Читать книгу Oskar trifft die Todesgöttin - Jörgen Dingler - Страница 7
ОглавлениеEins.
Wien, Mai 2011
Man stirbt nicht an so einem herrlichen Vorsommertag
dachte sich der blonde Anzugträger. Seine eisblauen Augen stierten ins Nichts des milchig-staubigen Zugfensters. Er war einem ehemaligen Programmierer wie aus dem Gesicht geschnitten. Nur war dieses Gesicht kalt und glattrasiert. Auch die akkurat kurzgeschnittenen Haare waren so gar kein Kurt Cobain-Look. Der Programmierer hatte niemals einen Anzug getragen, schon gar nicht als einer der Auserwählten der ‚Spielwiese‘. Im Gegensatz zu dem jungen Wilden in Irland wies das Gesicht des Anfangvierzigers reife, männliche Gesichtszüge auf. Dieser Mann trug gut geschnittene Anzüge und tötete niemals im Affekt.
Er saß in der U4, bei der ein Großteil der Strecke oberirdisch verläuft. Sie fuhren parallel zu etwas, was den selben Namen wie die Stadt trägt. Die zweite Gemeinsamkeit mit dem Los Angeles River ist, dass die Wien ihre Zeiten als richtiger Fluss oder zumindest Flüsschen längst hinter sich hat. Wie der südkalifornische Schicksalsgefährte ist der Wien-Fluss nurmehr ein Rinnsal in einer zu groß geratenen Betonwanne.
Sonnenstrahlen huschten über Oskar Randows Gesicht. Bilder vor seinem innerem Auge zeigten das angstverzerrte Gesicht eines Mannes. Der Mann befand sich im Inneren des Jugendstil-Pissoirpavillons eines Parks und war nun mit jemandem allein, der Schlimmes verhieß. Er wusste, dass er sterben würde. Seine letzten Worte waren ein einfaches »Warum jetzt?«. Der kalte Blonde, an den er das adressiert hatte, antwortete »Weiß nicht, nimm‘s nicht persönlich« und gab zwei Schüsse aus einer schallgedämpften Handfeuerwaffe ab. Das Gesicht des Blonden war das Letzte, was der Mann sah. Der nachdenkliche Blick aus eisblauen Augen passte so gar nicht zu dem reglos kalten Gesicht des Killers.
Ein Pissoir war in mehrerlei Hinsicht ideal für die Ausübung eines kleines Geschäftes. Es war garantiert nicht mit Damen zu rechnen, die den Anblick eines Toten mit lautem Kreischen quittieren würden. Wenn‘s dumm lief, grad dann, wenn man noch in der Nähe war.
Man stirbt doch an so einem herrlichen Vorsommertag
wenn andere es wollen… und gut dafür bezahlen.
Es wird sowieso immer gestorben.
Die U-Bahn näherte sich der Endstation.
Der kalte Blonde verließ das Bahnhofsgebäude von Wien-Hütteldorf und bewegte sich auf den Taxistand zu. Es war Ende Mai und sommerlich heiß. Oskar Randow trug wie zumeist keine Krawatte, hatte sein Hemd zwei Knöpfe weit geöffnet. Er ließ sich in den äußersten Westen Wiens fahren, dort wo der Wienerwald beginnt und die Eigenheimsiedlungen eher nach Kleinstadt aussahen. Sein Ziel war ein Haus, das noch abgelegener als die anderen war. Es befand sich außerhalb der Siedlungen, eher schon im Wald. Er bat den Taxifahrer, da zu halten, wo die asphaltierte Straße endete. Den Rest ging er wie üblich zu Fuß. Nach einem fünfminütigen Fußmarsch über einen von Bäumen und Büschen gesäumten Schotterweg kam ein ummauertes Grundstück zum Vorschein. Die helle Mauer war mehr als mannshoch – auch für die Körpergröße eines Weltklasse-Basketballspielers. Der erwartete Besucher war weder Basketballer noch sonderlich groß. Er blieb vor dem Eingangstor stehen, sah in die Kamera und drückte die Klingel.
»Du kannst den Kunden entweder beim Golfen abknipsen oder ihn auf einer Vernissage in seiner Galerie treffen. Locations sind Süßenbrunn oder erster Bezirk. Peripherie oder City.«
Greg Norman schob ein 13 x 18 Foto der Zielperson über seinen wie üblich unaufgeräumten, mit getrockneten Getränkeflecken und diversen anderen Flecken übersäten Schreibtisch, deren Herkunft sein Geschäftspartner nicht mutmaßen wollte.
Oskar Randow schüttelte das Foto so demonstrativ wie nutzlos ab und sah sein Gegenüber tadelnd an, bevor er den Blick dem Foto zuwandte.
»Ist was?«, fragte Greg provokant. »Also, ich wär für Golf. Unter der Woche ist da nicht viel los. Traumbedingungen, ideal für‘n Distanzjob.
Der Kunde holt zum Einlochen aus und kriegt stattdessen eins. Das nenn ich hole in one, hähähä.«
Der Blick des Blonden verfinsterte sich. Sein Partner hatte recht: Ein Distanzjob war ungefährlicher als on target zu gehen, was bei einer Vernissage unweigerlich der Fall wäre. Aber ‚Golf‘ war natürlich ein Reizwort.
»Jaaa, beim Golfen ist‘s sicherer und ungefährlicher!«, stieß der Jobvermittler aus und riss die Augen auf. »Wenn du nicht grad wieder‘n Golfschläger zuhilfe nimmst.« Er blickte dümmlich und steigerte seine Provokation sogar noch: »Hast du den Schlag noch drauf?«
Der Blonde hasste diese Anspielung auf das Ereignis, das ihm ohnehin schon in den Sinn gekommen war und dieses Mal nur die Stimmung killte. Etwas, das fast sieben Jahre zurücklag und ihn damals Gregs Willkür und Willen ausgeliefert hatte. Greg wusste wiederum, dass er das hasste.
»Man muss auf einsamen Golfplätzen nicht unbedingt unbeobachtet sein«, presste er durch die Zähne und fixierte sein Gegenüber.
»Sei froh, dass du das nicht warst, dude.« Greg zündete sich eine Zigarette an und nahm einen Schluck Bier aus der Dose, stieß auf. »Auf besonderen Wunsch jetzt zum hundertsten Mal: Ich hatte dein kleines Abschlagtraining mit big boss beobachtet, weil ich was gerochen hatte. Und das stank ziemlich faul.
Bob war ein mieser Arsch! Im Gegensatz zu dir hab ich das immer gewusst, mein Freund. Genauso wie ich gewusst hab, dass du ein Riesentalent bist. Wie sich zeigen sollte, nicht nur beim Programmieren, hähä.« Er griff sich an die Nasenspitze, rüttelte sie. »Greggys Zinken hatte den richtigen Riecher. Nur deshalb konnte ich dich auf den Beginn einer wunderbaren Freundschaft und fruchtbaren Zusammenarbeit einstimmen.
Dein Schaden war‘s auch nicht grad, alter Junge!«
»Musst du eigentlich immer auf dieser alten Irland-Scheiße rumreiten?«
»Ich reite doch nicht immer drauf rum. Das ist dein Scheiß-Trauma!
Dude! Tu dir selbst‘n Gefallen und überwinde es langsam mal. Du bist wegen Irland immer noch scheiße drauf, dabei geht‘s dir saugut. Du hast‘n spannenden Job mit genug Freizeit und Kohle und ne steile Wohnung. All das verdankst du mir. Ist doch besser als pleite sein oder Knast, in dem du heute noch rumlungern würdest. Und wohl noch‘n paar Jährchen länger. Poor boy, dein Arschloch wär schon sowas von ausgeleiert.«
Oskar senkte den Kopf und sah Greg mit dem Wenn-Blicke-töten-könnten-Blick an. Der Anvisierte entzog sich des Blicks, indem er sich in seinem Schreibtischsessel seitlich drehte und zog dann seelenruhig an seiner Zigarette.
»Was willst du eigentlich, du Schmock?!«
»Jaja, ist ja gut«, brummte Oskar.
Greg drehte sich nach vorn, rülpste und sah sein Gegenüber auffordernd an.
»Wann willst du‘s tun?«, fragte er. Der Gefragte sah ihn nur an und schwieg. »Okay. Ich frag mal so: Wie weit bist du mit dem aktuellen Job, mein Junge?«
»Ist erledigt… mein Junge«, kam es ätzend betont.
»Echt jetzt??? Seit wann?«
Oskar drehte das linke Handgelenk in sein Blickfeld und sah auf die Uhr.
»Keine zwei Stunden her.«
Der dunkelhaarige Wuschelkopf hob die buschigen Augenbrauen, riss die Augen auf und staunte.
»Wow. Du bist wirklich ein taffer Hurensohn!«
Das ‚Kompliment‘ war dem Blonden eher unangenehm. Er sah an die Seite und zog an seinem Sakko, sah wieder nach vorn und fixierte den Amerikaner mit einem Blick aus eisgraublauen Augen. Der Anvisierte grinste dümmlich.
»Damit bist du bereit für diesen Job.
Also, honeybunny, was darf‘s sein? Das Sport- oder Kulturprogramm?«
»Dreimal darfst du raten.«
»Hm… sind doch nur zwei Möglichkeiten… Klugscheißer.«
»Selber Klugscheißer.«
Eine typische Vernissage. Zahlreiche wichtige, halbwichtige und möchtegernwichtige Leute bevölkerten die große, stylische Innenstadtgalerie, darunter einige ansehnliche Frauen. Das Publikum hielt Wein- oder Proseccogläser in der Hand und unterhielt sich angeregt. Alle schnatterten und tranken. Alle, bis auf einen. Oskar Randow stand etwas abseits und beobachtete das Treiben. Der Wein war okay. Er hatte schon schlechteren getrunken, nippte dennoch seit einer halben Stunde an seinem ersten Glas, flankiert von einem Glas Wasser. Wein für den Geschmack, Wasser gegen den Durst. Das verdünnt den Alkohol. Professionell zu trinken, hieß weiterhin professionell agieren zu können. Der von den anderen isoliert wirkende Gast lehnte mit einem Arm auf einem Stehtisch und betrachtete mit dezentem Kopfschütteln die Bilder, denen er eine geradezu mutige Talentfreiheit attestierte. Er fragte sich, ob man davon leben könne und dachte sich, dass er sogar direkt nach dem Aufstehen nach einer durchzechten Nacht Besseres zuwege brächte.
»Kinderbilder«, entfleuchten ihm laute Gedanken. Anlass genug, für die vornehm wirkende, ältliche Dame neben ihm eine Augenbraue hochzuziehen. Sie hielt ihn offensichtlich für einen Kunstbanausen. Er drehte sich zu ihr, nickte und grinste sie aufgesetzt an, sodass sie sich irritiert abwandte. Als er zu einem Schluck ansetzte, trat ein Mann übersichtlicher Größe in einem feinen, wahrscheinlich englischen Maßanzug in sein Blickfeld. Seine Pupillen weiteten sich.
Etwas älter und etwas kleiner als ich, dunkle Haare, teurer Anzug. Reich.
Ist das… ? Klar!
Mitte, Ende vierzig, um die 1,70, schlank, kurze dunkle Haare, sicher nachgefärbt, weil bereits grau, oben etwas länger, um die Geheimratsecken so gut es ging zu kaschieren. Wie so oft passten die Fotos nicht allzugut zu dem Bild, das man später in natura hatte. Viele waren ‚in echt‘ noch hässlicher, dicker, kahler, älter, uninteressanter als sie auf den Fotos ohnehin wirkten. Hier traf eher das Gegenteil zu, und das nicht nur, weil die Fotos angeblich von seltener Aktualität sein sollten. Allenfalls das verwegene Menjoubärtchen dürfte brandneu sein, da es auf keinem Foto das Gesicht des Kunden zierte. Das musste trotzdem kein Zeichen für mangelnde Aktualität des Bildmaterials sein. So ein zartes Oberlippenbärtchen wächst schnell.
Dieser Mensch wirkte in der Realität interessanter als auf Fotos, die die Oberflächlichkeit eines reichen Langweilers transportierten. Langweilig schien der nicht zu sein. Obendrein war er einer der wenigen Männer, dem ein Oberlippenbart stand. Die schmale Manneszierde gab ihm trotz Vornehmheit eine gewisse Halbwelt-Verwegenheit. Sein Anblick erinnerte sicher nicht zufällig an John Waters, den Schöpfer gewollt geschmacksverfehlter Kultfilme in den Siebzigern.
Das musste der Galerist sein. Ein Dandy wie aus dem Bilderbuch.
Der Gast beäugte den Gastgeber wie beiläufig, ultradezent. Der derart Beobachtete war nicht nur interessant, sondern auch clever. Er bemerkte das – für normale Zeitgenossen – unauffällige Scannen und beäugte ebenso unauffällig zurück. Oskar Randow schloss daraus, es beim Galeristen mit einem Schwulen zu tun zu haben. Obwohl… schwul wirkte der nicht, tuntig schon gar nicht. Er musste es aber sein. Denn nach Oskars Auffassung taxierte der Galerist ihn hinsichtlich ‚sexueller Kompatibilität‘. Das war die naheliegendste Erklärung. Normale Menschen – ganz gleich, in welchem Sinne normal – reflektieren eine vermeintlich beiläufige Aufmerksamkeit nicht mit einer ebenso professionellen Aufmerksamkeit. Er war davon überzeugt, dass Schwule ihre eigenen Blick-Codes haben, um sich innerhalb einer gemischten, also mehrheitlich heterosexuellen Gesellschaft erkennen zu können. Diese dezenten Codes würden eine Aufmerksamkeit bedingen, die ansonsten nur bei gewissen Berufsgruppen auftritt. Polizisten, Privatdetektiven, Agenten… und ähnlichen. Da der Beobachtete nichts dergleichen war, setzte Oskar auf eine homosexuelle Veranlagung, die keine Seltenheit im künstlerischen Umfeld ist. Es war auch kein wirklicher Nachteil, im Gegenteil. Das konnte es erleichtern. Er hatte zwar einen Plan, zumindest eine Vorbereitung, aber wie es mit Plänen nunmal ist: Leben ist das, was passiert, während du damit beschäftigt bist, Pläne zu schmieden, laut Musik-Legende John Lennon. Was wirklich passiert, bestimmen die Umstände, die Location, die Situation… und die Darsteller. All das konnte selbst dem besten Plan zuwider laufen. Bevorzugte der Galerist wirklich Männer, bot das die Chance, leichter, näher und später vielleicht auch ungestört an ihn ranzukommen. Es sah gut aus, Oskar schien ihn zu interessieren. Vorerst aber unterhielt sich der Gastgeber mit einem weiblichen Gast mit ebenso atemberaubender Figur wie Outfit. Die platinblonde Lady war in ein Fetzchen von einem Sommerkleid gehüllt: dünn, kurz, halbtransparent, mehr zeigend als verbergend. Allenfalls das grellbunte Muster des Stoffs bemühte sich um Ablenkung von ihrem perfekt proportionierten Körper – ein hoffnungsloses Bemühen. Der Schmuck passte zum Outfit und war trotz seiner Buntheit garantiert kein Modeschmuck. Obwohl sie nicht allzuviel Schmuck trug, wog der sicherlich mehr als alles, was sie zum ‚Anziehen‘ trug. Die hochhackigen, offenen Riemchenschuhe mal ausgenommen.
Oskar sog den Anblick der zweifellos deutlich über vierzig seienden Blondierten in sich auf. Wahrscheinlich würde sie noch in zehn, fünfzehn Jahren ihr Alter mit 49 angeben – und wohl damit durchkommen. Sie war pure Erotik, verlieh dem Begriff ‚alterslos‘ Gestalt. Vor einigen Jahrzehnten nannte man Frauen wie sie Sexbombe. Er verspürte Lust, seine Hand ihre gebräunten Schenkel heraufwandern lassen, bis zu ihrem Zentrum. Unter anderen Gegebenheiten würde er sich bei ihr ‚einbauen‘ und es zum passenden Zeitpunkt auch machen. Sein nicht ganz freiwillig ergriffener Beruf, mit dem er dann und wann haderte, hatte auch seine Vorteile. Einer davon war der Verlust ziviler Hemmungen. Das galt auch fürs Private.
Ein auch für diese nicht mehr ganz junge Dame deutlich älterer Begleiter verfolgte die Konversation mit Argusaugen – Eifersucht pur. Oskar verstand den Alten. Er hielt jede Wette, dass die Dame des großgewachsenen, geriatrischen Übergewichtigen Galane weitaus jüngeren Baujahrs als ihres eigenen nicht nur haben konnte, sondern auch hatte. Es war davon auszugehen, dass der eifersüchtige Alte diesen Umstand vor sich selbst zu leugnen versuchte. Fällt in die Kategorie ‚emotionaler Selbstschutz‘.
Arme Sau. Geile Sau und arme, alte, reiche Sau. Passt wieder mal perfekt.
Der charmante Galerist plauderte gut gelaunt und unterhielt die Dame bestens. Ein Bonmot folgte offensichtlich auf das andere. Sie lachte und kiekste. Ihr langweiliger Gespons machte gute Miene zum bösen Spiel.
Entspann dich, alter Knochen! Blondies Gesprächspartner ist zwar um Lichtjahre spannender als du, steht aber nicht auf Frauen.
Selbst wenn der Alte an ihrer Seite das gewusst hatte, entspannt wirkte er nicht. Er legte besitzergreifend den Arm um sie, zärtelte in ihrem Rückenausschnitt herum. Ein offenbar unwillkommenes Signal, sie schüttelte sich dezent. Diese Abwehr unerwünschter Zärtlichkeiten bestärkte die Annahme, dass sie mit dem Weißhaarigen liiert war und ihn nicht mit einer deutlichen Geste in Verlegenheit bringen wollte. Bei genauerer Betrachtung schätzte Oskar die reife Edeltussi deutlich intelligenter als auf den ersten Blick ein. Er verstand wieder einmal nicht, wie frau mit jemandem zusammen sein konnte, bei dem sie die Nase zuhalten muss, wenn sie mit ihm in Falle steigt. Weil er sie so offensichtlich überhaupt nicht kickt. Ist Kohle wirklich so wichtig? Oder Sicherheit, die ohnehin zumeist nur vermeintliche Sicherheit ist? Er würde es noch in dreihundert Jahren nicht verstehen, und doch war es ihm im Grunde genommen egal. Nicht wirklich sein Problem. Er hatte hier einen Job zu erledigen.
»Wer bist du überhaupt?«
Oskar drehte sich in Richtung der Frage – der typische Who, me?-Effekt. Der Galerist hatte gerufen. Seine Augen funkelten den ihm unbekannten, männlichen Gast an. Es funktionierte: leichtere Kontaktanbahnung aufgrund des Interesses an einem im wahrsten Sinne des Wortes alleinstehenden Gast.
»Dein Glas ist eh schon leer«, fügte der an und winkte Oskar mit einem Nicken heran. Der Angesprochene zeigte fragend auf sich (rhetorisch natürlich) und bewegte sich dann zielstrebig zur Dreiergruppe aus Galerist, der scharfen Reifen und ihrem eifersüchtigen Begleiter, der ihn mit gedämpfter Begeisterung ins Visier nahm. Nicht nur potenzielle, sicherlich auch potente Konkurrenz für ihn.
Der Galerist taxierte das Objekt seines Interesses. Ihm gefielen dessen selbstbewusste, geschmeidige Bewegungen, kombiniert mit kühlem Blick und angedeuteten Schmunzeln. Der blonde Gast war fraglos ein interessanter Typ, wenn nicht gar ein Typ mit einem Geheimnis. Besagter Gast bezog zwischen dem Gastgeber und der scharfen Frau mit modisch-halblanger Frisur Stellung. Ihr Begleiter stand ganz rechts. Sie grinste etwas unsicher, aber erwartungsfroh. Der Alte bedachte ihn mit einem pseudofreundlich-gelangweilten Gesichtsausdruck. Wahrscheinlich das Standardgesicht, das der nach einen pensionierten hohen Beamten Aussehende in solchen Situationen aufzusetzen gedachte.
»Bekomme ich hier etwas zu trinken?«, eröffnete Oskar mit gespielter Naivität.
»Jaaa, bekommst du.« Der Galerist schmunzelte. »Aber du musst es dir verdienen.«
Hm… das unvermeidliche ‚Du‘ der Bussi-Society. Auch unter reiferen, einander noch nicht bekannten Menschen. Soll mir recht sein.
»Schade. Ich dachte, ich wäre eingeladen.«
Der ebenso naiv vorgetragene Konter ließ die Platinblonde kichern. Der Galerist grinste. Das gefiel ihm, Oskar gefiel ihm.
»Bist du auch.« Der Gastgeber nahm seinem Gast das leere Glas aus der Hand und stellte es auf die Bar. »Ich würd gern wissen, wie du heißt, mein Freund.«
»Gehört das schon zum angesprochenen Verdienen?«
»Ja, aber nur das. Einstweilen«, kam es sanft vom Gastgeber. Er zwinkerte bei der Ergänzung ‚einstweilen‘.
Der Blonde lächelte in die Runde und gab seinen Vornamen zum Besten.
»Oskar.«
»Oskar«, wiederholte der Galerist und legte den Kopf in den Nacken – ein ‚Schauspieler‘, zweifellos.
»Oskar Randow. Und wer seid ihr?«
»Ich bin hier der Gastgeber.«
»Das weiß ich. Ich meinte die zwei.«
»Randow…«, sinnierte der Galerist wie in Trance und ging nicht auf Oskars Nachsatz ein.
»Ja. Mit W am Ende.«
»Dann heißt es aber Randoff«, korrigierte der Gastgeber. Wiens slawische Spracheinflüsse zeigen sich in Begriffen wie ‚Palatschinke‘ oder der Aussprache von Eigennamen. Anderswo im deutschen Sprachraum orientiert man sich an nordwestgermanischen Sprachen, bei denen man ein OW nicht in einem ‚off‘ enden, sondern ihm wie in ‚window‘ oder ‚rainbow‘ noch Perspektiven lässt. Auch gibt es andere Betonungen als weiter nördlich oder westlich. So wird die Kurzform für ‚Laboratorium’, also Labor, auf der ersten Silbe, ‚Sakko‘ hingegen auf der zweiten Silbe betont: Gänzlich unpassend trug er Sakkoo im Laabor.
»Nicht dort, wo mein Name und ich herkommen.«
»Dein Name und du… nett. England?«
Nicht der Erste, der mir eine englische Herkunft attestiert. Irgendwann denk ich mal dr ü ber nach, warum das so ist. Beim N ä chsten vielleicht …
»Nein, Berlin.«
»Ahhh, Berlin.« Oskars Name beschäftigte ihn noch immer. Das ‚Traumpaar‘ hielt sich zurück und überließ das Reden dem Gastgeber. »Randow… klingt so ähnlich wie ‚random‘, womit die Angelsachsen ‚Zufall‘ quasi als Vorsilbe zum Ausdruck bringen.« Er nickte verschmitzt und ergänzte grinsend: »Random play zum Beispiel, die Zufallswiedergabe.«
»Ich hab dich gleich verstanden (der ‚gleich Verstandene‘ grinste noch breiter). Und es klingt nicht nur so ähnlich. Ich bin ein Verfechter des Prinzips ‚Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt‘.«
Nun wurde es amikal. Der Gastgeber legte seinen Arm auf Oskars Schulter.
»Nicht nur du, Oskar. Auf diesem Prinzip hab ich meinen Erfolg, was sag ich, mein Leben aufgebaut.«
Oskar quittierte den Arm auf seiner Schulter mit einem Seitenblick. Der Gastgeber hatte den Blick registriert und ließ sich äußerlich nicht davon irritieren. Dennoch war zu spüren, wie der Druck des Arms nachließ, danach strebte, die Schulter des Unbekannten wieder zu verlassen.
»Wie ist es in dieser Hinsicht mit dir? Wenn du auch ein Verfechter dieses Prinzips bist?«, fragte der Galerist. Die Frage und die Tatsache, dass sein Glas ebenfalls leer war, bot den willkommenen Anlass, den Arm wieder von Oskars Schulter zu nehmen. Er winkte dem Kellner und deutete mit einer kreisenden Geste, die Gläser aufzufüllen.
»Nun?«, insistierte der Galerist. »Wie ist es bei dir?«
Er ist kein Idiot. Auch wenn er ein normaler Mensch ist, sollte ich ihn nicht untersch ä tzen. Ich sollte niemals niemanden untersch ä tzen.
Oskar rief sich innerlich zur Disziplin, um alert zu bleiben. Er spielte gern mit der doppelten Verneinung. Wie ein Angelsachse eben.
»Bei mir ist dieses Prinzip ebenso gelebte Erfahrung wie bei dir«, ging er d‘accord. Der Galerist schmunzelte und streckte ihm die Hand entgegen.
»Nicky«, stellte er sich vor. Die anderen stimmten in das Prozedere ein.
»Vera«, sagte die Platinblonde. Ihr Händedruck war zwischen gefühlvoll und herzhaft. Sie war weißgott kein schwaches Weib, alles andere als schüchtern und grinste verwegen.
Ein Luder. Ich hab ‘ s doch gewusst!
Naja, war leicht. So zieht sich nicht grad eine Klostersch ü lerin an.
»Walter«, stellte sich ihr Anhang vor. Oskar nahm seine Hand kraftvoll. Auch Walter brachte eine ordentliche Portion Kraft in seinen Händedruck. Er war deutlich größer und schwerer als Oskar. Dieses Claim-Abstecken per Händedruck ging dennoch daneben, da ein Profi weiß, wo und wie man greifen muss, um wirklich Kraft auszuüben. Walter entzog sich des Händedruckes schneller als er vorhatte und lächelte verlegen. Oskar drehte sich wieder zum Gastgeber und beendete seinen Satz.
»Nur dass ich im Gegensatz zu dir, Nicky, nicht nur aus erfolgsverwöhnten Erfahrungen diesem Prinzip fröne.«
Nikolas Tyron heuchelte mit einem Hundeblick Verständnis und starrte dann pseudonachdenklich ins Leere.
»Dann hast du hin und wieder etwas verkehrt gemacht«, gluckste er und hob sein Glas.
»Nein. Immer wieder«, berichtigte Oskar mit der Betonung auf ‚immer‘ und stieß mit ihm und den anderen an. Nach dem Trinken stellte er sein Glas auf die Bar und ließ seine rechte Hand in Griffweite von Veras Schenkeln sinken. Aber er hielt sich zurück und hoffte, die Platinblonde richtig eingeschätzt zu haben.
Bekennende Verlierer kommen zuweilen auch im wirklichen Leben gut an, nicht nur auf der Kinoleinwand. Man sollte allerdings über sich selbst lachen können und mit Misserfolgen nicht hadern, sondern kokettieren. Oskar verstand es, auf dieser Klaviatur zu spielen. Es verfehlte auch hier nicht seine Wirkung, seine Hoffnung verwandelte sich in Realität. Die Platinblonde schob ein Bein vor und drückte ihren gebräunten Schenkel an seine rechte Hand. Unbemerkt von den anderen beiden, versteht sich. Auch sie war ein Profi, in dem was sie tat. Er verstand die Einladung und gab dem Drang nach, der ihm bei Sichtung der heißen Vera spontan in den Sinn gekommen war. Seine Fingerspitzen fuhren ebenso unbemerkt von den anderen über die Innenseite ihres Schenkels. Wie erwartet hatte sie wundervoll zarte Haut, die zum Streicheln einlud.
»Was machst du beruflich, Oskar?«, hauchte Vera die ‚Einserfrage‘. Er nahm die (nicht gut genug) verborgene Erregung in ihrer Stimme wahr.
»Dem feschen Oskar würd ich‘s zutrauen, andere für Geld flachzulegen«, orakelte Nicky. Was jemand anderen in Verlegenheit gebracht hätte, nahm Oskar als Steilvorlage.
»Ich mir auch.« Mit der aufgegriffenen Provokation war das Thema wohl vom Tisch.
Vera lachte schrill, stemmte eine Hand in die Hüfte und spreizte ihr linkes Bein aufreizend ab. Oskar nahm auch diese Einladung an. Er griff sein Glas mit der linken Hand, trank einen Schluck Wein und griff ihr mit seiner rechten gefühlvoll in den Schritt, rieb seinen Daumen an ihrem Tempel weiblicher Lust. Vera stand einfach zu günstig. Mit dem abgespreizten Bein schirmte sie Blicke ab, die aus dem Raum kommen könnten, an der anderen Seite schloss die Bar an. Der eifersüchtige Bewacher stand hinter ihr und konnte es ebensowenig wie der Gastgeber sehen, der seit geraumer Zeit am gerundeten Abschluss des Tresens lehnte. Vera kniff die Augen zusammen, sah ihn lasziv an, ließ ihre Zungenspitze aufblitzen und bewegte ihren Unterleib kaum sichtbar, für ihn umso spürbarer – eine eindeutige Ermunterung, noch etwas mehr Gas zu geben. So abgebrüht wie sie sich der Situation im wahrsten Sinn des Wortes stellte, war diese haptische Art des Kennenlernens keine Premiere für sie. Das Zucken ihrer Schenkel steigerte sich, was anderenorts ein willkommenes Zeichen gewesen wäre. Hier aber stoppte er das Streichen und Reiben, drückte sanft ihre Klitoris und ließ seine Hand unauffällig den Rückzug antreten. Gleich bis zum Äußersten zu gehen, hätte zu riskant sein können. Schließlich wusste er nicht, wie beherrscht sie mit Orgasmen in der Öffentlichkeit umzugehen verstand. Sie hob eine Augenbraue und sah ihn kritisch bis tadelnd an. Demnach verstand Vera, einen Orgasmus in der Öffentlichkeit zu händeln und war enttäuscht.
»Hach, das Leben ist schööön!«, stieß sie hervor. Sie zeigte ein perfektes Gebiss schöner, gerader, weißer Zähne und schmiss den Kopf in den Nacken. Ihr Begleiter lächelte aufgesetzt. Er war ahnungslos, was die Wonneschauer seiner Angebeteten ausgelöst hatte und interpretierte es als Frösteln aufgrund ihrer kaum unterbietbar leichten Garderobe. Sie schob ein »An einem Abend wie heute. Kunst, nette Leute, guter Wein…« nach und stieß mit allen an.
Nikolas Tyron grinste und schickte Oskar einen Ich-weiß-Bescheid-Zwinkerer. Der Galerist hatte die pikante Situation mitbekommen, obwohl er nichts gesehen haben konnte. Irgendwie erinnerte der ‚Kunde‘ an den vor Jahren verstorbenen Gründer eines Softwarehauses in Irland: genauso clever, aufmerksam und durchtrieben. Diese Attribute würden die Sache leider nicht einfacher machen. Gerade als ihn diese Gedanken daran erinnerten, weswegen er eigentlich hier war, nahm ihm der Kunde den nächsten Schritt ab.
»Darf ich euch den jungen Mann mal eben entführen?«, wandte sich Nicky an die immer noch breit grinsende Vera und den genervt dreinblickenden Walter. Veras Gesichtszüge entgleisten für einen Moment. Der einen Enttäuschung war des anderen Freude. Von Walter kam ein betontes »Gern«, das gönnerhaft wirken sollte.
Jede Wette, dass du Arschloch gern auf meine Gesellschaft verzichtest.
Aber gut so. Ich bin ja nicht zu meinem Vergn ü gen hier.
»Wenn du nicht der Gastgeber wärst, würd ich dich jetzt fragen, was du trinken willst… für den jungen Mann«, revanchierte sich Oskar für Nickys Floskel, die ihm Jugendlichkeit attestierte.
Nicky sagte nur »Gleich« und grinste. Oskar folgte ihm durch das Gewühl gut – aber nicht durchgehend geschmackssicher – angezogener Menschen. Der Gastgeber drehte sich um, seine Stimme kämpfte erfolgreich gegen das Geschnatter der Besucher an.
»Wie gefallen dir eigentlich die Bilder?«
»Beschissen.«
Nicky schmunzelte derart breit, als hätte man ihm mit dieser Aussage einen lieben Gefallen getan. Oskar konnte sich nicht helfen, der Kerl war ihm irgendwie sympathisch. Schade. Oder um mit dem musikalischen Komiker Helge Schneider zu reden: schade, aber egal.
Sie drängelten weiter. Der Galerist lächelte, grüßte hie und da, drehte seinen Kopf erneut zu seinem Begleiter.
»Sind von mir«, feixte er sichtlich amüsiert.
»Oh.« Nun war Oskar doch etwas verlegen. Daher stellte er sich nur innerlich die Frage, wofür das gut sein sollte. Waren dem etwa die Künstler ausgegangen?
Nicky grinste ihn an. Das Gedränge wurde übersichtlicher. Sie traten hinter einen Vorhang, durch eine sich automatisch öffnende Tür und gingen einen Gang mit mehreren anschließenden Räumen entlang. In den Räumen hingen Bilder, standen Plastiken. Es gab also auch einen hinteren Ausstellungsbereich. So wie es aussah, hatte Nikolas Tyron doch noch genug Künstler.
Schließlich ging es nicht mehr weiter. Beide standen vor einer augenscheinlich metallenen Wand – bronzefarben, kunstvoll strukturierte Oberfläche, eher wandgroßes Relief als Wand.
»Weißt du, o sinnenfroher Oskar…« Nicky lehnte mit einer Hand an der bronzefarbenen Wand, die sich daraufhin so lautlos wie langsam seitwärts bewegte. Er gab eine Slapstick-Einlage, indem er sich ein Stück von der Wand mitziehen ließ und überrascht schaute. »Es war mir ein sadistisches Vergnügen, die Leute zur Abwechslung mal mit meinem malerischen Dilettantismus zu quälen.«
Oskar zog einen schiefen Lächler auf. Sein Gastgeber und Kunde besaß durchaus Unterhaltungsqualitäten. Galerist Tyron wiederum bemerkte das Interesse seines Gastes am Mechanismus der Schiebewand.
»Ich dachte zuerst, das wäre ein Kunstwerk«, sprach der seinen Gedanken aus und nickte auf die vorbeigleitende Wand. »So eine Art Relief.«
»Ist es auch. Sehr gut, Oskar!«, lobte der Galerist. Seine Augen durchbohrten den kühlen Gast, aber auf eine wohlwollende, freundliche Art. »Kunst mit einem praktischen Mehrwert.« Er vergewisserte sich des Amüsements seines Zuhörers und fuhr fort. »Unnötig zu erwähnen, dass sich die Wand nur bei meinem Handauflegen öffnet.«
»Wirklich unnötig.«
»In den hinteren Räumlichkeiten sind die guten Bilder«, fuhr Nikolas Tyron ansatzlos fort und zeigte auf die anschließenden Räume. »Erst müssen sie sich durch meinen Mist quälen, um sich die guten Bilder zu verdienen.« Ein Blick zu seinem Gast. »Obwohl…«
»Obwohl?«
»Viele sehen es gar nicht mal als Mist.«
»Ist mir aufgefallen.«
»Die Welt besteht überwiegend aus Dummköpfen, Oskar. Die Art Dummkopf, die glaubt, schlau zu sein, ist die schlimmste. Und gleichzeitig die dankbarste.« Breites Grinsen. »Gerade die wollen partout beschissen werden.« Er blickte auf seine sündteure Armbanduhr. »In einer Stunde dürfen sie nach hinten. Das war Bedingung für heute abend.« Er hatte das ohnehin nur inszeniert, um den eigenen Unterhaltungswert zu erhöhen. »Die meisten sind sowieso nur zum Trinken da. Oder um fesche Damen zu begrapschen«, schloss er süffisant.
»Echt? Wer tut denn sowas?«
Die Wand war weit genug zur Seite geglitten und gewährte Eintritt in einen Raum, der auch später nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war.
»Warum auch immer die Leute da sind, hier rein dürfen sie nicht. Denn hier sind die wirklich guten Sachen.«
Weswegen führt er mich hierher? Er hat mich heute abend erst kennengelernt. Will er mich hier vernaschen?
In dem weitläufigen Raum hingen Bilder an den Wänden, von denen manche einem auch dann bekannt vorkamen, wenn man nicht allzuviel von Kunst verstand. Oskar zweifelte weder an der Echtheit der Picassos noch an der der Egon Schieles und Miros. Galerist Nikolas Tyron war nicht nur reich, sondern auch wichtig. Unbedeutende Menschen häufen nicht einen Reichtum aus Kunstschätzen an, der einem Dutzend Familien ein wohlfeiles Leben frei von sonstigem Broterwerb ermöglichen könnte. Sollte Oskar nach einem Grund gesucht haben: Reich, wichtig und dekadent zu sein, war für manche Zeitgenossen immer schon Grund genug, einen umbringen zu wollen! Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, lenkte seine Augen nun nach oben.
Mist!
Noch etwas anderes fiel ihm ins Auge, zwar deutlich weniger auffällig als die Kunstschätze, aber ebenso vorhanden. Es war klar, dass ein dermaßen wertvoll ausgestatteter Raum überwacht sein musste, und doch war es eine Niederlage. Mehrere kleine, halbkugelförmige Gebilde waren gut verteilt in die Decke eingelassen: Videokameras. Der ernüchterte Profi schnaufte leise aus und tadelte sich innerlich. Er musste warten, bis sie den Raum wieder verlassen und sich zurück ins Gewühl begeben würden. Das hätte bereits erledigt sein können. Die ungestörte Zweisamkeit erwies sich nicht als Vorteil für seine Absichten. Hier waren sie wirklich nur, um was auch immer nachzugehen.
Nicky betätigte eine in einem Schreibtisch eingelassene Schalttafel, um ein großes, wahrscheinlich weniger wertvolles Bild an die Seite schweben zu lassen. Eine Bar kam zum Vorschein. Oskar trat näher. Er erblickte außer den üblichen Spirituosen, die eine halbwegs gut sortierte Bar braucht, vor allem edle Whiskys und Rums – alt, teuer, viele davon.
»Du wolltest mir einen Drink ausgeben… für mein Kompliment?«, provozierte Nicky.
»Ich geb dir den aus«, stieg Oskar darauf ein und zeigte auf einen 24-jährigen Hochland-Whisky.
»Den?« Galerist Tyron hob eine Augenbraue. »Ich habe auch weitaus Ältere da.« Zum ersten Mal klang er nicht nur distinguiert, sondern schwul.
»Das ist mir nicht entgangen. Älter heißt auch bei einem Whisky nicht zwangsläufig besser. Und so toll war das Kompliment auch wieder nicht.«
Der Dandy beobachtete seinen Gast genau. Er studierte ihn geradezu, mit einem scheints permanenten Schmunzeln.
»Eine gute Wahl, Oskar. Der ist hervorragend. Besser als die meisten Älteren. Ein Erlebnis fürwahr.«
Reiner Zufall. Der auswählende Gast verließ sich lediglich darauf, dass nur außergewöhnlich gute Whiskys und Rums ihre Daseinsberechtigung in dieser Bar hatten. Außerdem trinkt das Auge immer mit. Ihm gefiel das Label.
»Ich gieß gleich uns beiden einen ein. Du bist sicher dabei, oder?«, flüsterte Nicky mit gespielter Fadesse. Oskar war in Alarmbereitschaft, jede Muskelfaser angespannt. Er zupfte ‚verlegen‘ an seinen Jackett, griff in Wahrheit unmerklich an seine Seite. Alles war am richtigen Platz – beruhigend. Hoffentlich würde sich das getränkebegleitete Geplauder nicht allzu lange hinziehen. Er strebte innerlich wieder nach draußen und musste einigermaßen nüchtern bleiben.
»Ich bestehe darauf«, pflichtete er kühl bei.
Nikolas Tyron spielte aus, was ohnehin offensichtlich war.
»Eigentlich gebe ich ja die Drinks aus.« Er klang immer wehleidiger, immer schwuler.
»Ich werde mich revanchieren.«
»Ich bin sicher, das wirst du.« Er sah Oskar direkt an. Selbstsicher, furchtlos, … wissend?
Verdammt! Wenn meine Ansage schon zweideutig war, was war das jetzt?
Als Professionist war man einiges gewohnt und daher nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Dennoch schrillten bei ihm die Alarmglocken – mehr als nur berufsbedingte Vorsicht oder gar Paranoia. Hier wusste jemand mehr als er sollte. Das bedeutete, dieser jemand war vorbereitet. Und das wiederum bedeutete Gefahr.
»Setzen wir uns.« Nicky deutete auf die zeitlos schlicht designte, weiße Ledergarnitur in der Mitte des Raumes. Oskar gefiel die Polstergruppe. Er schätzte sie bei dem reichen Bonvivant naturgemäß als teuer ein. Rolf Benz, de Sede… was auch immer. Im Zentrum der Sitzgruppe stand ein massiver rechteckiger Tisch aus schwarzem Marmor. Der schwere Tisch hatte eine Zwischenablage unter der Tischplatte. Eins war ihm inzwischen klar: Ihn zu vernaschen war nicht mehr die oberste Direktive, die das Handeln seines Gastgebers lenkte. Falls sie es je gewesen war.
»Und wie gefallen dir die Bilder in diesem Raum?«, spielte der auf den vorherigen Kommentar seine Bilder betreffend an und beugte sich interessiert vor.
»Einige davon rauben mir geradezu den Atem.«
Der Gastgeber lehnte sich wieder zurück und lächelte zweideutig.
»Wirklich? Wir wollen doch nicht hoffen, dass du erstickst.«
»So schnell nicht, Nicky.«
»Ein Glück. … Cheers.« Galerist Tyron hob sein Glas. Beide stießen an.
Wie erwartet, handelte es sich um einen exzellenten Whisky; weich, vollmundig, etwas torfig und rauchig. Oskar war zwar kein ausgemachter Kenner, stellte aber fest, das dies der beste war, den er je getrunken hatte. Das schloss auch alle Whisk(e)ys ein, die er während der Zeit in Irland konsumiert hatte. Und das waren nicht wenige.
»Du scheinst mir ein wenig von Kunst zu verstehen, werter Oskar.«
Der Galerist musterte seinen Gast, der stellte sein Glas langsam ab.
»Mit Kunst halte ich es wie mit Weinen… oder Whiskys: Entweder es schmeckt mir, oder es schmeckt mir nicht. Dazu muss ich nicht viel davon verstehen.«
»Ich sagte ja auch ‚ein wenig‘.«
»Basiswissen. Ein bisschen von dem, was man wissen sollte.«
Die Luft war so aufgeladen wie Oskar ungeduldig. Es ließ sich der Gedanke nicht vertreiben, den Kunden bereits in der Menschenmenge erledigt haben zu müssen – chancenlos für eine eventuell auch draußen vorhandene Kameraüberwachung. Ein im Gewühl zusammensackender Gastgeber wäre erst nach einer gewissen Reaktionszeit gebührend beachtet worden. Anschließend hätten die Umstehenden einen ‚normalen‘ Grund vermutet. Normalos denken immer zuerst an das Normale, an das Alltägliche: Schwächeanfall, maximal Herzinfarkt. Während sich die anderen noch Gedanken darüber machten, was mit ihrem Gastgeber passiert sein könnte, wäre der Verursacher längst verschwunden gewesen. Den finalen Schwächeanfall hätte jeder verursacht haben können, an dem sich Nicky auf dem Weg ins Hinterzimmer vorbeigedrängt hatte. Ein Nachweis per Video wäre bei dem Gedränge schwer bis unmöglich gewesen. Hier dagegen hielt sich der Kreis der möglichen Täter in sehr engen Grenzen. Hier war er auf dem Präsentierteller, nicht sein Kunde.
Hätte er doch das Sportprogramm nehmen sollen?
»Basiswissen vom Wein oder von der Kunst?«, schnitt Nicky in seine Gedanken.
»Von beidem.«
»Natürlich. Ich glaube mal, dass du eine Menge weißt, lieber Oskar.«
»Hab eine gesunde Halbbildung.«
»Sicher mehr als das. Du bist vielseitig interessiert, intelligent… und soweit ich es beurteilen kann, auch kultiviert.«
Oskar verzog skeptisch seinen Mund, wiegte seinen Kopf, wollte herunterspielen, was er soeben hörte. Der clevere Kunstliebhaber ließ sich nicht durch falsche Bescheidenheit täuschen und führte weiter aus.
»Andererseits lauern da Abgründe in dir, lieber Oskar.«
»Wenn du es sagst, lieber Nicky.«
»Ja. Ich glaube mal, dass du viel erlebt hast. Sicher nicht nur Schönes. Dein ursprünglicher sozialer Hintergrund war nicht auf Rosen gebettet, um es mal so auszudrücken. Trotz deiner Intelligenz, deiner Bildung, deines Auftretens und deines feinen Maßanzuges merkt man es dir an.«
»Falls du darauf anspielst, dass ich aus wenig vermögenden, wenn auch nicht prekären familiären Verhältnissen stamme: Punkt für dich.«
»Ich wusste, dass dieser Punkt an mich geht. So wie ich wusste, dass du nicht aus prekären Verhältnissen stammst. Passt nicht zu dir.«
Der kühle Blonde zog es vor, das unkommentiert zu lassen, lauschte interessiert, zog eine Augenbraue hoch, legte die Zeigefinger aneinander und drückte sie an seine Lippen. Nicky fixierte ihn noch eine Weile, ließ dann seine Augen in Richtung Bar rollen und unterstützte es mit einem Nicken, als handelte es sich um einen konspirativen Hinweis.
»Tust du mir einen Gefallen, Oskar?«
Er wollte nicht den millionenfach abgenudelten, doch meist passenden Sager ‚kommt drauf an‘ zum Besten geben. Man tut niemandem einen Blanko-Gefallen. Erst recht nicht in so einer Situation. Da besagte Situation bereits angespannt genug war, antwortete er bewusst arglos.
»Klar, Nicky.«
»Siehst du diese markante Holzkiste rechts vorn in der Bar?« Der Gastgeber deutete mit dem Daumen in Richtung Bar und behielt seinen Gast im Blick. Sah man normalerweise nicht auch in die Richtung von etwas, worauf man jemanden aufmerksam machen wollte? Paranoia?
Oskar sah zur Bar. Die Kiste aus lackiertem Wurzelholz war ihm vorhin schon aufgefallen.
»Sicher.«
»Gehst du bitte hin und bringst sie her. Wir werden uns an den in ihr befindlichen Dingen delektieren.«
»Gern«, heuchelte Oskar. Ihm schwante nichts Gutes. Nickys nachträgliches »Und schau nicht vorher rein, okay?« trug nicht dazu bei, diese Einschätzung abzumildern.
Er stand auf und ging zur Bar. Ihm missfiel, dass er den Galeristen nun in seinem Rücken hatte. Hoffentlich handelte es sich bei seiner pessimistischen Situationseinschätzung wirklich um berufsbedingte Übervorsicht oder gar Paranoia. Blöd war nur, dass sich seine ‚Paranoias‘ in den allermeisten Fällen als zutreffende Einschätzungen heraus gestellt hatten.
»Wenn du schon da stehst… die Flasche kannst du auch gleich mitbringen«, dirigierte der Gastgeber. »Du weißt schon welche.«
»Klar.« Umso schlechter. So hatte er beide Hände voll. Womit war zu rechnen, sobald er an die teure Polstergruppe mit dem schwarzen Marmortisch zurückkehrte? Würde er es überhaupt wieder bis zum Tisch schaffen? Er griff Kiste und Flasche und drehte sich um.
Ein scheints wohlwollender Gastgeber beobachtete genau, wie er sich kontrolliert näherte und dann Whiskyflasche und Kiste auf den Tisch stellte. Er wartete, bis sein Gast sich setzte. Dann griff er unter die Tischplatte, um etwas von der Zwischenablage hervorzuholen. Oskar war erleichtert, als Nicky einen großen runden Aschenbecher emporförderte. Der Aschenbecher war aus dem gleichen schwarzen Marmor wie der Tisch gefertigt – schlicht, elegant, zeitlos.
»Passt perfekt.« Oskar stülpte die Unterlippe vor. »Aber ich hätte mir erwartet, dass der Ascher aus dem Tisch emporfährt oder sich eine Mulde absenkt. Wenn beides schon aus dem gleichen Material ist.«
»Guter Oskar«, Nicky blieb absolut ruhig, »wir sind hier nicht bei James Bond. Du bist blond, nicht Bond. Und ich bin nicht der Super-Bösewicht.
Es geht immer noch mehr. Immer noch geiler, immer noch cooler.«
Oskar wurde wieder entspannter, dennoch blieben die inneren Warnlampen an. Obendrein dauerte all das zu lange, und sein Gastgeber machte einen weiteren Entschleuniger startbereit.
»Ich weiß, dass du nicht mehr rauchst«, stellte Nicky fest. »Denn du hast mal geraucht.« Er hatte wieder mal recht und wusste das. »Wenn man sich mit einem Menschen beschäftigt, erkennt man, ob er Raucher ist oder nicht. Und du bist zweifelsohne ein Raucher. Völlig egal, dass ich dich nie rauchen sah oder wie lange du nicht mehr rauchst.« Er schmunzelte breit. »Einmal Raucher, immer Raucher.«
»Ach so?«
»Ja. Es gibt auch den umgekehrten Fall: Menschen, die zwar rauchten, aber nie richtig rauchten und daher keine echten Raucher sind. Die sind selbst dann Nichtraucher, wenn sie rauchen. So wie du sogar als Nichtraucher ein Raucher bist. Weißt du, was ich meine?«
»Ja.« Oskar wusste wirklich, was er meinte. Nicky sollte ruhig seine Psychospielchen treiben, seine Intelligenz und Menschenkenntnis genüsslich vor ihm ausbreiten. Nur zu, nur weiter. Wenn‘s sonst nichts ist…
»Du hörtest nicht nur aus gesundheitlichen Gründen mit dem Rauchen auf.«
»Sondern?«
»Effektivität.« Nicky warf ihm nur ein Schlagwort vor die Füße und bemerkte, dass er verstanden wurde. »Raucher sind Süchtige… Abhängige«, führte er weiter aus. »Du bist eine weitere unnötige Abhängigkeit losgeworden.«
»Touché. Und obwohl du das weißt, willst du eine mit mir rauchen.«
Nikolas Tyron grinste breit.
»Genussrauchen. Wir werden nicht inhalieren. Wir nicht. Hähä.« Er spielte auf die begrenzt glaubwürdige Aussage eines populären Ex-US-Präsidenten bezüglich seines jugendlichen Cannabis-Konsums an und beugte sich vor. Oskars Schmunzeln gefror, als Nicky den Deckel der Kiste öffnete. Was er hinter dem hochgeklappten Deckel emporförderte, waren zwei edle Zigarren. Wieder war er erleichtert. Opus X – das rauchtechnische Flaggschiff der Fuentes, einer ursprünglich kubanischen Familie, die nach Florida flüchtete, als der Stern eines gewissen Fidel Castro zu leuchten begann.
Nicky, Nicky, Nicky. Du bist wahrlich ein Oscar Wilde. Dandy, dekadent, intelligent, schwul… und vor allem: immer nur das Beste.
Der Gastgeber setzte einen verheißungsvollen Blick auf und reichte eine Zigarre. Sein Gast nickte anerkennend, hob eine Augenbraue.
»Du kennst sie?«
»Opus X von Fuente y Fuente, vulgo Fuente und Sohn. Exilkubanischer Familienbetrieb, Miami, Florida«, dozierte Oskar und roch an der Zigarre – betörend, intensiv.
»Hattest du je…?« Tyron beobachtete sein Gegenüber gespannt wie ein Kind.
»Nein. Ich hatte nie das Vergnügen eine zu rauchen.«
»Dann hast du es jetzt«, quittierte der Gastgeber nicht ohne Stolz. »Aber du kennst sie. Respekt, lieber Oskar.« Nikolas Tyron kramte in seinem Jackett und ließ dadurch erneut leichte Unruhe bei seinem Gast aufkommen. Er zog ein Dupont-Feuerzeug und einen Zigarrenknipser hervor und begann die Utensilien in Richtung seines Gastes zu reichen. Der wollte sich etwas aufrichten, um ihm entgegenzukommen.
»Bleib sitzen«, riet der Bonvivant freundlich, aber auch mit einem Anflug von Strenge. Seine offene Hand deutete ein unmissverständliches ‚Halt‘. Oskar nahm den Impuls aus den Beinmuskeln und ließ sein Hinterteil wieder die Polster belasten. Nikolas Tyron zwinkerte und erhob sich, damit sein Gast das Rauchzubehör in Empfang nehmen konnte.
»Du wirst entschuldigen, dass ich dir kein Feuer gebe. Ich finde, Zigarren muss man sich selbst anzünden. Erst recht als Mann, erst recht solche. Diesen Akt sollte man niemandem nehmen.«
»Das sehe ich ganz genauso, Nicky.«
»Gefällt mir. Wir haben scheinbar einiges gemeinsam. Und ich denke nicht, dass du mit mir einig bist, nur um mir recht zu geben.«
»Richtig gedacht. Ich leide nicht an Gefallsucht.«
»Nein. Das tust du sicher nicht.«
Oskar beschnitt seine Opus X, zündete und paffte sie an; genau dreimal. Genussvoll blies er den Rauch aus und besah sich das teure Rauchgut. Eine Marotte von ihm, nach dem Anpaffen auf die Zigarre zu sehen, wenn er denn mal eine rauchte. Dann reichte er dem Gastgeber die Utensilien zurück. Wieder kam der ihm entgegen.
»So macht man das, Oskar, so macht man das«, lobte er und nahm Dupont und Knipser in Empfang. Die beiden schwiegen eine Minute, saßen und pafften.
»Ich könnte mir vorstellen«, hob Nicky an, »mit dir eine Geschäftsbeziehung einzugehen, lieber Oskar.« Er wartete eine Reaktion ab. Der Angesprochene legte den Kopf schräg und schwieg erwartungsvoll.
»Du bist intelligent, geschickt, durchtrieben, soll heißen: nicht allzu sehr von Skrupeln zerfressen…«
»Exakt. Nicht allzusehr.
Möchtest du mir etwas Illegales anbieten, Nicky?«
»Hahaha. Und hast eine tolle Auffassungsgabe… sowie Humor.«
»Vielleicht haben wir ja schon eine Geschäftsbeziehung«, kam es so leise wie kühl. Er musste es zuende bringen, trotz aller Sympathie für den Gastgeber. Ob er auf das Jackett zeigen und Nicky mit Hinweis auf die Waffe zum Verlassen des Raumes nötigen sollte? Wäre das klug? Oder sollte er ihn lieber in Sicherheit wiegen und sich weiter in Geduld üben? Auf jeden Fall war der Kunde weniger beeindruckt als er selbst.
»Ich weiß«, bestätigte der Gastgeber sein Unbeeindrucktsein. »Bleib ganz ruhig, Oskar«, beschwichtigte er väterlich. Er war bereits ganz ruhig, paffte und fixierte sein Gegenüber mit der Coolness eines Kollegen. Eines guten Kollegen, keines Anfängers. Er wirkte gütig und wohlwollend, beschützend geradezu – väterlich eben. Oskar zog es vor, das ihm Aufgetragene zu befolgen und einer Aufklärung zu harren.
»Heb mal deinen Kopf. Tu bitte nicht mehr als das. Sieh nach oben.«
Eine der dunklen Halbkugeln war über ihnen in die Decke eingelassen. Sicher ein gutes halbes Dutzend dieser Videoüberwachungen, die denen in U-Bahnen ähnelten, war strategisch gut im Raum verteilt.
Jaja, kennen wir schon! Deswegen will ich ja langsam mal raus hier!
»Es ist nicht nur eine Videokamera«, begann der Gastgeber. »Es ist schon auch eine Videokamera. Gesteuert von einer Software, die auf bestimmte Bewegungen geschärft werden kann. Das alles in Kombination mit einem Laser. Einem – wenn‘s sein muss – tödlichen Laser. Schafft es ein Uneingeladener wider Erwarten hier rein, brauch ich keine Polizei für den Einbrecher. Ich verbrutzel ihn einfach. Mein spezieller Putztrupp räumt dann die Überreste weg.« Er paffte und schob wie beiläufig nach: »Ist aber nie passiert.« Es war ihm sichtlich egal, falls der Laser einen Eindringling schon mal hätte flambieren müssen.
»Sehr originell«, presste der Blonde durch die Zähne. »Ich will deine Bilder nicht klauen.«
»Oh, ich weiß, werter Oskar! … Du willst mich töten.
Stehst du auf, bist du tot. Bewegst du eine Hand in dein Jackett, bist du tot.« Das war nicht mehr väterlich. Nicky stand auf und ging umher. »Du siehst: Es ist nicht auf mich eingestellt. Funktioniert übrigens nicht standortgebunden, ist also egal, wo du dich befindest. Gesichtserkennung«, dozierte er und schürzte die Lippen, womit er Bewunderung für die Technik zum Ausdruck brachte.
»Wann hast du es scharf gemacht? Und wie?«
»Da gibt‘s mehrere Möglichkeiten. Eine ist das Öffnen und Wiederverschließen des Humidors.« Der Galerist deutete auf die Wurzelholzkiste, die in der Tat nicht nur Genüsse bereithielt. Wenn sie auch keine Waffe enthielt, sondern eher der Auslöser für eine war. »Da drin ist kein versteckter Schalter. Die Kiste ist einfach nur… ein Humidor. Aber das hast du dir wahrscheinlich gedacht, wenn du genau zugehört hast.«
»Wenn das Programm auf bestimmte Bewegungen bestimmte Aktionen ausführen kann, wird das Bisschen wohl auch noch drin sein.«
»Genau!«, frohlockte Nicky und streckte einen Zeigefinger in Richtung seines zur Untätigkeit verurteilten Gastes. »Mäße ich mich mit dir mit deinen Waffen, wäre es das Duell eines Revolverhelden gegen einen Nobody. Chancenlos.«
»In ‚Mein Name ist Nobody‘ hat der Nobody gewonnen«, bezog sich Oskar auf einen 70er-Jahre Spaghetti-Western mit Terence Hill in der Titelrolle und Henry Fonda als berüchtigten Revolverhelden.
»Wirklich? Ist das ein Film? Hab ich nie gesehen.«
»Den sollte man in unserem Alter eigentlich kennen. Ist Kult.«
»Werter Oskar: Trotz mancher Gemeinsamkeit und gegenseitiger Sympathie, wie ich mal dreist unterstelle, haben wir wohl einen unterschiedlichen Filmgeschmack.«
»Sieht ganz so aus.«
»Genauso wie unterschiedliche Backgrounds, werter Oskar.
Unterschiedliche Vergangenheiten, wenn du so willst.«
»Das mit der gegenseitigen Sympathie ist keine dreiste Unterstellung. Und mit den unterschiedlichen Vergangenheiten hab ich kein Problem.«
»Oh danke.« Die Freude über Oskars Sympathiebestätigung war ehrlich. »Ja, ich kann mir vorstellen, dass du eher ein Problem mit unseren unterschiedlichen Zukünften hast. Die hattest du dir natürlich mit umgekehrten Rollen vorgestellt.«
Oskar sah sich so unauffällig wie möglich um. Falls Tyron ihn gleich hätte ausschalten wollen, wäre das bereits passiert. Das verhieß genug Zeit, um zumindest theoretische Chancen auszuloten.
Wo sind die Scheißdinger überall? Wieviele davon?
Ich bin schnell, schie ß e treffsicher …
Es gibt sicher noch keine Laser, die t ö dliche und zielgenaue Intensit ä t in Sekundenbruchteilen schaffen. Dazu kommt noch die Reaktionszeit des Bewegungsprogramms.
Als früherer IT-Profi folgerte er, dass die Reaktionszeit der Software schneller war, als der Laser zum Fokussieren brauchte. Entscheidend war:
War dieses ganze Zusammenspiel schnell genug für ihn?
»Es sind mehrere«, bestätigte Nicky die Annahme, sein Scannen bemerkt zu haben. »Ich kann dir auch zeigen, wo sie sind. Damit du keins übersiehst.« Er lächelte entschuldigend. »Es nutzt dir nur nichts. Zuviele Bauern sind der Dame Tod«, schloss er poetisch und schenkte beiden ein. »Also mach dir keinen Stress. Lass uns lieber die Zeit so angenehm wie möglich verbringen.«
Der todgeweihte Auftragskiller zog einen schiefen Lächler auf.
»Ich kann mir nicht helfen, Nicky. Irgendwie mag ich dich.«
»Ich weiß.« Nikolas Tyron lächelte gönnerhaft, hob das Glas und stieß mit seinem Gast an. »Cin cin. … Und ich mag dich.«
Der Blonde nickte und erwiderte den Trinkgruß nonverbal. Obwohl er nicht wusste, wie lange er es überleben würde, war er nicht unamüsiert. Irgendwann musste es mal kommen, an einen Besseren zu geraten. Dass es bei einem scheinbar leichten Routinejob passieren würde, passte zum Muster ‚unverhofft kommt oft‘. So war er in diesem Beruf gelandet, und so würde sein Leben nunmehr enden. Wenigstens bei einem phänomenalen Whisky und einer sauguten Zigarre. Davor hatte er ein spannendes, nicht eben genussfreies Leben. Passte schon. Leider hatte er die geile Vera nicht mehr gebumst. Man kann nicht alles haben.
Irgendwas ist ja immer.
Sollte der verschlagene Galerist seine Laseranlage an ihm ausprobieren wollen, wünschte er sich eine schnelle und schmerzlose Premiere. Er befürchtete, dass es nicht so schnell und schmerzlos ging. Tödliche Laser sind nicht gerade Massenware, deren Vor- und Nachteile bei der Stiftung Warentest nachzulesen sind. Das bevorstehende Szenario bereitete ihm Sorge, obwohl er nicht das war, was man gemeinhin als Weichei bezeichnet. Es gibt auch für weniger empfindliche Naturen angenehme und unangenehme Szenarien. Von Lasern geröstet oder zerteilt zu werden, gehörte zweifelsohne zu den weniger angenehmen. Dieser Gedanke ließ ihn wieder unentspannter werden.
Der Gastgeber zog an der Zigarre und schien die Gedanken eines Gastes erraten zu wollen, dessen Mimik nicht viel abzulesen war. Hier halfen Intelligenz und Empathie nicht weiter.
»Einen weiteren Whisky für deine Gedanken, Oskar.«
»Nehmen wir diesmal einen anderen.« Oskar trank den Whisky in einem Schluck und stellte das Glas demonstrativ vor sich auf den Tisch.
»Gern. Ich wähle aus, falls du nichts dagegen hast.«
»Ich vertraue deinem exquisiten Geschmack.«
Der Galerist bewegte sich elegant zur Bar, verweilte einen Moment und griff dann triumphierend wie zielsicher zu einer Karaffe ohne Label.
»Wir nehmen jetzt diesen.« Er kam freundschaftlich lächelnd mit der Karaffe zurück an den Tisch und schenkte beiden ein.
»Einverstanden.« Diesmal hob Oskar zuerst sein Glas. »Auf das Leben!«
»Hahaha, das finde ich gut. Auf das Leben! Und auf dich, mein Freund.«
Sie tranken einen Schluck, einer war das Spiegelbild des anderen – die schmatzenden Lippen, das wertschätzende Nicken. Alles an diesem Abend ließ darauf schließen, dass sich zwei Freunde einen Männerabend mit exquisitem Rauch- und Trinkgenuss machten.
»Und?«, forderte Nicky seinen Einsatz für das edle Getränk.
Oskar zögerte, wollte sich aber nicht um den Einsatz drücken. Warum auch? Es war nichts mehr zu verlieren.
»Hab mich nur gefragt, wann du mich um die Ecke bringst.«
»Und ob es schnell gehen wird, im Sinne von schmerzlos«, ergänzte der Dandy und musterte seinen Gast eine Zeit lang mit diesem unverkennbaren, stetigen Schmunzeln. »Ich werde meine sündteure Laseranlage nicht an dir ausprobieren, Oskar.
Es sei denn, du benimmst dich ungebührlich. Und mit benehmen meine ich in erster Linie bewegen, wie du weißt.«
Oskars fragender Blick forderte nach einer Ergänzung.
»Obwohl es mich schon reizen würde, sie einmal in Aktion zu sehen. Aber zum einen nicht bei dir… und zum anderen habe ich wohl doch nicht das Zeug zum ausgeprägten Sadisten.« Er sah auf seine Zigarre. »Wenn jemand direkt vor mir von den Lasern verbrannt würde, wäre das wohl doch nichts für mich. Ich glaube – trotz der Zusicherungen des Lieferanten – nicht, dass es ein schneller Tod wäre. Es auf den Überwachungsmonitoren zu beobachten, hätte eine abstraktere Dimension. Wie die moderne Kriegsführung per Joystick und Monitor.« Er sah gequält lächelnd auf. »Das moderne Töten als Videospiel. Damit hätte ich kein Problem. Quasi eine Art Porno für wirklich Perverse.«
Der Gast lauschte und dachte sich seinen Teil. Dieser Mann imponierte ihm wirklich. So einen wie ihn wollte er nicht als Kunden haben. Schon gar nicht als Kunden, der wusste, dass er Kunde war. Dann schon lieber als Auftraggeber. Oskar konnte sich sogar vorstellen, mit Nicky Tyron befreundet zu sein. Scheiß drauf, dass er ein reicher, arroganter Schmock war. Und schwul.
»Was würdest du gern noch vor deinem Tod tun, lieber Oskar?«
Schei ß e! Doch nix mit in Sicherheit wiegen.
»Ficken.«
Nickys Augen weiteten sich, seine Lippen formten ein Grinsen.
»Wie banal. Andere hätten jetzt angestimmt ‚Ich war noch niemals in New York‘.« Er sang den Titel des Udo Jürgens-Klassikers gar nicht mal so schlecht. Oskar musste unwillkürlich schmunzeln, riss sich wieder zusammen, um die Kühle seines Konters nicht zu verderben.
»Ich war schon in New York.«
»Sicher warst du das, o kosmopolitischer Professionist. Ich unterstelle mal…«
»Ja?«
»… dass sich das Ficken leider nicht auf mich bezieht«, kam es mit gespielter Enttäuschung.
»Bingo.«
Nicky fixierte Oskar mit einem süffisanten Lächeln. Wenn es ein Land des Lächelns gab, dann war der hier zweifelsohne der Mann des Lächelns.
»Vera!«, deutete der Mann des Lächelns mit der Zigarre auf seinen Gast. Der ‚Ertappte‘ pustete den Rauch der feinen Zigarre durch seinen schiefen Grinser. »Oh, das war nun aber wirklich nicht schwer, lieber Oskar. Glaubst du, ich habe deine zarten, kleinen Fingerspiele an Frau Doktor Wallner-Enzis Möse nicht bemerkt? Sie hat deine Fingerfertigkeiten sichtlich genossen, unsere in mehrerlei Hinsicht immergeile Freundin«, neckte der bislang so vornehme Dandy ungewohnt vulgär.
»Frau Doktor?«
»Jaaaa, das ist sie.«
»Was für eine Frau Doktor?«
»Psychologin, Oskar, Psychologin. Eine sehr gute obendrein. Sie war nämlich auch mal meine.« Nicky grinste aufgesetzt. »Da staunst du, was?«
»In der Tat. Da staune ich, Nicky. … Beeindruckende Frau.«
Herrn Tyrons Zufriedenheit steigerte sich sogar noch. Die zum Ausdruck gebrachte Bewunderung für die heiße Frau Doktor war sein Stichwort.
»Ich hab eine gute Nachricht für dich, mein Freund.« Schieres Amüsement machte sich beim Gastgeber breit. »Nein, eigentlich sogar zwei.«
Oskar lehnte sich vor, fixierte sein Gegenüber, war gespannt wie der berühmte Flitzebogen.
»Ich brenne auf gute Nachrichten, werter Nicky.«
»Ja, das denke ich mir!«, lachte Nikolas Tyron. »Dass du darauf brennst, gefällt mir besonders«, musste er mit einem Nicken in Richtung seiner Laser betonen, dass das Brennen noch vor wenigen Minuten eine Option im wortwörtlichen Sinne war. Oskar fand das Hervorheben dieser Zweideutigkeit zwar geistreich, aber nicht amüsant.
»Mit welchem Werkzeug arbeitest du?«, kam es unvermittelt. »Und greif jetzt bloß nicht in dein Jackett, um es mir zu zeigen.« Der Galerist deutete mit seinem Finger auf die Laser.
»Eine Walther.«
»Ah! Also doch James Bond.«
»Ja. Auch der Agent seiner Majestät setzt auf deutsche Wertarbeit.«
»Ist die nicht schon ziemlich alt? Wenn schon der Ur-Bond damit seine Lizenz zum Töten praktizierte.«
»Ist was Neues: keine PPK, sondern eine spezielle P99 Compact. Bis auf die Magazinkapazität kann die alles und noch mehr, was sonst nur die Normalgroßen können. Die hatte James Bond nicht.«
»Natürlich nicht«, quittierte Nicky grinsend. »Darf ich mal?«
Der Galerist stand auf und ging um den Tisch herum zu seinem Gast.
»Du gestattest? Du weißt, gegen meine Bewegungen ist das System immun.« Nikolas Tyron griff in das Jackett seines trotz Schusswaffe wehrlosen Gastes und erwischte gleich die richtige Seite. »Schau nicht so verblüfft, lieber Oskar.« Er zog die Walther aus einer speziellen, halfterartigen Innentasche des Sakkos. »Wo wird ein offensichtlicher Rechtshänder seine Waffe wohl tragen?«
»Links«, presste Oskar durch die Zähne.
»Abgesehen davon, dass selbst der beste, sagen wir mal auf solche Zwecke hingeschneiderte Maßanzug nicht alles verbergen kann. Wenn man sich mit Anzügen auskennt, natürlich.«
»Natürlich.«
»Und weiß, wen man vor sich hat.«
Woher wusste er bloß, wen er vor sich hatte? Nicky Tyron besah sich die scharfe Waffe und schüttelte amüsiert den Kopf. Privatwirtschaftliche Tötungsprofis haben keine Stresssicherungen in ihren Dienstwaffen, die eine ungewollte Schussabgabe aus Nervosität verhindern sollen: kurzer Abzugsweg bereits ab dem ersten Schuss. Das macht sie schneller als das serienmäßige, stressgesicherte Pendant, aber auch sensibel und gefährlich. Eben genau so, wie es der Beruf verlangt. Stresssicherungen sind etwas für Polizisten. Mit dem Wegfall der Stresssicherung musste auch die automatische Sicherung dran glauben. Oskars Waffenmeister – der ‚Professor‘ – hatte stattdessen eine manuelle Sicherung eingebaut. Diese stellte tötungsprofessionelle Ergonomie und Effektivität in Perfektion dar: einhändig zu betätigen, während man die Waffe schussbereit in der Hand hielt – blitzschnell mit dem Daumen der Schusshand. Und sie wurde bereits betätigt, sprich die Waffe war entsichert.
»Vorsicht. Sie ist entsichert und sehr sensibel.«
»Natürlich. Du warst ja zum Arbeiten hier. Wann hast du es gemacht?«
»Vorhin, als wir nach hinten gingen.«
»Wahnsinn. Das hab ich gar nicht bemerkt«, bemerkte Nicky bewundernd. »Kein Schalldämpfer?«
Na, was glaubst du denn?
Ein ohrenbetäubender Knall, der so ganz anders als die falschen – ‚sexy‘ klingenden – Schussgeräusche in Filmen war, zerriss die gemütliche Geräuschkulisse. Oskar war im Begriff, die linke Hand in die rechte Innenseite des Sakkos zu führen, als der Galerist die Waffe hochriss und schoss. Das Projektil schlug knapp neben ihm in der Rückenlehne ein.
»Mist!«, blaffte Nicky.
Der knapp Verfehlte fror ein, rührte sich keinen Millimeter mehr. Herrn Tyrons Stimmung war schwer einzuschätzen. Die Lautstärke des Schusses tangierte ihn weniger, da das geheime Hinterzimmer schallisoliert war.
»Verdammt, Oskar!«, ereiferte sich der Schütze. »Was hab ich dir gesagt?«
Oskar schaute wie die berühmte Kuh, wenn‘s donnert. Und es hatte gedonnert.
»Du sollst keine verdächtigen Bewegungen machen! Du hast in dein Scheiß-Jackett gegriffen. Mein Schuss hat das System davon abgehalten, dich zu rösten. Es ist subsidiär eingestellt. Wenn ich eine Bedrohung mit Waffengewalt abwende, sieht das System von einem Verteidigungsschlag ab. Und jetzt schau dir mein schönes Sofa an! Verdammt!«
»Ich wollte nur den Schalldämpfer rausholen«, stammelte ein verletzlich wirkender Oskar. Anscheinend war er doch nicht so ein Profi, als den er sich nur Augenblicke vorher verkaufen wollte. In einem unbedachten, fast zwanglos scheinenden Moment vergaß er die Auflagen bestimmte Bewegungen betreffend. Höchst unprofessionell. Ohne Nickys geistesgegenwärtige wie schnelle Reaktion wäre er von einem halben Dutzend Lasern unter Beschuss genommen worden.
Galerist Tyron schüttelte den Kopf und kniff die Lippen zusammen.
»Wie lange bist du schon in deinem Geschäft?«, fragte er, unterschwellig vorwurfsvoll wie ein Vater. Auch diese Scheißfrage musste Oskar sich wohl oder übel gefallen lassen. Nicky hatte verdammt recht.
»Entweder noch nicht lange genug oder schon zu lange.«
»Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung, mein Freund.« Nikolas Tyrons Blick war eiskalt. Dieser Mann konnte schießen und treffen. Und das auch noch schnell. Es ist schwieriger, gezielt daneben zu schießen, als direkt auf jemanden abzudrücken. Er hatte seine Qualitäten heruntergespielt, als es um das Duell der Revolvermänner ging, bei dem er angeblich keine Chance hätte.
Also doch ein Super-B ö sewicht!
Der Galerist streckte eine Hand aus und hielt sie auf. Das Nicken auf Oskars Jackett stellte klar, was er wollte. Er zielte unverändert auf den Eigentümer der Waffe.
»Jetzt kannst du in dein Jackett greifen. Aber bitte langsam.«
»Bist du sicher?«
»Das System ist intelligent, wie ich schon sagte.« Er setzte ein Schmunzeln auf. »Das System schon…«
Oskar fand den Nachsatz gar nicht witzig. Er griff wie in Zeitlupe in sein Jackett, zog den Aufsatz für sein Dienstwerkzeug heraus und reichte ihn dem, der ihn mit seiner Waffe in Schach hielt. Auch der Schalldämpfer war eine kompakte Spezialanfertigung: unauffällig zu tragen, für besondere Einsätze wie diesen. Nikolas Tyron besah sich das dunkle Metallrohr von allen Seiten, blickte durch, sah sich die Pistole an und befestigte den Schalldämpfer mit einem kurzen Dreh auf der Walther. Klick! Er hatte den Bogen raus, wie‘s geht: ein Bajonettanschluss, wie bei einer Spiegelreflexkamera. Eins der Specials von Oskars Dienstwaffe, einer seiner Dienstwaffen. Der Gastgeber legte das komplettierte Arbeitszeug – so wie es für ihn gedacht war – auf seinen Gast an.
»Ist die gute Nachricht, dass du mich nicht deinen Lasern überlässt, sondern abknallst?«
Nicky legte den Kopf ebenso schief wie seinen Grinser, hielt die Waffe hoch und betätigte den Schieber, der das Magazin im Pistolengriff fixierte. Das Magazin ließ er in eine Außentasche seines Sakkos gleiten.
»Besser?«, fragte er.
»Nicht wirklich.«
Zur Bestätigung dieser Skepsis zerschnitt ein scharfes Plopp die Luft. Genauso wie das Plopp verursachende Projektil, das diesmal auf Oskars rechter Seite, neben seinem Knie in der Couch einschlug.
»Ich wollte mal hören, wie sie mit Schalldämpfer klingt. Geil!«
Oskar steckte seinen Finger in das frische Einschussloch neben sich.
»Das gute Sofa…«, brummte er.
»Den oder gar was anderes kannst du bald in Frau Doktors Körperöffnungen stecken«, bedeutete der Galerist mit Blick auf die Finger-Aktion. »Das ist die gute Nachricht.«
Den letzten Schuss feuerte er ohne Magazin ab. Eine Patrone steckt immer noch in der Kammer, wenn man das Magazin einer durchgeladenen Waffe herausnimmt. Automatische und halbautomatische Waffen sind durch die Explosivkraft des abgegebenen Schusses nach jedem Schuss wieder durchgeladen und feuerbereit, sofern noch Munition im Magazin steckt. Jetzt war die Walther wirklich leer.
»Dein Werkzeug behalte ich«, stellte er klar. »Sicher ist sicher. Keine Bange, du bekommst es zurück.
Du hast ja zuhause sicher noch mehr Waffen, oder?«
»Logisch.«
»Na fein.« Nicky lud die Waffe manuell durch, drückte ‚leer‘ ab, sicherte, legte sie auf seinen Schreibtisch und grinste seinen alles sehr genau registrierenden Gast an. Für den stand eins fest: Dieser Kerl hatte nicht das erste Mal eine Schusswaffe in der Hand. Alles – sogar wie er die Walther hinlegte – deutete darauf hin. Hier hantierte jemand in der Tat mit einem Werkzeug, nicht mit einer Waffe. Der Galerist ließ den Respekt vermissen, der sich bei beim Anfassen einer tödlichen Waffe manifestiert. Bei normalen, Schusswaffen ungewohnten Menschen.
»Du sagtest etwas von zwei guten Nachrichten«, kam Oskar auf das Thema vor den Schießübungen zurück.
»Gut aufgepasst, mein Freund.«
Der Gastgeber saß zur Hälfte auf der Tischplatte seines Schreibtisches, ein Bein angewinkelt, das andere auf dem Boden und sah auf Oskar herab. Der befand sich aus guten Gründen unverändert auf der Couch der Polstergruppe.
»Vera flachzulegen war nur eine«, bestärkte Oskar.
Nicky zog an seiner halbabgebrannten Opus X und legte sie in einen Aschenbecher auf dem Schreibtisch.
»Wenn man‘s genau nimmt, ist der Umstand Vera überhaupt noch flachlegen zu können, schon zwei gute Nachrichten auf einmal. Weil das untrennbar mit deinem Weiterleben verbunden ist.«
Der verhinderte Mörder fixierte sein Gegenüber, wartete auf die Fortsetzung, vermutete, dass das noch nicht alles war. Er ließ die Fingerspitzen beider Hände langsam gegeneinander tippen und harrte weiterer Ausführungen.
»Aber du siehst das richtig, Oskar. Ich meinte noch etwas anderes mit der zweiten guten Nachricht.« Der ursprünglich als Opfer angedachte Gastgeber griff nach seiner Zigarre, nuckelte und zog daran. »Die zweite gute Nachricht ist, Vera auch anderweitig flachzulegen.«
Oskar kniff ein Auge zu und dachte über diesen Hinweis nach.
»Hab ich dich richtig verstanden?«
»Ich bin sicher, das hast du«, kam die Bestätigung mit einem Zwinkern.
»Ich soll also Vera töten? Ich dachte, sie sei eine Freundin von dir.«
Wieder ein Zwinkerer.
»Und ihren alten Esel auch«, komplettierte der Galerist.
Oskar spitzte die Lippen. Das gefiel ihm besser. Den würde er mit Vergnügen von einem Dasein erlösen, das ihm zwar eine aufregende Frau beschert hatte, ihm aber die wahren, ungezügelten Freuden mit ihr vorenthielt. Echte Leidenschaft erlebte die heiße Vera zweifelsohne mit jüngeren und potenteren Liebhabern.
»Ich weiß, dass sie dir gefällt. Und dass du daher lieber nur ihren alten Kacker das Zeitliche segnen lassen würdest«, diagnostizierte Nicky ebenso treffsicher wie er mit Schusswaffen verfuhr, »aber es gibt nur diesen Zwei-in-eins-Deal.« Er wartete einen triumphierenden Augenblick. »Denn das ist dein eigentlicher Job.« Nicky verließ den Schreibtisch, setzte sich neben Oskar auf die Couch und hielt ihm das Whiskyglas entgegen. »Und ich bin derjenige, der ihn bezahlt.« Er winkte mit dem Zeigefinger, als wolle er sich etwas verbitten. »Du wirst keine Fragen stellen.«
Das war Nickys vorläufiger Schlusssatz zu diesem Thema. Er stieß sein Glas an Oskars, da der das Glas zwar hob, aber gedankenschwanger das Anstoßen nicht folgen ließ. Oskar nahm deutlich vernehmbar einen Schluck. Ihm kam in den Sinn, einer Riesenverarsche aufgesessen zu sein. Diese Gedanken wollte er gegenüber seinem Gastgeber artikulieren.
»Eine Frage werde ich doch stellen«, widersprach er dem zuletzt Gesagten.
»So? Das Wieviel ist schon mit deinem Vermittler geklärt. Da es jetzt zwei Kunden sind, wie ihr in eurer Branche eure Opfer zu nennen pflegt, verdoppele ich den ausgemachten Preis«, gab sich Nikolas Tyron erwartet großzügig, »und mache nicht mal von Mengenrabatt Gebrauch.«
»Rabatt räumt der Anbieter ein, nicht der Käufer«, kam es kühl, »und bei mir gibt’s den erst ab drei Kunden.«
»So, ab drei.
Hm, wen hätten wir da noch? Schade, mir fällt grad keiner ein.«
»Und diese Frage meinte ich nicht.«
»Sondern?«
»Kann es sein, dass du die Rolle vom Kunden zum Auftraggeber nicht nur deswegen tauscht, weil du jetzt am längeren Hebel sitzt…«
»Jaaaa?«
»… sondern dass du vorher schon mein Auftraggeber warst?«
»Jaaaa«, kam ein bestätigendes, langgedehntes Ja. »Möchtest du noch Whisky?«, fragte Nicky freundlich. »Du musst heute ohnehin nicht mehr arbeiten.« Der Eingeladene nickte, Nikolas Tyron schenkte ihm und sich nach und stieß erneut an. »Wir müssen jetzt aber ein wenig schneller trinken, werter Oskar. Ich muss dann wieder nach vorne, um den zweiten Teil der Ausstellung zu eröffnen.«
»Der zweite Teil…«, nickte Oskar gedankenverloren, was Nicky einen Schmunzler aufsetzen ließ. »Warum?«, wollte er noch wissen. Bei diesem Schnellversteher brauchte er die Frage nicht zu präzisieren.
»Sagen wir mal: Ich wollte meine Möglichkeiten ausloten. Und ich wollte dich ein wenig kennenlernen, bevor ich dich mit dem wahren Auftrag betraue. Du musst wissen, ich erteile nicht jeden Tag derartige Aufträge.«
Das hatte Oskar ohnehin nicht vermutet. Nikolas Tyron war sicherlich ein mit allen Wassern gewaschener Geschäftsmann und auch sonst kein Kind von Traurigkeit. Ebenso sicher hatte er seinen Wohlstand nicht per regelmäßiger Inanspruchnahme derartiger Dienstleistungen errichtet.
»Es hätte schiefgehen können«, merkte Oskar nach einer Weile an.
»Ja. Hätte es«, bestätigte der Gastgeber trocken. Er hatte sich seitlich gedreht und sah an seinem zum Dauersitzen verurteilten Gast vorbei.
»Ich hätte dich im Gewühl diskret abknipsen können.«
»Du warst dir vorhin sicher böse, dass du es nicht getan hast.«
»Darauf kannst du wetten.«
Sie tranken. Oskar fixierte den Galeristen, der starrte im Neunzig-Grad-Winkel an ihm vorbei. Er dachte sich, dass ein anderer Profi genauso verfahren wäre und die Zielperson bei erstbester Gelegenheit erledigt hätte. Nicht so Oskar. Hatte der clevere Galerist ihn auch in dieser Hinsicht richtig eingeschätzt?
»Falls du dich fragen solltest, ob und wann ihr euer restliches Honorar auch im Falle meines Todes bekommen hättet…«, begann der ursprünglich als Zielperson avisierte Auftraggeber.
»Hatte ich mich in der Tat gefragt. Du wärst ja schließlich tot gewesen.«
»Das ist heute per Post an deinen Agenten rausgegangen. Dieser Gregory Norman, wohnhaft elfvierzig Wien, ist ja dein Agent, oder?«
»Ja.«
»Müsste also morgen bei ihm in der Post sein.« Nicky grinste. »Seht es als komplette Anzahlung für den neuen Job… den wahren Job.«
»Tss, unglaublich!«, staunte der ansonsten abgebrühte Profi.
»Ja, nicht wahr? So einfach sind die kleinen Freuden posthumer Bezahlung. Die Post bringt allen was, hahaha!«, zitierte Tyron den Postslogan und lachte. Er beobachtete seinen verhinderten Mörder und nunmehrigen Auftragnehmer mit nicht deutbarer Miene und seinem immerwährenden Schmunzeln. Oskar schüttelte den Kopf und grinste verlegen, überließ es Nikolas Tyrons Intelligenz, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, seine Gedanken zu erraten.
Wenn du so weiter machst, werter Nicky, wird es irgendwann schiefgehen.
Irgendwann ger ä t man an den Verkehrten und versch ä tzt sich.
»Doch noch was«, warf Oskar auf.
»Noch eine Frage?«
»Ja.«
»Jetzt wirst du aber langsam unverschämt, mein Guter.«
»Kann sein. Vor allem, weil es mehr ein Wunsch als eine Frage ist.«
»Jetzt bin ich aber neugierig, Oskar.«
»Und genau darum geht es auch hier wieder: um Neugier.«
Der reiche Galerist beugte sich vor und hob erwartungsvoll die Augenbrauen, das Schmunzeln wurde breiter.
»Lass uns deine und meine Neugier befriedigen, lieber Nicky.«
Diesmal war es Oskar, der seine Finger auf die Abfeuerstationen des Lasers richtete. Sein schmunzelndes Gegenüber rollte lediglich die Augen in die gezeigten Richtungen.
»Ich beginne zu verstehen, Oskar.«
»Mich interessiert, wie schnell und tödlich deine Laser wirklich sind.«
»Ein gewagter Wunsch.«
»Nun, diesmal ganz ohne falsche Bescheidenheit: Das Umfeld, in dem ich tätig bin, wird nicht gerade von Feiglingen dominiert. Ich wäre dennoch für eine Möglichkeit dankbar, die mir nicht das Fell versengt.
Gibt‘s sowas wie einen Demomodus?«
Der zwielichtige Gastgeber grinste und schüttelte den Kopf.
»Normalerweise nicht. Erschaffen wir einen!« Nicky erhob sich und ging zum Schreibtisch, legte einen Zeigefinger vor die Lippen, symbolisierte ein ‚Pssst!‘, nahm Oskars Waffe und ließ sie in seinem Sakko verschwinden. Anschließend ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Die Augen des Galeristen leuchteten. Er hatte das ideale Objekt für eine Demonstration erblickt. Sein Gast beobachtete genau, wie er sich zum Objekt der Begierde bewegte, einem Werk von Alfred Hrdlicka. Erst jetzt bemerkte Oskar, dass sie den Gastgeber des heutigen Abends darstellte. Der 2009 verstorbene Bildhauer, ein Enfant terrible der Kunstszene, hatte eine lebensgroße Statue für und von Nikolas Tyron angefertigt. Beide Hände der Statue waren etwas vom Körper weggesteckt, die Handflächen zeigten wie beschwörend nach oben. Sogar das typische Schmunzeln hatte Hrdlicka dem metallenen Tyron verpasst.
»Er war ein Freund von mir«, grinste der Gastgeber fast entschuldigend, »Ich glaube, das hätte dem Fredl sogar gefallen.«
Mit einem Mal wanderte die Waffe blitzschnell vom Sakko des Galeristen in die rechte Hand der Statue. Nicky zog sich ebenso blitzschnell von seinem metallenen Ebenbild zurück und riss beide Hände nach oben. Fast im selben Moment blitzte und zischte es. Drei kaum sichtbar dünne, rote Lichtstrahlen nahmen die Statue aus verschiedenen Winkeln unter Beschuss. Es dampfte und stank, aber sonst passierte nichts. Gast und Gastgeber sahen sich wechselweise an und immer wieder zur Statue. Nicky schmunzelte auch jetzt noch, hob erwartungsvoll die Augenbrauen. Anscheinend war er beeindruckt, auf jeden Fall beeindruckter als der Killer. Die Anlage war deutlich schneller, als Oskar gedacht hatte. Aber auch tödlich? Der Gestank deutete auf Verbrennungen hin. Ein lebendiges Ziel hätte sich Verletzungen zugezogen, sicherlich sogar schwere. Am Kopf hätten die einen Menschen besser nicht treffen sollen. Aber sie zielten nicht auf den Kopf.
»Hm, der Blech-Nicky ist im Großen und Ganzen heil geblieben.«
»Nein, ist er nicht«, widersprach der Hausherr mit leiser Bestimmtheit.
Wenige Sekunden danach fiel die Statue in drei großen Brocken mit Getöse in sich zusammen. Nur der Sockel blieb stehen.
»Noch irgendwelche Fragen, Oskar?«
»Nein.«
»Es haben nur drei Laser auf die Statue gefeuert, weil das Programm die auswählt, die am günstigsten zum Erreichen des Ziels sind. Falls das noch eine Frage gewesen sein sollte, die in dir nagte.« Die Cleverness des Galeristen ließ Oskar abermals schmunzeln. »Der Hrdlicka-Nicky ist ein Spätwerk. Sehr wild. Herrlich raue Oberfläche. Das lässt sich wieder schön restaurieren.«
Für den reichen Galeristen schien das Leben in vielerlei Hinsicht ein Spiel zu sein. Obwohl dieser Abend ebensogut sein letzter hätte sein können, machte er nicht einen Moment den Eindruck, Niederlagen gewohnt zu sein. Er nahm wieder neben Oskar Platz.
»Ich hab dann auch eine Frage an dich, Oskar…«
»Ja?«
»Wie bist du an deinen jetzigen Beruf geraten?«
Es war nicht von der Hand zu weisen, dass ein intelligenter wie neugieriger Mensch wissen wollte, wie man in diesem Beruf landen konnte. Wenn man schon ‚jemanden von dieser Sorte‘ vor sich sitzen hatte und ihn dank einer (bestens funktionierenden) Laseranlage in Schach hielt, dann konnte man den auch gleich mal fragen. Eine bessere Gelegenheit zum Ausfüllen dieser Wissenslücke würde sich schwerlich ergeben.
»Soweit ich weiß, wird Profikiller nicht bei der Berufsberatung des Arbeitsamtes behandelt. Also, Oskar?«
»Übers Internet.«
Nikolas Tyron legte seinen Kopf schief und grinste seinen Gast ungläubig an. Dabei war das nicht grundsätzlich gelogen. Nur dass als Anwerbemedium nicht das Internet, sondern das Intranet fungiert hatte. Obendrein bedurfte es der Aussicht auf eine drohende Knastkarriere, um die Entscheidung für diesen Lebensweg zu erleichtern. Aber Oskar wollte weder derart konkret werden, noch den Unterschied zwischen Internet und Intranet erklären.
»Soso. Da stand dann also im Internet sowas wie ‚Nachwuchskiller gesucht. Außer Skrupellosigkeit keine besondere Vorbildung vonnöten‘.«
»Es war noch konkreter, vor allem persönlicher. Es war direkt an mich gerichtet.« Oskar pausierte, lächelte verlegen. »Diese Berufswahl war nicht geplant. Killer war nicht gerade mein Berufsziel…«
»Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt«, streute Nicky beider Lebensmotto ein.
Das war schon fast zuviel an Information. Mehr musste der verschlagene Galerist nicht über den Anfang seines Werdegangs in der privatwirtschaftlichen Tötungsbranche wissen.
»Verstehe. Spannend, in der Tat.« Nicky schien Beweggründe, die nicht ansatzweise konkret ausgesprochen wurden, in der Tat zu verstehen. »Ich könnte mich noch stundenlang mit dir unterhalten, lieber Oskar…«
»Ich mich auch mit dir.« Wieder wirkte Oskar verletzlich, machte den Eindruck, als hätte er jemanden gefunden, dem er sich anvertrauen konnte. Was er aber nicht tat. Trau keinem!
»Ich weiß, dass du das nicht nur so sagst.« Nicky lächelte, rüttelte freundschaftlich Oskars Arm und zog ein letztes Mal an der Zigarre. Sie war bereits ausgegangen. Sein Schulterzucken ließ erkennen, dass die erkaltete Zigarre als ein Zeichen zum Gehen zu deuten war. »Vera wartet auf dich.« Seine Zweideutigkeit unterstrich er mit einem Nicken Richtung Ausgang. Er hob beide Hände und und ließ sie voreinander vorbeiwischen.
Aha. Das Zeichen f ü r die automatische Indoor-Grillanlage, sich wieder zur Ruhe zu begeben!
Nikolas Tyron bemerkte die aufmerksame Beobachtung seines Gastes, antizipierte dessen Schlussfolgerung und schmunzelte.
»Ah, doch noch was, Oskar…«
»Jetzt wirst du aber langsam unverschämt, mein Guter.«
Das geklaute Bonmot ließ den Galeristen breit grinsen.
»Wie kann ich dich erreichen? Ich meine dich persönlich.« Nicky kramte wieder mal in seinem Jackett, reichte einen teuren Montblanc-Kugelschreiber und zwei seiner Visitenkarten. »Könnte für den weiteren Verlauf nützlich sein. Kürzt Wege ab. Bislang habe ich nur die Daten von deinem Agenten. Eine behältst du, auf die andere schreibst du mir bitte deine Mobilnummer. Ich gehe nicht davon aus, dass du Visitenkarten hast, auf denen ‚Oskar Randow, Auftragskiller‘ steht. Bei Anruf Mord, hahaha.«
»Sowas hab ich in der Tat nicht. Wie konntest du das bloß wissen?«
»Intuition. Schreib ‚Oskar‘ dazu.«
»Klar.« Oskar tat wie geheißen, reichte Nicky – ungern – den wirklich schönen Kugelschreiber sowie die Karte mit seiner Telefonnummer.
»Behalt ihn.« Nikolas Tyron nickte schmunzelnd auf den Montblanc.
»Was?«
»Behalt ihn«, diesmal gehaucht und mit einem aufmunternden Zwinkern garniert. »Sieh es als Leihgebühr für deine P99. Ich sehe, dass er dir gefällt. So wie ich gesehen habe, dass Vera dir gefällt.«
»Das geht doch nicht. Der ist sicher sauteuer… und viel zu schön.«
»Er ist schön genug, nicht zu schön. Nimm ihn«, kam es gesäuselt.
»Danke«, sagte der Beschenkte, nahm den ihm entgegen gehaltenen, mattsilbrig-schwarzen Kugelschreiber und steckte ihn in sein Sakko.
»Du hast genug Zeit für Vera. Es eilt nicht. Vergnüg dich erstmal mit ihr. Du bist jetzt ohnehin nicht schussbereit.« Tyron nickte in Richtung der Walther, die sich mit den Trümmern der Statue auf dem Boden befand. »Was diese Waffe angeht.« Er zwinkerte und blickte sich um. »Ich muss jetzt ein bisschen aufklaren und dann dem Mob den hinteren Ausstellungsraum aufsperren. Für die richtige Vernissage. Eine kleine Ansprache werde ich auch halten. Lass dich nicht zu sehr ablenken, mein Freund. Sonst verpasst du sie.« Er genoss Oskars Grinsen, erhob sich und strebte dem Ausgang entgegen. Per erneutem Handauflegen glitt die fahrbare Wand an die Seite. Er blieb und deutete seinem frischgebackenen Auftragnehmer galant, nach draußen zu schreiten. Warum das ‚Aufklaren‘ jetzt vonnöten war, erschloss sich nicht hinreichend. Schließlich gab es einen Putztrupp, der sogar Überreste von ehemals Lebendigem entsorgen würde. Obendrein könnten ungebetene Gäste schwerlich die Kunde eines unaufgeräumten Hinterzimmers in die Welt tragen, da sie nach dem Eindringen von der Laseranlage zerteilt würden.
Oskar schlenderte durch die hinteren Gänge der Galerie, bis er an die Tür kam, die den hinteren vom vorderen Bereich trennte. Die sich vormals automatisch öffnende Tür schien sich nur aus einer Richtung automatisch zu öffnen. Er war erleichtert, als sie sich per Druck auf den Türgriff öffnen ließ. Da er noch einmal mit dem Leben davongekommen war, ging er zuvor schon wie auf Wolken. Aber erst jetzt, als er den Vorhang an die Seite schob und sich wieder ins Gewühl begab, fühlte er sich sicher.
Einige Gäste hatten bemerkt, dass er aus einem Bereich kam, der ihnen verschlossen blieb. Obwohl die Ausführung des ursprünglichen Auftrags gescheitert war, ließ ihn ein eingefleischter Automatismus die Routinen eines erledigten Jobs durchlaufen. Sind nach einem erledigten Hit Leute – also potenzielle Zeugen – da: in der Masse untergehen, sich ihr anpassen, unauffällig sein. Das bedeutete, dieselbe Neugier wie die Masse zu zeigen, wenn etwas passiert war. Gerade dann, wenn man selbst dafür verantwortlich zeichnet. Der einzige, der woanders hinsieht, weiß, was dort vorgegangen ist, wo alle anderen hinsehen. Da das für diesen Abend Vorgesehene nicht geschehen war, beschränkte sich sein Anpassen auf das Aufsetzen eines kompatiblen Gesichtes. Ein Gesicht, das zu diesem Publikum passte: etwas blasiert, aber nicht unnahbar. Schauspieltalent gehört nunmal auch zu diesem Beruf. In diesem Moment spürte er den Whisky. Nicky und er hatten nicht gerade wenig in sich reingeschüttet. Obendrein war er die meiste Zeit angespannt. Das lässt das Blut zirkulieren – auch, wenn sich die Anspannung löst. Wie nach einem Saunagang oder nach dem Sport.
Er erblickte weiter vorn Vera und ihren unverändert mit Argusaugen wachenden Walter. Sie hatten ihn ebenfalls gesehen. Würde er sich nicht zu ihnen begeben, fiele es auf. Außerdem hatte er eine neue Mission, die Kontakt verlangte. Vera grinste vielsagend, als er sich auf sie zubewegte.
»Hallo!«, rief sie, lachte und winkte. Sie schien sich wirklich zu freuen.
»Hallo«, erwiderte er, sah zu ihr, dann zu ihrem Mann. »Na, ihr. Ich hoffe, ihr habt euch ohne den guten Nicky nicht gelangweilt.«
»Du hast dich vergessen«, schmunzelte Vera.
»Äh, was?«
»Du hast vergessen, dass auch das Fehlen deiner Gesellschaft langweilig sein kann«, kam es gehaucht. Fast konnte man es verrucht nennen.
Ganz schön gewagt! Der eifersüchtige Gespons stand direkt neben ihr.
»Bin halt zu bescheiden«, erging sich Oskar wieder mal in falscher Bescheidenheit.
»Wer‘s glaubt«, raunzte Walter. Vera drehte sich lachend zu ihm um.
»Grad wollte ich dasselbe sagen, Hase«, kam Veras Anerkennung für ihren ‚Hasen‘. »Bestellst du uns noch drei Wein, Hase.« Der Anerkennung folgte eine Dienstanweisung. Walter tat wie geheißen. Als sie miteinander anstießen, stieß noch jemand an sein Weinglas, mit einem metallenen Gegenstand und mikrofonverstärkt. Das ließ auf Nickys Ansprache schließen. Vera fixierte Oskar mit vielversprechendem Blick, riss die Augen auf und leckte geradezu obszön über ihre knallroten Lippen. Ihr lasziver Blick fuhr ihm direkt in den Unterleib. Der wie gehabt hinter ihr stehende Walter konnte es nicht sehen.
»Ich muss sehen, was da passiert!«, postulierte sie laut genug, damit ihr Mann zumindest das mitbekam. »Kommt, wir gehen nach vorn!«
Sie ergriff Oskars und Walters Hand und begann zu drängeln. Vera schaffte es, ihren Mann so zu dirigieren, dass er mit seiner Masse den Weg bahnte und Oskar nach ihr durchs Gewühl schob. Dabei drückte sie seine Hand an ihren Po, wie der Rest ihres Körpers fleischgewordene Perfektion. Zwei prächtige Halbkugeln, nicht zu schmal, nicht zu voll, samtig weich und doch knackig. Er hob während des Drängelns ihr Kleid an und führte seine Hand an ihre nackten Pobacken. Ihr verwegener Blick über die Schulter signalisierte, dass sie sich das genauso gedacht hatte.
»Liebe Freunde der italienischen Sangeskunst und anderer schöner Künste! Für die, die mich noch nicht kennen und hauptsächlich wegen des Weins, der Nascherei an den Leckereien…« Nicky erblickte Oskar und Vera in der Menge. »… oder an den Damen da sind:
Ich bin Nicky Tyron, euer Gastgeber.«
Die Ansprache für den zweiten Teil des Abends war vorhersehbar geistreich und pointiert. Das abgefeimte Luder von Frau Doktor lehnte mit der Brust an der Seite ihres sie oberhalb der Taille haltenden Mannes, umarmte ihn, heuchelte Verbundenheit. In Wahrheit nutzte sie diese im Gewühl eingenommene Stellung dazu, beim vorgeblichen Lauschen der Ansprache Oskar ihren Hintern entgegenstrecken zu können. Der dachte sich, dass der Rest des Abends außer seinen geradezu eingeforderten Handspielereien ereignislos bleiben würde. Er musste nicht länger bleiben, hatte mehr gesehen und erlebt als alle Anwesenden noch zu sehen bekämen und erleben würden. Sein auch für Veras Mann laut genug vorgebrachtes »Ich muss leider gehen« löste wieder mal eine für andere unmerkliche Aktion aus. Sie steckte ihm ihre bereit gehaltene Visitenkarte zu. Er nahm sie unauffällig, steckte sie ein, zwinkerte und ging.
Als er außer Sichtweite der Galerie war, besah er sich die Karte. Bedruckte Vorderseite: Dr. Vera Wallner-Enzi, Psychologin, Adresse, Telefon… auch mobil. Okay. Mehr als okay, bestens. Er winkte einem Taxi.
Im Taxi drehte er die Karte um und grinste.
‚Meld dich, geiler Oskar
für den Fick deines Lebens! V‘
Die unüberbietbar eindeutige, handgeschriebene Ergänzung auf der Rückseite von Veras Visitenkarte (die sie grinsend in einer Toilettenkabine geschrieben hatte) besaß nicht die Anmutung eines ablehnbaren Vorschlags.
Warum sollte er das auch ablehnen? Er würde sich garantiert bei ihr melden. Aus dem einen und dem anderen Grund.