Читать книгу Der unglaubliche Lauf der Fatima Brahimi - Jürgen Banscherus - Страница 8

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Der nächste Schultag verlief ereignislos. Total tote Hose sozusagen. Hätte ich mir nicht die 5000-Meter-Zeiten der Frauen bei den letzten Leichtathletik-Weltmeisterschaften einzuprägen versucht, wäre ich spätestens in der zweiten Stunde in Tiefschlaf verfallen. Fatima hockte stumm wie ein schwarzäugiger Fisch neben mir und schrieb alles mit, was die Lehrer von sich gaben. Wahrscheinlich notierte sie sogar die zahllosen »Ähs« von Herrn Leineweber, unserem Geschichtslehrer. Irgendwann hatte ich versucht, sie zu zählen. Bei 124 »Ähs« hatte ich das Handtuch geworfen – und da waren es immer noch zehn Minuten bis zum Ende des Unterrichts gewesen. Ein paar Mal schauten Jan und seine Freunde zu mir herüber. Als sie aber feststellten, dass sich zwischen Fatima und mir nichts abspielte, schienen sie das Interesse zu verlieren.

Nach der letzten Stunde gehörte meine neue Tischnachbarin zu den Ersten, die das Klassenzimmer verließen. Wie am Tag zuvor rannte sie den Weg nach Hause. Ich hatte inzwischen festgestellt, dass sie Straßenschuhe mit dünnen Sohlen trug. Eigentlich hätte sie gleich barfuß rennen können – wie der geniale äthiopische Marathonläufer Abebe Bikila bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom. Fatima und ich hatten den Morgen über kein Wort miteinander gesprochen. Deshalb sah ich keine andere Chance, als meine Frage jetzt loszuwerden.

»Bleib stehen!«, japste ich, nachdem ich sie mit meinem Fahrrad eingeholt hatte. Mir war plötzlich ein bisschen schwindlig, es dauerte einen Moment, bis sich die Fahrbahn nicht mehr bewegte. Dabei war ich mit meinem Vater in den Osterferien 80 Kilometer über einen Radwanderweg gefahren, ohne schlappzumachen.

»Ich will doch nur was wissen!«, rief ich, weil Fatima nicht reagierte.

Endlich verlangsamte sie ihre Schritte. Dann blieb sie stehen. Noch immer schaute sie mich nicht an.

»Ist schon mal gestoppt worden, wie schnell du bist?«, fragte ich.

Sie nickte.

»Auf welcher Strecke?«

Sie flüsterte etwas, das ich nicht verstand.

»Wie bitte?«

»Zwei Runden im Stadion«, antwortete sie. »In der Grundschule. Letzten Sommer.«

Nicht zu fassen, das war ja fast ein ganzer Satz!

»In welcher Zeit bist du die 800 Meter gelaufen?«, ließ ich nicht locker.

»Unter drei Minuten.«

»Genauer weißt du es nicht?«

»Nein.«

»Gab’s denn keine Stoppuhr?«, fragte ich weiter.

»Nur eine Armbanduhr.«

Jan war ein Großmaul. Aber er war auch der mit Abstand beste Läufer in der ganzen Unterstufe. 2 Minuten, 50 Sekunden und 7 Hundertstel hatte er beim letzten Sportfest für die 800 Meter gebraucht. Dafür hatte er eine besondere Auszeichnung bekommen. Er hatte sogar mit Bild und Urkunde in der Zeitung gestanden. Und dieses spindeldürre Mädchen im Oma-Look wollte schon vor einem Jahr fast genauso schnell gewesen sein?

»Und was hat deine Lehrerin zu der Zeit gesagt?«

»Nichts.«

»Gar nichts?«

»Gar nichts.«

»Glaube ich nicht«, sagte ich. Jeder Mensch, der nur ein bisschen was von Sport verstand, hätte Fatima sofort in einem Verein anmelden müssen. Oder besser gleich in einem Olympiastützpunkt. Wenn die Zeit wirklich stimmte, hatte Fatimas Lehrerin keine Ahnung von Leichtathletik. Und das konnte ich mir nicht vorstellen.

»Welche Note hat sie dir in Sport gegeben?«, wollte ich wissen.

»Eine Drei«, antwortete Fatima.

»Nur eine Drei?«, rief ich. »Und du hast dich nicht dagegen gewehrt?«

»Wehren? Gegen eine Lehrerin?«, murmelte sie und begann wieder zu laufen.

Als ich nach Hause kam, war mein Vater nicht da. Dafür klingelte das Telefon.

»Hier ist Marie«, hörte ich eine vertraute Stimme. Marie ist unsere Klassensprecherin. Und das hübscheste Mädchen der Schule. Und total schlau. Und gut in Sport. Und supernett. Und blond. Und sie hat blaue Augen. Und Beine bis mindestens zum Hals. Alle Jungs sind in sie verliebt … glaube ich.

Ich schluckte. »Ma… Ma…?«, stotterte ich.

»Ich wollte dich zu meiner Geburtstagsparty einladen«, fuhr sie fort.

»Du … du … meinst …« Himmel, das blöde Stottern wurde immer schlimmer! Ich rede nicht besonders viel. Aber gestottert hatte ich noch nie.

»Du kommst doch?«, fragte sie.

»K… k… klar.«

»Morgen Nachmittag um drei?«

»Danke.«

Das war nun irgendwie nicht die beste Antwort auf Maries Frage, aber was anderes brachte ich nicht heraus. Unfallfrei, meine ich. Sie erklärte mir noch genau, wo sie wohnte, und legte auf. Und ich? Ich musste erst mal tief durchatmen. Meine erste Einladung zu einer Geburtstagsfeier bei jemandem aus meiner Klasse – und das ausgerechnet bei Marie!

Tags darauf hatten wir in der letzten Stunde Sport. Herr Schrage, unser Sportlehrer, war früher ein richtig guter Ringer gewesen. Er hatte sogar an zwei Olympischen Spielen teilgenommen. In Los Angeles und Seoul. Eine Medaille hatte er nicht gewonnen, hatte es aber jedes Mal bis in die dritte Runde geschafft. Das hatte ich überprüft, schließlich brauchte ich dafür bloß den Rechner hochzufahren.

Herrn Schrages Ohren sahen irgendwie ausgefranst aus, was bei seiner für gewöhnlich spiegelblank gewienerten Glatze besonders auffiel. Das käme vom Ringen, hatte er uns gleich zu Beginn des Schuljahrs erzählt und hinzugefügt, dass solche hübschen Lauscher unter Profis gar nicht so selten seien. Wer es von uns wagen sollte, sich über seine »Blumenkohlohren« lustig zu machen, müsse damit rechnen, von ihm umgehend auf die Matte gelegt zu werden. Und das werde kein Vergnügen sein, das könne er uns versprechen. Jan hatte seine Drohung natürlich ausgetestet und danach eine Woche lang kaum gehen können. Aber seitdem war er der größte Fan unseres Sportlehrers.

»Wen haben wir denn da?«, begrüßte Herr Schrage Fatima, nachdem wir uns in der Turnhalle aufgestellt hatten.

»Ich heiße Fatima«, flüsterte sie.

»Aha.« Unser Sportlehrer betrachtete sie nachdenklich. Sie schaute vor sich auf den Boden, als gäbe es dort etwas Spannendes zu sehen, eine Vogelspinne zum Beispiel oder eine Königskobra. Aber da war nur hellbraunes abgenutztes Parkett.

»Heute steht Volleyball auf dem Programm«, erklärte er. »Da ist ein langes Kleid ziemlich lästig, finde ich. Und das Kopftuch willst du wirklich aufbehalten?«

»Klar will sie das!«, rief Jan. »Wahrscheinlich ist sie sonst hässlich wie die Na…!«

»Habe ich dich gefragt?«, unterbrach ihn Herr Schrage.

»Nee. Entschuldigung«, murmelte Jan.

»Also: Willst du das Kopftuch aufbehalten, Fatima?«, wiederholte unser Sportlehrer seine Frage.

Sie nickte.

»Na gut.«

Erst jetzt schien er zu bemerken, dass das Mädchen als Einzige mit nackten Füßen vor ihm stand. »Aber das geht nun überhaupt nicht«, sagte er. »Barfuß kannst du dich viel zu leicht verletzen. Hast du keine Turnschuhe dabei?«

Sie schüttelte den Kopf. Immer noch schaute sie nicht hoch.

Eine Schülerin mit Kopftuch, langem Kleid und ohne Sportschuhe – das hatte Herr Schrage offenbar noch nie erlebt.

Doch plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. »Welche Schuhgröße hast du?«, wollte er von Fatima wissen.

»Sechsunddreißig.«

Unser Sportlehrer verschwand und kehrte mit zwei Paar Turnschuhen zurück: das eine in einem außergewöhnlich scheußlichen Pink, das andere in einem sensationell verwaschenen Weiß.

»Welches Paar möchtest du?«, fragte er.

»Pink«, flüsterte Fatima. Wie es aussah, war ihr die Situation mehr als peinlich. Wäre mir wahrscheinlich genauso gegangen, wenn ich vor der ganzen Klasse hätte zugeben müssen, nicht mal Turnschuhe zu besitzen.


Nach diesem Vorspiel wurde es eine Sportstunde wie immer, zumindest sah es zunächst so aus. Fatima schien zum ersten Mal in ihrem Leben Volleyball zu spielen. Wenn sie tatsächlich den Ball bekam, machte der, was er wollte. Beim Baggern – zugegeben, die Technik ist nicht einfach, ich beherrsche sie auch nicht besonders gut – flog er unkontrolliert in alle Richtungen und schließlich Jan mitten ins Gesicht. Blattschuss, voll auf die Glocke. Sofort schossen ihm Tränen in die Augen.

»Blöde Kuh!«, rief er, schnappte sich den Ball und warf ihn mit voller Wucht zurück. Fatima duckte sich gedankenschnell weg und der Ball hätte Herrn Schrage in den Bauch getroffen, hätte der ihn nicht im letzten Moment gefangen.

»Schluss mit dem Unsinn!«, rief er.

»Das hat sie extra gemacht!«, protestierte Jan. Er wischte sich über die Augen, seine Stimme klang gepresst.

»Hat Fatima nicht«, mischte sich Marie ein. »Beim Baggern kann das jedem passieren.«

»Stimmt.« Jan schniefte. »Wenn man zu dumm ist, kann das passieren. Die sieht mit ihrem doofen Kopftuch ja auch nichts!«

»Schluss jetzt!«, wiederholte Herr Schrage. Er schaute auf seine Armbanduhr. »Wir laufen gemeinsam ein paar lockere Runden und dann schicke ich euch ins Wochenende. Bis zum Ende der Stunde will ich Ruhe haben, verstanden?«

Damit wandte er sich an Fatima. »Nimm die Schuhe ruhig mit nach Hause. Ich glaube nicht, dass noch jemand nach ihnen fragen wird. Und wenn doch, weiß ich ja, wer sie hat.«

Später in der Umkleidekabine beobachtete ich, wie Jan, Nick, Kaspar und Finn-Ole die Köpfe zusammensteckten und aufgeregt miteinander redeten. Die Schwellung unter Jans rechtem Auge war inzwischen unübersehbar. Ich spitzte die Ohren, um mitzubekommen, was die vier ausbrüteten. Aber es war um mich herum zu laut.

»Blöde Kuh«, sagte Jan zu mir, als wir die Sporthalle verließen.

»Wer? Ich?«

Er boxte mich so fest in die Seite, dass mir für ein paar Sekunden die Luft wegblieb. Kann sein, dass er mir, ohne es zu wollen, einen Leberhaken versetzt hatte. Vielleicht war es aber auch Absicht gewesen, bei Jan weiß man nie. »Nicht du, Idiot! Deine Fatima! Die hässliche Kopftuch-Schraube!«

»Das ist nicht meine Fatima«, widersprach ich.

»Die kann was erleben«, sagte er, während ich auf mein Rad stieg. Er wollte noch was hinzufügen, da rief Finn-Ole: »Ey, Jan! Da vorn läuft sie!«

Finn-Ole täuschte sich nicht: Vielleicht 200 Meter von uns entfernt rannte Fatima die Straße hinunter. Kopftuch, langes Kleid, pinkfarbene Turnschuhe, hin und her schlenkernde Tasche – es konnte niemand anderes sein.

Jan warf seinem Freund die Schultasche zu. »Halt die mal für ’n Moment!«,

sagte er. Dabei grinste er so breit, dass seine Mundwinkel fast die Ohren küssten. »Jetzt wird’s lustig!«

Der unglaubliche Lauf der Fatima Brahimi

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