Читать книгу Der unglaubliche Lauf der Fatima Brahimi - Jürgen Banscherus - Страница 6

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Normalerweise ist der erste Schultag nach den Ferien zum Gähnen langweilig – selbst wenn es sich nur um die superkurzen Pfingstferien gehandelt hat. Aber diesmal war es anders. Zur ersten Stunde brachte unser Klassenlehrer nämlich eine Neue mit. Dr. Alexander Brill gibt bei uns Deutsch – und das mit vollem Stimm- und Körpereinsatz.

»Das ist Fatima«, stellte er das Mädchen vor. »Eure neue Mitschülerin.«

»Die hat uns gerade noch gefehlt«, murmelte Jan.

»Was hast du gesagt?«

»Nichts, Herr Doktor Brill.«

Unser Klassenlehrer räusperte sich. »Na, das will ich auch hoffen, mein Lieber. Wo war ich? Ach ja: Fatima kommt aus Tunesien.«

»Algerien«, flüsterte das Mädchen. Es trug ein blassgrünes Kopftuch, das Haare, Hals und die halbe Stirn bedeckte, und dazu ein langes blassrotes Kleid. Sie war mindestens so dünn wie ich, und das will was heißen.

»Wie bitte?«, brüllte unser Klassenlehrer. Im Schiller-Gymnasium nennt ihn jeder »Doktor Brüll«.

Fatima zuckte zusammen. Wenn man den Brill nicht kennt und er gibt Vollgas, kann man es mit der Angst kriegen. Dabei ist er schwer in Ordnung, finde ich.

»Meine Familie kommt aus Algerien«, flüsterte Fatima.

»Ach ja …«

»Tunesien ist woanders«, fügte das Mädchen hinzu.

»Wie auch immer«, brüllte Dr. Brill und wieder zuckte die Neue zusammen. »Seid nett zu ihr. Wer wünscht sich Fatima als Tischnachbarin?«

Sofort meldete sich jemand. Aber es war nicht etwa eines der Mädchen, wie man vielleicht hätte erwarten können. Neben Charlotte zum Beispiel war seit Beginn des Schuljahrs ein Platz frei. Nein, ich hob den Finger. Ich, Jakob Ter-Owanesian. Doch ich tat das nicht, weil mir Fatima schon beim Hereinkommen sympathisch gewesen wäre und ich unbedingt neben ihr sitzen wollte. Ich hob den Finger, weil ich plötzlich mehr als dringend aufs Klo musste. Doch bevor ich das dem Brüll erklären konnte, donnerte der auch schon: »Du? Na prächtig!«

Dann beugte er sich zu Fatima hinunter. »Setz dich bitte zu unserem geschätzten Jakob«, sagte er.

»Darf ich zur Toilette?«, rief ich, bevor der Brüll weiterreden konnte. Ich hatte echt Angst, dass gleich ein Unglück passierte. Alarmstufe Rot sozusagen.

»Schwing die Hufe!«, rief Doktor Brill und ich rannte aus dem Klassenzimmer, hinter mir das Gelächter meiner Mitschüler.

So kam es, dass ich wahrscheinlich der einzige Schüler in der Geschichte des Schiller-Gymnasiums bin, der eine Tischnachbarin kriegte, weil er aufs Klo musste. Als ich erleichtert in den Klassenraum der 5a zurückkehrte, hatte Fatima bereits einen Block aus ihrer Schultasche gezogen und schrieb eifrig mit, was uns der Brüll über die nächste Klassenlektüre erzählte.

Auch aus der Nähe betrachtet, schien die Neue nur aus Haut und Knochen zu bestehen. Die Nase ragte spitz aus ihrem vom Kopftuch umrahmten Gesicht, zwischen den pechschwarzen Augenbrauen war eine tiefe Falte zu sehen. Bestimmt merkte Fatima, dass ich sie beobachtete. Aber sie würdigte mich keines Blickes.

In der ersten großen Pause kam Nick zu mir. Normalerweise war er mit seinen Freunden Jan, Finn-Ole und Kaspar auf dem Schulhof unterwegs und heckte irgendwelchen Unsinn aus. Mädchen ärgern, gut durchgekaute Kaugummis auf Türklinken kleben und so was. Mich hatte er nie gefragt, ob ich mitmachen wollte. Mit mir sprach, wenn ich ehrlich sein soll, sowieso nur selten jemand.

»Na?«, sagte er.

»Ja?«, fragte ich.

»Wie ist sie?«, wollte er wissen.

Ich stellte mich dumm. »Wer?«, fragte ich.

»Das weißt du genau!«

»Nö.«

»Die Neue. Diese Fatima!«

»Ach so.«

»Und?«

»Keine Ahnung«, antwortete ich.

»Komm schon!« Nick blieb hartnäckig. »Du wolltest doch unbedingt, dass sie neben dir sitzt!«

»Stimmt ja gar nicht!«

»Stimmt wohl!«

»Ich musste aufs Klo«, erwiderte ich. »Deshalb habe ich mich gemeldet.«

»Die ist irgendwie komisch«, sagte Nick.

»Komisch?«

»Wie die schon aussieht!«

»Wie denn?«

»Wie ihre eigene Oma!«

»Mir egal«, knurrte ich und ließ Nick stehen. Er trottete ohne brauchbare Informationen zu seinen Freunden zurück, die neben der Turnhalle auf ihn warteten. Bis jetzt hatten mich die vier in Ruhe gelassen. Ich hoffte sehr, dass es so blieb.

Nach der Pause trafen Fatima und ich fast gleichzeitig im Klassenzimmer ein. In der nächsten Stunde hatten wir Bio, Frau Lantermann kam meistens zu spät.

»Hallo«, sagte ich.

»Hallo«, flüsterte Fatima, ohne mich dabei anzuschauen. Die kahle Wand hinter mir schien interessanter zu sein.

»Ich heiße übrigens Jakob«, fuhr ich fort. Keine Ahnung, was ich sonst hätte sagen sollen. Immerhin hatte ich während der letzten neun Monate allein an meinem Tisch gesessen. Da vergisst man ein bisschen, wie man ein Gespräch mit einem wildfremden Menschen beginnt.

»Ich weiß.«

Natürlich wusste sie es. Schließlich hatte ihr der Brüll meinen Namen gesagt.

»Na dann …«, sagte ich.

Sie nickte. Meine Eltern hatten mir schon früh beigebracht, andere Leute beim Sprechen anzuschauen. Das Mädchen aus Nordafrika schien das noch lernen zu müssen.

»In welchen Fächern bist du gut?«, machte ich einen letzten Versuch, Fatima zum Reden zu bringen.

»Sport«, flüsterte sie, während sie angestrengt in ihrer Schultasche kramte.

»Sport?« Ich verkniff mir nur mit Mühe ein Grinsen. Sport mit Kopftuch und Omakleid? Wie sollte das denn funktionieren?

»Etwa Schach?«, fragte ich weiter. Es sollte ein Scherz sein. Aber Fatima machte ein Gesicht, als hätte sie den Witz nicht verstanden. Vielleicht sollten mir ihre hochgezogenen Augenbrauen aber auch zeigen, dass sie mich für einen ausgewachsenen Blödmann hielt.

Bevor Fatima mir hätte antworten können, betrat Frau Lantermann das Klassenzimmer – wie fast immer fünf Minuten zu spät. Und wie immer umwehte sie ein intensiver Nikotingeruch. In den großen Pausen qualmte sie ihren alten Polo voll, das hatten Jan und seine Freunde entdeckt.

Als unsere Biolehrerin meine Nachbarin erblickte, blieb sie stehen. »Du bist bestimmt Fatima«, sagte sie. Fatima lächelte unsere Lehrerin an und gab ihr bereitwillig die Hand. Aha, so sah es aus, jetzt verstand ich: Meine neue Nachbarin wollte mich nicht anschauen. Na, mir sollte es egal sein. Ab jetzt würde ich Fatima genauso übersehen wie sie mich. Außerdem nahm ich mir fest vor, mit Charlotte zu reden. Vielleicht hatte sie ja Lust, Fatima als Tischnachbarin zu übernehmen. Mit Jungen schien das Mädchen echt nichts am Hut zu haben. Oder sagen wir besser – am Kopftuch.

»Wir werden sicher gut miteinander auskommen«, fuhr Frau Lantermann fort.

»Bestimmt«, murmelte Jan. Er muss alles und jedes kommentieren, er kann nicht anders.

»Hast du was gesagt, Jan?«

»Nein, Frau Lantermann.«

»Da bin ich aber froh!«

Der unglaubliche Lauf der Fatima Brahimi

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