Читать книгу Erinnerungen an die "68er": Damals in Dahlem - Jürgen Dittberner - Страница 12
Geistig-moralische Wende
ОглавлениеDer neue Bundeskanzler, Helmut Kohl16 (CDU), sprach von einer „geistig-moralischen Wende“, die seine Regierung herbeiführen wollte. Sie sollte anknüpfen an die aus seiner Sicht „gute, alte Adenauer-Zeit“ und ihre Spielregeln. Doch daraus konnte nichts werden. Obwohl sich die sozial-liberale „neue Mittelschicht“ als Hirngespinst erwiesen hatte, denn die höheren Angestellten und Beamten liefen 1982/83 in Scharen zur CDU/CSU über, war doch in der Bevölkerung ein Bewusstseinsstand erreicht, dass eigene Rechte auch gegen den Staat durchgeboxt werden müssten, und die allgemeine Ost-West-Entspannung hatte trotz eines erneuten Wettrüstens zwischenstaatliche Beziehungen geschaffen, für die die alten politischen Handlungsmuster nicht mehr passten.
Die „Grünen“ drangen weiter ins Parteiensystem und wandelten sich von einer „Anti-Parteien-Partei“ binnen 20 Jahren zur Regierungs- und Kriegspartei.17 In der allgemeinen politischen Kultur machte sich in der Ära Kohl Besitzstandsdenken und Egoismus breit. Das Gemeinwohl galt immer weniger, das Ego immer mehr. Nicht einmal eine Volkszählung wagte der Staat anzusetzen, weil er sich nicht einer Klageflut aussetzen wollte von Staatsbürgern, die ihre individuellen Freiheitsrechte verletzt sahen. Eine Rechthabergesellschaft war entstanden, und die Regierung Kohl schritt aus Furcht vor Wählerverlusten nicht dagegen ein. So reduzierte sich die politische Kultur auf Besitzstandswahrung, und die öffentliche Debatte wurde durch eine „politische Korrektheit“ geregelt, die folgendes propagierte:
Der Nationalsozialismus ist schlecht, und rechte politische Strömungen sind es ebenfalls.
Im Lande lebende Ausländer bereichern die multikulturelle Gesellschaft und sollen integriert werden.
Die Gewerkschaften haben das Recht, von den Arbeitgebern höchstmögliche Löhne zu erzwingen und obendrein „Errungenschaften“ wie die 35-Stundenwoche und den Kündigungsschutz.
Strukturelle Arbeitslosigkeit darf es nicht geben; das soziale Netz fängt vorübergehend beschäftigungslos Gewordene auf und führt sie zurück in den ersten Arbeitsmarkt.
„Die Rente ist sicher.“
Jeder Bürger hat das Recht, sich gegen den Staat und jede Institution mithilfe von Gerichten zu wehren, wenn er sich in seinen Interessen getroffen fühlt.
Soziale Defizite oder Benachteiligungen unterschiedlicher Gruppen sind administrativ durch Quoten auszugleichen.
Es ist das gute Recht eines jeden, den offiziellen politischen Organen zu misstrauen und ihnen durch Runde Tische, Beiräte, Kommissionen, Plebiszite oder Bürgerinitiativen in die Arme zu fallen.
All dies ließ die Regierung Kohl laufen aus Angst vor Amtsverlust, obwohl man wusste, dass in den skandinavischen Staaten, in den USA und in Großbritannien zur gleichen Zeit tiefgreifende Veränderungen durchgeführt wurden. Kohl glaubte es seinen Wählern nicht zumuten zu können, das deutsche Wirtschafts- und Sozialsystem zu modernisieren. Aus dem gleichen Grunde wurde die FDP ein Teil der „Machtmaschine Kohl“ und spielte nur noch die Rolle einer „Partei der zweiten Wahl“.18 Die konservativ-liberale Regierung konnte die aus internationalem Druck entstandene steigende Arbeitslosigkeit nicht abfangen, nicht das Gesundheits-, das Renten- oder das Steuersystem reformieren. Sie war den Ansprüchen ihrer Moderatoren- und Krisenmanagerrolle nicht mehr gewachsen und wäre 1990 wohl abgewählt worden, wäre nicht die deutsche Einheit gekommen.