Читать книгу Der unglaubliche Lauf der Fatima Brahimi - Jürgen Banscherus - Страница 7

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Nach Schulschluss packte meine neue Tischnachbarin ihre Sachen zusammen und verließ wortlos unser Klassenzimmer. Ich war wie üblich mit dem Fahrrad zur Schule gefahren und musste es erst zwischen den Rädern, die links und rechts des Eingangsportals standen, hervorholen. Als ich es endlich geschafft hatte, war Fatima schon verschwunden.

Kurz vor der Berliner Straße, in der wir in einem von meiner Mutter höchstpersönlich entworfenen Haus wohnen, sah ich sie plötzlich den Bürgersteig entlangrennen. Eigentlich hatte ich ja gerade erst beschlossen, sie nicht mehr zu beachten. Aber seit der Biostunde kitzelte mich eine Frage, die ich unbedingt loswerden musste. Deshalb schaltete ich in den höchsten Gang und gab Vollgas.

In der Nähe der Container-Siedlung, in der seit ein paar Jahren Flüchtlinge untergebracht waren, hatte ich Fatima eingeholt.

»Hey!«, rief ich.

Sie nickte nur, ohne ihr Tempo zu verringern und ohne mich anzuschauen. Was anderes hätte mich nach dem, was ich in der Schule erlebt hatte, auch echt gewundert. Ich schaltete ein paar Gänge tiefer und radelte neben ihr her.

»Wohnst du hier?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wo dann?«, fragte ich weiter.

»Berliner Straße!«

Das gab’s ja gar nicht!

»Ich auch!«, rief ich. »Welche Nummer?«

»14!«

»Ich wohne in der 84! Hast du gerade den Bus genommen?«

Sie schaute mich erstaunt an. Zumindest guckte sie in meine Richtung. Das war doch schon mal was.

»Nein.«

»Wie bist du dann hergekommen?«, fragte ich.

»Zu Fuß.«

»Den ganzen Weg?«

Sie nickte.

Ich warf einen raschen Blick auf meine Armbanduhr. Fatima hatte für die Strecke zwischen Schiller-Gymnasium und Berliner Straße offenbar nicht mehr Zeit als der Bus gebraucht. Das war unglaublich. Ach was, das war außerirdisch!

»Jetzt bleib doch mal stehen!«, rief ich. Obwohl sie ihr Tempo nicht verringerte, schien sie kaum außer Puste zu sein. Für mich galt das ganz und gar nicht. Meine Oberschenkel begannen bereits zu brennen.

»Warum?«

Ja, wieso eigentlich? Weil sie zu schnell für mich war? Weil ich sie unbedingt noch fragen musste, warum sie mich in der Schule nicht angeschaut hatte, Frau Lantermann aber wohl? Keine Ahnung. Jedenfalls bog sie plötzlich ab und verschwand ohne Abschied in dem Haus direkt neben der Pizzeria Rimini.

Bevor die Wohncontainer aufgestellt worden waren, wohnten hier Flüchtlingsfamilien. Einmal hatte ich mich mit einem Jungen angefreundet. Ali hieß er. Er hatte mir Handstand beigebracht und ich ihm ein paar Brocken Deutsch. »Ich heiße«, »ich wohne«, »ich suche«, »wie viel kostet« und so was. Aber dann war er mit seinen Eltern und seinen vier Schwestern in eine andere Stadt gezogen und ich hatte nie mehr was von ihm gehört.

Warum ich mich von diesem Tag an eigentlich nur noch für Fatima interessierte? Besser gesagt für ihr unglaubliches Lauftalent? Warum ich mit dem Gedanken daran ins Bett ging und am Morgen aufstand? Das hat wohl mit meiner Leidenschaft für Zeiten zu tun. Von den 1500 Metern der Männer bei den Olympischen Spielen 1972 in München (es gewann der Finne Pekka Vasala in 3:36,33 Minuten) bis zu den 3000 Metern Hindernis in London (es siegte Ezekiel Kemboi aus Kenia in mäßigen 8:18,56 Minuten) – in meinem Kopf war eine gigantische Menge von Daten gespeichert. Aber nicht nur von Ergebnissen bei Olympischen Spielen oder Welt- und Europameisterschaften in der Leichtathletik. Las ich in der Zeitung einen Artikel über ein popeliges Bezirkssportfest irgendwo in der Pampa, merkte ich mir auch Namen und Siegerzeit einer unbekannten 1000-Meter-Läuferin.


Mein Vater hätte gern gesehen, wenn ich selbst ein berühmter Läufer oder Weitspringer wie Igor Ter-Owanesian geworden wäre. Deshalb hatten mich meine Eltern schon mit sechs in einem Sportverein angemeldet. Aber ich gehörte immer zu den Langsamsten. Und beim Weitsprung schaffte ich es kaum bis in die Grube. Deshalb war meine Sportlerlaufbahn auch schon nach einem Jahr beendet. Was von meiner Karriere blieb, war die Macke, alle Zeiten auswendig zu kennen. Mein Vater behauptet, ich könnte bei jeder Quizsendung im Fernsehen gewinnen. Mal sehen, vielleicht melde ich mich irgendwann für eine an.

In den ersten Wochen des Schuljahrs hatte ich mit meinen Kenntnissen zu glänzen versucht. Seitdem hielten mich die meisten meiner Klassenkameraden für komplett bescheuert. »Spinner« nannten sie mich, keine Ahnung, wer damit begonnen hatte. Am Anfang hatte ich ein Problem damit. Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran.

»Wir haben eine Neue gekriegt«, erzählte ich meinem Vater beim Mittagessen. Es gab Bohneneintopf mit Brühwurst. Aus Armenien stammte das Gericht garantiert nicht. Dort schmeckt alles nach Schwarzkümmel, Koriander und anderen seltsamen Gewürzen. Wir hatten im Jahr zuvor meine Großeltern besucht. Es hatte ein paar Tage gedauert und einige Liter Kamillentee gebraucht, bis sich mein Magen an das fremde Essen gewöhnt hatte. Inzwischen mochte ich es ganz gern – jedenfalls lieber als Bohnen mit Brühwurst.

»Fatima kommt aus Algerien«, fuhr ich fort.

»Aha.«

»Sie sitzt neben mir.«

»Schön.« Mein Vater nahm sich eine zweite Portion Bohneneintopf. Er kann so viel essen, wie er will, er nimmt nicht zu. Meine Mutter findet das gemein.

»Außerdem wohnt sie in unserer Straße«, sagte ich. »In dem Haus neben der Pizzeria.«

»Na, wunderbar.« Er steckte sich ein viel zu großes Stück Wurst in den Mund. »Vielleicht kannst du dich ja mit ihr treffen!«, nuschelte er. »Wäre doch schön, eine Freundin zu haben!«

»Treffen? Mit Fatima?« Ich lachte. »Die schaut mich nicht mal an! Die guckt weg, wenn ich mit ihr rede!«

Bevor wir unser Gespräch fortsetzen konnten, meldete sich meine Mutter aus Dubai. Wir haben auf dem Computer Skype installiert. Da konnten wir reden und uns dabei sehen. Es wurde höchste Zeit, dass Mama nach Hause kam – und das nicht nur, weil sie viel besser kocht als mein Vater.

Sie berichtete, dass sie gerade mit dem Innenausbau des Hotels begonnen hätten, dass das bei vierhundert Zimmern und Suiten keine Kleinigkeit sei und dass es jeden Tag neuen Ärger mit den Handwerkern gebe. Auf meine Frage, wann sie endlich nach Hause komme, antwortete sie, dass sie das nicht so genau wisse, dass es aber bestimmt nicht mehr lange dauern werde. Bevor sie auflegte, warf sie uns noch über 5000 Kilometer eine Kusshand zu. Oder besser: zwei. Eine für meinen Vater und eine für mich.

Auf dem Weg in mein Zimmer blieb ich vor dem großen Flurspiegel stehen und unterzog mich einer gründlichen Prüfung. Anders als meine Mutter machte ich das nur selten, aber an diesem Tag musste es sein. Vielleicht lag es daran, dass jetzt in der Schule ein Mädchen neben mir saß.

Vor mir stand ein schmaler Junge in geflickter Jeans und mit schwarzem T-Shirt, etwa vierzig Kilo und ein paar Gramm schwer und knapp über 1,60 Meter groß. Arme zu dünn, Beine zu dünn, Füße viel zu groß. Trotzdem gab es keinen Grund, mir über mein Aussehen Gedanken zu machen. Hässlich war ich nicht, da gab es andere in der 5a.

In meinem Zimmer fuhr ich den Rechner hoch und sah mir in den nächsten Stunden auf YouTube Aufzeichnungen der letzten Olympiaden an. Die olympischen Rekorde von 100 Metern bis zum Marathonlauf kannte ich bis auf die Hundertstelsekunde auswendig. Bei den Frauen fehlten mir noch einige Zeiten. Und ich wusste, dass ich sie am besten behielt, wenn ich mir die Rekordläufe anschaute. Da mussten die Schularbeiten warten.


Der unglaubliche Lauf der Fatima Brahimi

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