Читать книгу Der unglaubliche Lauf der Fatima Brahimi - Jürgen Banscherus - Страница 9

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Ich bin nicht besonders mutig, das muss ich zugeben. Wenn es brenzlig wird, sehe ich zu, dass ich mich so schnell wie möglich an einen sicheren Ort verdrücke. Damit bin ich eigentlich immer sehr gut gefahren.

Aber jetzt wollte sich Jan Fatima vorknöpfen und das fand ich unfair. Schließlich hatte ihm das Mädchen nichts getan, nicht absichtlich jedenfalls. Dass Fatimas Ball ausgerechnet ihn getroffen hatte, war einfach Pech – vor allem für die Neue.

Vor ein paar Monaten hatte sich Jan mit einem viel größeren Jungen aus der Siebten angelegt, weil der ihm auf den Fuß getreten war. Irgendwann hatten Finn-Ole und Nick Jan mit Gewalt zurückhalten müssen. Sonst hätte er seinen Gegner ins Krankenhaus geprügelt.

Ich schaltete drei Gänge hoch und beschleunigte meinen Tritt. Schon nach wenigen Metern überholte ich Jan und hatte bald Fatima erreicht.

»Jan ist hinter dir her!«, rief ich ihr zu, nachdem ich wieder zu Atem gekommen war. Mir war wieder ein bisschen schwindlig, komisch. Aber ich versuchte, es nicht zu beachten.

»Der ist stinkwütend auf dich! Setz dich auf den Gepäckträger, ich bringe dich nach Hause! Mach schon!«, brüllte ich. Doch sie schüttelte nur energisch den Kopf und erhöhte gleichzeitig ihr Tempo.

»Er wird dich verprügeln!«, rief ich.

»Wird er nicht!«, rief sie zurück. Mit einer raschen Bewegung warf sie mir ihre Schultasche zu und rannte weiter. Die scheußlichen pinkfarbenen Turnschuhe schienen ihr Flügel zu verleihen.


Ich hängte die Tasche an den Lenker und fuhr in einigem Abstand hinter Fatima her. Es dauerte nicht lange und Jan schloss zu mir auf. Sein Gesicht war puterrot, die Augen waren weit aufgerissen, er schnappte nach Luft. Hecht beim Landausflug sozusagen.

»Die dumme Kuh kann was erleben!«, japste er, während er mich überholte. »Und du auch, Spinner!«

Das hatte ich nun davon. Statt mich aus der Geschichte rauszuhalten, hatte ich mir Jan zum Feind gemacht. Er war nicht der Typ, der vergessen würde, dass ich Fatima geholfen hatte.

Währenddessen ging die Verfolgungsjagd weiter. Wenn ich es richtig einschätzte, verringerte sich der Abstand zwischen den beiden aber nicht mehr. Fatima lief nach wie vor leicht wie eine Gazelle, die Schritte ihres Verfolgers wurden dagegen immer schwerfälliger. Er rollte nicht mehr über Mittelfuß und Ferse ab, wie es Fatima tat. Stattdessen ließ er die gesamte Fußsohle auf den Boden klatschen. Praktisch Plattfußindianer. Das hätte ihm jeder Lauftrainer auf der Welt als Erstes abgewöhnen müssen.

Aber noch gab Jan nicht auf.

Fatima schaute sich kein einziges Mal um. Sie schien sich ihrer Sache vollkommen sicher zu sein. Jan war kein Gegner für sie. Ich beobachtete, wie sich nun mit jedem Schritt der Abstand zwischen den beiden vergrößerte. Das schmale Mädchen aus Nordafrika lief einfach in einer anderen Liga.

Wir waren nicht mehr weit von der Bushaltestelle Berliner Straße entfernt, als Jans Schritte mit einem Mal langsamer wurden und er schließlich stehen blieb. Sein Atem ging keuchend, er beugte sich nach vorn. Dann ergoss sich aus seinem Mund ein gelblich brauner Schwall halb verdauter Frühstücksbrötchen auf den Bürgersteig. Jan ging in die Knie und verharrte so, bis er nicht mehr spucken musste.

Einen Augenblick später hielt ich neben ihm. »Kann ich dir helfen?«, fragte ich.

Jans Gesicht war leichenblass, um den Mund herum waren Spuren von Erbrochenem zu sehen. Kein schöner Anblick, echt nicht. Er schüttelte den Kopf. Sprechen schien er noch nicht wieder zu können. Und das wollte bei ihm was heißen.

»Kommst du allein klar?«

Er schaute mich mit glasigen Augen an und nickte.

Inzwischen war Fatima in die Berliner Straße eingebogen. Vor dem Haus Nummer 14 war sie stehen geblieben und wartete auf mich. Ihr Gesicht war nur leicht gerötet. Ihr Atem ging ein bisschen schneller, aber bei Weitem nicht so schnell wie der von Jan. Das Kopftuch war während des Laufs verrutscht, für ein paar Sekunden sah ich ihre lockigen pechschwarzen Haare. Dann hatte sie es wieder so festgebunden, dass nur der Bereich zwischen Stirn und Kinn hervorschaute. Ich hätte zu gern Fatimas Ruhepuls gewusst. Bestimmt lag er nicht höher als 50 Schläge pro Minute, sonst hätte sie jetzt mehr gepumpt.

Wenn ich dem Kilometerzähler an meinem Fahrrad trauen konnte, hatte Fatima gerade fast 5000 Meter hinter sich gebracht. Fünf Kilometer mit langem Kleid, engem Kopftuch und abgelatschten Turnschuhen! Leider hatte ich vergessen, die genaue Zeit zu nehmen. Aber sie lag auf jeden Fall unter 25 Minuten.

»Meine Tasche«, sagte sie nur.

Ich stieg ab und reichte sie ihr. »Du brauchst Training«, sagte ich. »Unbedingt!«

Zum ersten Mal, seit ich sie kannte, lächelte sie. Es war ein breites Lächeln, das auch die letzte Spur von Schüchternheit aus ihrem Gesicht vertrieb. »Ich?«, rief sie. »Jan braucht Training! Wo steckt er eigentlich?«

»Der hockt irgendwo dahinten und k… Na, du weißt schon«, antwortete ich. »Dem hast du’s gezeigt!«

Fatima zuckte mit den Schultern und wandte sich zum Gehen. »Danke, dass du mich vor ihm gewarnt hast«, sagte sie und fügte hinzu: »Und dass du meine Tasche mitgenommen hast.«

»Schon okay«, erwiderte ich und fragte dann: »Zwei Runden im Stadion unter drei Minuten – bist du dir da ganz sicher?« Da war sie wieder, meine Macke. Ich kam einfach nicht dagegen an. Fatima wäre gerade eben fast verprügelt worden und das Einzige, was mir dazu einfiel, waren 800-Meter-Zeiten!

»Eigentlich schon«, antwortete sie.

Ich wollte ihr erklären, dass sie ein Jahrhunderttalent sei und deshalb unbedingt Training brauche. Wollte ihr sagen, dass sie schon jetzt ohne Kopftuch und Kleid und mit vernünftigen Spikes mindestens zehn oder vielleicht sogar zwanzig Sekunden schneller laufen könne. Dass sie damit in allen Bestenlisten ihrer Altersklasse ganz vorn stünde. Wollte ihr erklären, dass ich ihr gern helfen würde, eine Spitzenleichtathletin zu werden. Wollte ihr etwas über Weltrekorde erzählen und über Läuferinnen, die bei den Olympischen Spielen Gold gewonnen hatten.

Aber dazu kam ich nicht mehr. Im ersten Stock des Hauses öffnete sich ein Fenster und ein verstrubbelter Jungenkopf schaute heraus. »Du sollst sofort raufkommen, Fatima!«, krähte er. Offenbar hatte man uns von drinnen beobachtet.

Fatima rief irgendwas, das ich nicht verstand, sagte »Tschüss, Jakob!« und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Der unglaubliche Lauf der Fatima Brahimi

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