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ОглавлениеDeiche, Schafe und Jaqueline
Samstag, 02. Juli 2016
2. Wanderetappe, Dagebüll – Husum, 40 km
Meine innere Uhr lässt mich wie immer nicht im Stich, kurz vor 5:00 Uhr werde ich munter, komme gut aus dem Bett, packe meinen Rucksack und mich zusammen, stehe schließlich eine halbe Stunde später auf der Dorfstraße. Mich zieht es fast schon magisch zum Deich, heute will ich auf der Seeseite wandern. Nach zwei Kilometern ist es so weit. Ich stehe auf der Deichkrone und halte inne. Der Blick weitet sich über diese absolut flache Landschaft und geht vom Hafen Schlüttsiel im Süden bis zum nördlich gelegenen Dagebüller Fähranleger. Es herrscht gerade Ebbe. Es ist um diese Zeit außer mir kein Mensch unterwegs, lediglich Schafe und Wildgänse begrüßen mich. Die Sonne hält sich noch hinter den Wolken versteckt. Während ich langsam die Dammkrone in Richtung des auf der Meerseite verlaufenden Deichweges verlasse, atme ich tief durch. Gefühlt beginnt jetzt und hier an der Nordseeküste meine Deutschlandwanderung. Ich rieche eine Mischung aus Meer und Schafsdung, denn sowohl auf den Wiesen als auch auf dem Weg sind überall mal große, mal kleine Haufen des Verdauungsendproduktes der Salzlandschafe zu finden.
Ich freue mich über den sich in der Nacht verzogenen Regen, die Temperaturen sind angenehm, es weht aber ein ordentlicher Wind. Heute habe ich dann auch erstmals meine vorgesehene Wanderkleidung angelegt: knielange Turnhose und T-Shirt. Allerdings habe ich zu dieser frühen Stunde noch die Jacke übergezogen. Nach 90 Minuten mache ich in Schlüttsiel eine erste Rast, windgeschützt in einer Bushaltestelle. Es pfeift wieder kräftig aus westlicher Richtung. Solange es sich nicht um Gegenwind handelt soll es mir Recht sein. Bei der sich nächst bietenden Gelegenheit wechsele ich dann doch hinter den Deich und kann hier meine Jacke ausziehen, da die Sonne mittlerweile herausgekommen und der Wind hier kaum spürbar ist. Vorbei am Abzweig zur „Hamburger Hallig“ geht es weiter südlich am Deich entlang auf Husum zu. 40 Kilometer stehen auf dem Plan, seit Wochen habe ich einen großen Respekt vor dieser ersten Etappe. Eine Zwischenübernachtung ließ sich aufgrund der dünn besiedelten Gegend nicht einrichten In Husum wartet aber ein Bett auf mich.
Mir begegnet tatsächlich über Stunden kein Mensch, Zeit, meinen Gedanken nachzuhängen. Diese drehen sich hauptsächlich um meine Wanderung, aber auch um die beruflichen Belange, welche mich in den letzten Wochen und Monaten sehr eingebunden hatten. „Den Kopf frei bekommen“ ist ja eine so geflügelte Phrase, ich bin gespannt, ob es mir gelingen wird. Gegen Mittag, ich bin nun schon mehr als sechs Stunden unterwegs, bemerke ich eine aufkommende Müdigkeit nicht nur in den Beinen sondern auch in meinem Kopf. Also sollte ich eine etwas längere Pause einlegen, wobei sich die Frage stellt: Jetzt oder erst etwas später? Irgendwo hier auf den Wiesen, wenngleich kein halber Quadratmeter ohne Schafsmist zu erblicken ist oder weiterlaufen, bis mal eine schöne Stelle, eine Bank zum Verweilen einlädt? Ein Hotel mitten im Nirgendwo zwischen Deich und Feldern, aber abseits jedweder Zivilisation lasse ich links liegen (Wer verläuft sich als Gast hierher?). Es passt nicht ins Budget. Schließlich bietet sich eine Bank nebst Tisch perfekt an. Ich lasse mir meine Brote schmecken, nehme einen großen Schluck aus der Wasserflasche und versorge die ersten kleinen Blasen an den Außenseiten der rechten und linken Ferse. Dabei ist die rechte Blase schon ordentlich mit Wasser gefüllt, die linke drückt dagegen mehr. Also Rucksack auf, Medizintasche herausgenommen und das Nähzeug ausgepackt. Ich ziehe jeweils einen Faden durch die Blasen und klebe Pflaster drauf. Und dann niedergestreckt, die Füße hochgelegt und ich schlafe tatsächlich ein. Aber nur so lange oder kurz, bis ich vom eigenen Schnarchen wach werde. Inzwischen ist es 13:30 Uhr, seit acht Stunden bin ich unterwegs. Da noch gut zehn Kilometer vor mir liegen, raffe ich mich auf und laufe weiter meinen Stiefel. Die Wanderstöcke ticken rechts und links, geben Rhythmus und Tempo vor. Ich bin eine weitere Stunde auf einer asphaltierten Nebenstraße unterwegs, als mich plötzlich ein roter Golf überholt und immer langsamer wird. Noch vor wenigen Momenten habe ich darüber nachgedacht, welche Erlebnisse ich haben, welche Bekanntschaften ich schließen werde, wie gastfreundlich Deutschland 2016 ist und mir unaufgefordert Hilfe angeboten wird. Jetzt hält der Golf circa 30 Meter vor mir an. Die Fahrertür öffnet sich und ein rotblonder Wuschelkopf dreht sich heraus. Er fragt mich tatsächlich, ob ich mitgenommen werden möchte. Ich zögere kurz und überlege, ob das mit dem „Fahren“ auf meiner Wanderung okay ist. Das Nachdenken dauert aber auch wirklich nur ganz kurz, denn hier begegnet mir die gesuchte Freundlichkeit zum ersten Mal spontan auf der Straße. Und da ich auch ein freundlicher Mensch bin, nehme ich die Einladung gerne an, verstaue Rucksack und Stöcke auf den Rücksitzen und steige ein. Ich stelle mich mit meinem Vornamen vor und erfahre, dass meine Fahrerin, wir mögen im gleichen Alter sein, Jaqueline heißt und auch nach Husum will. Ich merke an, dass sie bei ihrem Vornamen wohl doch auch im Osten sozialisiert sein müsste, was sie mit einem herzhaften Lachen bejaht und mir erzählt, dass sie ursprünglich aus Magdeburg stammt. Ihren Freund lernte sie bei einem Tangofestival in Halle kennen und zog zu ihm nach Husum. Sie komme gerade von der Arbeit, just aus jenem Hotel, an welchem ich vorhin vorbeilief. Auf ihrem Weg in den Feierabend sah sie mich so dahinlaufen und dachte sich, sie nimmt mich halt mit. Ich berichte von meiner Herkunft, meinem Vorhaben und erfahre, dass hier immer mal wieder so verrückte Wandervögel unterwegs seien. Erst im letzten Herbst hätte sie eine junge Frau ein Stück mitgenommen, welche wohl aber auch im Freien übernachtete und Jaquelines Auto daher nach kurzer Zeit intensiv nach Schaf roch. Diese Gefahr bestünde bei mir nicht, erwidere ich, bestenfalls hätte um diese Zeit mein Deo versagt. Wir lachen und Jaqueline fährt mich schließlich bis zur Husumer Altstadt. Hier angekommen fragt sie mich, ob ich auch zur heutigen Jazznacht gehen würde, was ich mit Blick auf das anstehende EM-Viertelfinalspiel Deutschland-Italien und meinen Ermüdungszustand verneine. Wir verabschieden uns und ich bedanke mich herzlich für ihre Hilfe.
Für mich geht es nun weiter zu meinem Übernachtungsziel, einem Einfamilienhaus mit Pensionsbetrieb von Werner und Anita K., den Großeltern der Frau vom Cousin meines Freundes Holger. Mit meinem iPad zwecks Orientierung in der Hand laufe ich vielleicht 10 Minuten, als schließlich erneut ein Auto neben mir fährt und immer langsamer wird. Die Seitenscheiben werden heruntergelassen, jemand winkt mich heran. Nach einigen Wortwechseln stellt sich heraus, dass es sich um den Cousin handelt. Ich steige ein und zwei Minuten später sind wir vor Ort. Ich begrüße die Eheleute herzlich und richte die mir aufgetragenen Grüße aus. Als sie von meinem Vorhaben hören, schlagen sie die Hände über dem Kopf zusammen und zeigen mir schließlich mein Zimmer. Ich beziehe als letzter Pensionsgast überhaupt ein Zimmer im Obergeschoss. Das Haus ist verkauft und wird derzeit geräumt, die älteren Herrschaften, weit über 80 Jahre alt und seit 62 Jahren verheiratet, ziehen zu den Enkelkindern. Ich gehe erst mal duschen, behandele meine Füße und lege mich kurz hin. Anschließend laufe ich tatsächlich noch mal in die naheliegende Altstadt, esse ein Fischbrötchen und trinke zwei kleine Bier. Dabei sitze ich in der Sonne und habe zum ersten Mal ein entspanntes, zufriedenes Gefühl in mir. Diese Etappe, auf welche ich mich gefreut, aber zugleich davor Respekt hatte, ist geschafft. Ich habe die freundliche Jaqueline kennengelernt und ein Dach über dem Kopf bei netten Menschen gefunden, einfach herrlich!
Am Abend sitzen wir zu dritt am Küchentisch, essen Abendbrot und ich erfahre einiges aus dem bewegten Fischerleben von Werner und seiner Frau. Anschließend wechseln wir ins Wohnzimmer und schauen das spannende Fußballspiel samt Verlängerung und einem nicht enden wollenden Elfmeterschießen. Deutschland siegt, ich bedanke und verabschiede mich herzlich bei Werner und Anita Koch, denn morgen soll es ja wieder früh weitergehen. Mal schauen, wie es meinen Füßen und Beinen nach dieser Nacht dann geht.
Tagesbedarf: EUR 10, Gesamtverbrauch: EUR 10,
Gesamtstrecke: 59 km