche als Krankenschwester, Feuerwehrmann oder Zugbegleiter zum Frühdienst aufbrechen. Munteres Vogelgezwitscher begleitet mich. Es sind die einzigen Geräusche um diese Zeit. Plötzlich entdecke ich auf dem Feldweg vor mir zwei Hasen, welche wie versteinert sich gegenübersitzen. Ich versuche mich möglichst langsam und leise zu nähern, aber ganz flink stellen sie sich auf die Hinterpfoten und nehmen Witterung auf. Ich verharre, die beiden gehen aber auf Nummer sicher und verduften Haken schlagend im Feld.
Kurze Zeit später geht es dann erstmals auf meiner Reise durch ein längeres Waldstück, hauptsächlich aus Eichen und Buchen bestehend, aber auch Birken und Ahorn erkenne ich. Und ich genieße die frische, feuchte Morgenluft. Die Sonne gewinnt langsam an Intensität, ein herrliches Gefühl aus körperlicher Anstrengung, Wärme und frischer Luft durchzieht mich. Es folgt eine Frühstückspause mit Brötchen, Salami, Kakao und einem Apfel. Kein Mensch ist mir in den ersten vier Stunden des Tages begegnet. Überhaupt führt mich mein Navigationsgerät heute wieder über schönste Wander- und. Radwege. Dies führt allerdings dazu, dass mir jedwede Ortschaft an diesem Wandertag vorenthalten bleibt. Ich hatte daher ausreichende Verpflegung und Flüssigkeiten eingepackt, getreu dem Motto „Besser man hat, als man hätte“.
Etwa bei Kilometer 28, es ist gegen 12:00 Uhr, und ich bin schon seit mehr als sieben Stunden unterwegs, zieht jemand den Stecker aus meiner Energiebox. Ich erleide innerhalb weniger Minuten ein körperliches, aber auch geistiges Tief. Gestützt auf meine Wanderstöcke schleppe ich mich nur noch mühsam voran. Ich gestehe mir ein, eine längere Pause einlegen zu müssen. Einen so schnellen und tiefgreifenden Energieverlust habe ich noch nie erlebt, selbst zu meinen besten Sportlerzeiten nicht. Gut, die liegen lange zurück und damals war ich gut austrainiert, aber dies jetzt zu erleben ist schon krass. Da ich von Natur aus ein sehr rationaler Mensch bin, gelingt es mir immerhin, mich mit der Situation zu befassen und so mache ich mit mir selbst einen Punkt am Ende des langen vor mir liegenden Feldweges aus und beschließe, dort so lange zu pausieren, wie es vonnöten sein wird. Wie auf meinen bisherigen Wegen sind Bänke auch hier nicht nur Mangelware, sondern schlichtweg nicht vorhanden. Ich lege mich kurzerhand auf einen Streifen Sand, bette meinen Kopf auf den Rucksack und schnaufe kräftig vor mich hin. Jetzt einfach schlafen und das Laufen für heute einstellen, so ist es mir gerade zumute. Dass dieser Moment so oder so ähnlich kommen würde, war mir eigentlich klar, oft genug habe ich ihn als ehemaliger Leistungssportler erlebt. Dann aber so schnell damit konfrontiert zu werden, ist eine andere Sache. Aber ich weiß auch, dass es nach jedem Tief wieder ein Hoch gibt. Zwei Fragen sind für mich jetzt relevant. Erstens, wie komme ich aus dem aktuellen Tief heraus und zweitens, was war die Ursache für meinen jetzigen Erschöpfungszustand? Also erst mal richtig runterfahren, Zeit lassen, trinken. Anschließend esse ich einen Apfel und führe mir den Rest einer Schokoladentafel zu. Ich schließe die Augen, bleibe länger als eine halbe Stunde so liegen. Langsam kriechen die Lebensgeister in Form von Energie in meinen Körper zurück. Ich richte mich auf und laufe einige Minuten später wieder los. Ganz bewusst setze ich einen Schritt vor den anderen, laufe langsam und finde allmählich wieder zu meinem Rhythmus. Die Beine laufen wieder und auch mein Kopf ist jetzt in der Lage, Antworten auf die beiden offenen Fragen zu finden. Zum einen wird mir klar, dass mein gestriges Abendessen zwar ausgesprochen gesund, aber absolut unzureichend nahrhaft war. Mir haben einfach ausreichende Kalorien gefehlt, eine ganz wesentliche Erkenntnis auch für die nächsten Tage und Wochen. Zum anderen muss ich mich unbedingt in meinen eigenen zeitlichen Vorstellungen korrigieren. Disziplin ist zwar für das Erreichen der Zugspitze eine Grundvoraussetzung, aber ich muss mir selber etwas mehr Freiraum zugestehen. Also nehme ich mir vor, mich künftig an der Distanz und am Tageslauf, aber nicht primär an der Uhr zu orientieren. Ob mir dies gelingt, bleibt abzuwarten, aber schließlich habe ich den ganzen Tag Zeit, um von A nach B zu kommen und dort auch noch ein Bett zu finden. Gleichwohl habe ich mich bisher mental leichter getan, wenn ich schon am Morgen weiß, wo ich abends schlafen werde, als noch auf die Suche nach einer Unterkunft zu gehen. Und wenn ich schon beim Analysieren bin, dann kann ich mir auch noch klarmachen, jeden Schritt bewusst zu tun und mein Tempo frühzeitig meiner jeweiligen Verfassung anzupassen. All das sind Fakten, bei denen jetzt jeder (und auch ich) sagen wird: Na ist doch klar, schon hundert Mal gehört, mach ich schon. Aber Theorie und Praxis sind bekanntermaßen zwei Paar Schuhe und ich bin gespannt, wie lange diese Erkenntnisse anhalten werden.
Auf jeden Fall komme ich wieder in Tritt, passiere ein ehemaliges Bundeswehrgebiet und begegne am frühen Nachmittag plötzlich zwei Damen, welche Schwestern sind und nach dem Mittagessen den Hund Gassi führen. Da wir alle nach Kellinghusen wollen, haben wir dasselbe Ziel. So laufen wir gemeinsam, kommen ins Reden und ich spüre sofort, dass es mir gut tut, nach einigen Tagen der Einsamkeit sich mal wieder auszutauschen. Und es läuft sich auch wieder ganz anders. Die letzten vier Kilometer vergehen quasi im Fluge, was auch am drohenden Gewitter liegen kann. Die jüngere der beiden Schwestern, Susan, fragt mich, ob sie mich mit dem Auto, welches am Ortseingang geparkt ist, mitnehmen kann und wo ich denn schlafen würde. Auf meine Nachfrage nach günstigen Herbergen empfiehlt sie mir eine Radlerherberge und bietet an, mich hinzufahren. Und so komme ich noch vor dem Gewitter mit Starkregen zu einer Übernachtung. Es ist noch ein großes Zimmer frei, Kosten: 23 Euro ohne Frühstück. Eigentlich will ich ja maximal 20 Euro ausgeben, habe aber heute keine Lust, deswegen noch weiterzusuchen. Ich sage zu, mir wird das Zimmer unterm Dach gezeigt, wobei ich aus meinem Bett heraus einen direkten Blick auf ein Storchennest mit insgesamt fünf Bewohnern habe. Ich will gerade meine Sachen auspacken, da bemerke ich, dass ich mein iPad im Auto von Susan habe liegen lassen. Kein Name, keine Telefonnummer, lediglich aus dem Gespräch der Schwestern habe ich erfahren, dass sie in der Gartenstraße wohnt. Ich gehe im Telefonbuch alle Einträge von A-Z durch, keine Gartenstraße. Doch weil heute mein Glückstag ist und Susan meine Retterin des Tages, steht sie nach 15 Minuten vor der Pension und hat meinen digitalen Wanderbegleiter in der Hand. Ich sage ihr, dass ich sie am liebsten umarmen würde, lasse dies mit meinem durchgeschwitzten Shirt und meinem kräftigen Geruch aber lieber sein. Wir lachen herzlich, machen ein gemeinsames Foto, ich bedanke mich herzlich und schon ist sie wieder verschwunden. Da stellt sich natürlich die Frage, wozu ich bei einer solchen Wanderung ein mobiles Endgerät benötige. Aber hier habe ich alle Wanderkarten, Navigationsmöglichkeiten, Foto- und Videofunktionen, soziale Medien, Musik und auch mein Tagebuch in einem Gerät vereint. Bei Verlust wäre ich echt aufgeschmissen.
Also Aufatmen, duschen, Körperpflege und etwas ausruhen. Anschließend schleppe ich mich bei Sonne kurzärmlig zu einem Supermarkt und natürlich muss es zehn Minuten später zu regnen anfangen. Wie viel von dem nassen Zeug gibt es denn eigentlich noch da oben?
Da ich in meinem Wohnbereich einen Herd gesehen und mir kalorienreiche Kost vorgenommen habe, kaufe ich neben zwei alkoholfreien Bieren und der Wanderverpflegung für den kommenden Tag auch eine Büchse Ravioli. Zu Hause käme ich im Leben nicht auf den Gedanken, mir so etwas in den Einkaufswagen zu legen, aber hier muss es auch mal rustikal zugehen. Zurück im Zimmer stelle ich fest, dass weder ein Büchsenöffner vorhanden noch der Herd angeschlossen ist. Ich bitte also meine Wirtin, mir in ihrer Küche das Essen erwärmen zu dürfen. Dies lehnt sie dahingehend ab, indem sie sich selbst der Sache annimmt und mich in dem wunderschön restaurierten Frühstücksraum der ehemaligen und genau 333 Jahre alten Bäckerei Platz nehmen lässt. Während sich die Ravioli in der Mikrowelle erwärmen, um anschließend von mir gierig verschlungen zu werden, kommen wir ins Gespräch. So erfahre ich einiges über das Haus, den Ort Kellinghusen und ihre frühere Tätigkeit als Bauzeichnerin. Mein Angebot, den Abwasch zu erledigen, weist sie lachend von sich und meint mit Blick auf die zu begleichende Rechnung, dass das mit den 20 EUR schon in Ordnung sei. Ich bedanke mich artig, gehe nach oben, trinke meine Bierchen ohne Alkohol und freue mich darauf, morgen etwas länger zu schlafen. Denn schließlich wartet mit nur 25 km eine vergleichsweise kurze Etappe auf mich.
Tagesbedarf: EUR 27, Gesamtverbrauch: EUR 97,
Gesamtstrecke: 159 km