Читать книгу Beten - Jürgen Fliege - Страница 21
ОглавлениеBloß nicht einschlafen!
Und spähet, lauschet, harret, trauert,
bis Euch sein heil’ger Hauch durchweht,
bis seine Wonne Euch durchschauert;
Erkenntnis Gottes ist Gebet.
(Nikolaus Lenau, österreichischer Lyriker, 1802-1850)
Wach bleiben ohne Mantra & Co
Wenn ich beim Einchecken in ein Hotel meinen Beruf eintragen soll, dann bin ich oft Zitronenzüchter, selten Fernsehmoderator, manchmal auch Pensionär oder Pfarrer. Am liebsten aber bin ich Betlehrer und schmunzele beim Einschreiben. Meine Aufgabe ist es, der Schuhlöffel für die anderen zu sein, damit sie in ihre spirituellen Schuhe wieder reinrutschen. Jeder hat maßgeschneiderte. Ich beobachte den Menschen gern genau. Ich bin ein Augenmensch. Ich erinnere ihn, wenn es angebracht ist, an seine Sehnsucht nach dem Himmel oder nach Ganzheit und Heilung. Es ist immer die Heilung, die einer sucht. Wenn Innen und Heilung zusammenkommen, ergibt das auf eine bloß schlichte Art Selbstheilung, also mache ich ihn aufmerksam auf sich selbst, auf seine Lebensposition. Ich achte darauf, dass er als Beter nach unten geht, auf die Knie. Aber nicht, wie die Kirche es tut, indem sie die Leute künstlich kleinhält. Ich halte ihn an, seine Kleinheit zu spüren vor dem Großen, damit es ihm gut geht. Er muss wieder sein Maß finden. Da braucht es Maßstäbe und Konfrontation.
Wenn einer sich bei Sacher in Wien mit einer ganzen Torte versündigt, kriegt er vielleicht Diabetes. So viel weiß er selbst. Er „sündert“ sich automatisch von den anderen ab – ein Sünderling! Es ist also eine Frage der Vernunft, ihm ans Herz zu legen, maßzuhalten im Leben, sein eigenes Maß zu finden und zu halten. Denn das bedeutet Gesundheit. Ohne Maß, also maßlos zu sein, fällt auf ihn zurück. Er wird es immer ausbaden müssen. Wir nennen das alles althergebracht „Sünde“. Aber nicht, weil es vor einer Autorität falsch wäre, sondern für einen selbst nachteilig ist. Ich bin einmal negativ aufgefallen, weil ich das Übertreten des biblischen Masturbationsverbot bei Onan, den Sohn Judas, nur deshalb als „Sünde“ definieren wollte, weil er es immer nur für sich allein machte und nicht, weil er dadurch keine Kinder gezeugt hat. Hätte ihm jemand dabei zugeschaut, dann sähe die Sache ganz anders aus. Dann wäre es keine Sünde, sondern ein Spiel mit offenem Ende. Es ist das rechte Maß, das wir finden müssen.
Wenn es dem Esel zu wohl wird, also wenn er zu viel hat, wird er übermütig und geht aufs Eis. Wenn er zu wenig hat, geht es ihm schlecht, bricht er ein. Auch im Sex muss jeder sein Maß finden. Luther kann nicht sagen, zwei- oder dreimal die Woche ist perfekt. Jeder muss selbst herausfinden, was ihm guttut und was ihm schadet. Ich beobachte einen Beter und finde mit ihm heraus, was für ihn funktioniert und was nicht. Das ist wie bei einem Arzt, der als Führer gemeinsam mit dem Patienten herausfinden will, was dem Kranken fehlt.
Wer seinen Laden in Ordnung halten will, der muss in der Stille sein Maß finden, indem er Maß nimmt. Das geht sicher nicht in einer kollektiven Betinstitution, die alle Beter über einen Kamm schert und ihnen nicht immer kostengünstig Generalabsolution erteilt. Wo also Maßstäbe als Gebote und Verbote von außen an jedes Individuum gleichermaßen herangetragen werden, und zwar mit dem statistisch fragwürdigen Versprechen, man werde erhört werden. Eins zu wie viel eigentlich? Ist das mehr oder weniger als bei der deutschen Lottogesellschaft, wo wir alle reingelegt werden?
„Seid nun wach allezeit und betet.“ Das ist die Antwort, die Jesus gibt auf die Frage nach der Maß nehmenden Betkunst. Und das finde ich wirklich spannend: Es ist den Jüngern so wichtig, dass sie ihren Rabbi – immerhin Lehrer! – im Neuen Testament ausschließlich darum konkret bitten, wie ein Vorstoß aus Übermut oder Übersehnsucht, Übermangel: „Herr, lehre uns beten!“ Es gibt ja keine Lehrbitte der Jünger, die sagt: „Herr, lehre uns teilen. Herr, lehre uns vergeben. Herr, lehre uns heilen.“ Das hätte doch erst recht nahegelegen. Offenbar scheint das Beten eine übergeordnete Kompetenz zu sein. Und es scheint nicht von Kindesbeinen an schon richtig gemacht zu werden. Darum holt man den großen Meister vom Himmel herab, dass er einem etwas sehr Archaisches noch einmal beibringen soll. Was offenbar unter die Räder gekommen ist. Unter die Mantraräder, unter die Institutionsräder, unter die Meine-Oma-hat-es-schon-so-gemacht-Räder. Die Wiederholungs- und Übertragungsräder. Und Jesus sagt einfach: „Seid wach allezeit.“ Kein Mantra, kein Ave Maria, kein Rosenkranz. Wach sein, das ist alles, aber was genau ist das?
Wachheit, das ist der Punkt. Alles andere ist spirituelles Allotria. Und es ist ein so gefährdeter und so sensibler Punkt, dass er sofort wieder unter die Räder der Traditionalisten und der spirituellen Leute kommt. Sofort machen die wieder aus dem, was ihnen neu beigebracht worden ist, ein Mantra. Ein Kopf-in-den-Sand-Gebet: nicht wach! Sie wollen wach sein, aber sie können es nicht. Der Anspruch des Nazareners – im Sinne von Meditieren – gilt immer nur dem Wachsein. Die ganzen Aufrufe und Gleichnisse Jesu – so auch die Geschichte von den Jungfrauen, die auf den Bräutigam warten sollen, aufpassen sollen, dass die Öllampen nicht ausgehen. Nicht einschlafen. Wie in Gethsemane! Nicht einschlafen, wachen! Nicht reden, wachen wie der Papst in Auschwitz-Birkenau! Seid wach, seid wach, wachet und betet, wachet und betet, wachet und betet! Das zielt auf etwas anderes. Er hat doch nie gesagt: „Macht die Augen zu und betet, sprecht ein Mantra!“ Warum tun wir das? Wer hat uns das eingeimpft? Und warum haben wir es geschehen lassen? Wem liegt an unserer Schläfrigkeit? Und warum sollten wir auch wach sein in einer Gemeinschaft, die uns vom ersten Augenblick an als Taugenichtse, Sünder und Versager beschimpft und uns auffordert, es endlich vor aller Welt zuzugeben?
Jesus betete anders. Beten ist eine Art Haltung, die Jesus selbst transparent gemacht hat. Wenn er anfing zu beten, war er hellwach! Total wach, selbst mitten in der Nacht. Da sah er Dinge, die die anderen noch nie gesehen hatten. Und daran wollte er sie teilhaben lassen: „Bleibet hier und wachet mit mir.“ Aber jedes Mal, wenn er nach ihnen sah, waren sie wieder eingeschlafen. Die wirklich wichtigen Dinge bekamen sie also nicht mit. Schlafen, sich nicht beteiligen, sich nicht kümmern um das, was wirklich passiert. Um daraus sozusagen aufzuwachen und präsent zu sein, braucht man etwas anderes, etwas Lebendigeres als Gebetsformeln. Traditionalisten entwickeln jede Form von Gebetslehre als Konzept, damit sie die Leute spirituell in Kartons packen können, in Dosen abfüllen, in Uniformen stecken. Sie lehren genau das andere: Mach die Augen zu und glaube blind. „Ich will die Augen schließen und glauben blind. In dein Erbarmen hülle mein schwaches Herz, und mach es gänzlich stille in Freud und Schmerz. Ich kann allein nicht gehen, nicht einen Schritt, wo du wirst gehen und stehen, da nimm mich mit.“ Das ist ein Choral zum Kopf-in-den-Sand-Stecken. Das ist infantil, eine spirituelle Stufe, auf der man noch an den Nikolaus glaubt. Und es ist ein Gebet, das nicht stark, sondern mutlos macht und obendrein unnötig kleinhält. Ich würde es nur singen, wenn ich selbst stürbe oder anderen beim Sterben beistehen dürfte. Dann, wenn man sein ganzes Leben aus der Hand geben müsste. Alles also zu seiner Zeit. Schließlich sucht jeder Mensch im eigenen Sterben die Naivität der Gotteskindheit ein letztes Mal. Das ist in Ordnung. Aber hier und jetzt suchen wir Ermutigung zur Auferstehung.
Vor einigen Jahren durfte ich eine prominente Frau in einer schwierigen Lebenssituation begleiten. Ich wusste, dass es für sie darum gehen würde, wach genug zu sein, um sich neuen Herausforderungen zu stellen und die Dinge, die vielleicht schiefgelaufen waren, genau anzuschauen. Dazu gehörte wohl auch, für einen Moment aus dem beruflichen Alltag auszusteigen, denn obwohl sie einen sehr vollen Terminkalender hatte und offensichtlich alle Aufgaben mit voller Konzentration erledigte, war sie in meiner Wahrnehmung genau in dieser Terminenge spirituell eingeschlafen. Sie war vor Jahren aus der Kirche ausgetreten. In den stärksten Jahren eines Frauenlebens schien kirchlich verordnete und verabreichte Spiritualität vernachlässigbar. Und laut war sie, als wenn es etwas zu übertönen gäbe. Stille war ihr so fremd, dass ich vermutete, sie könnte ihr Angst machen, geschweige denn, sie irgendeine Ruhe überhaupt genießen lassen. Also schickte ich sie los: „Gehen Sie allein in die Berge – hören Sie, allein! Ohne alles, ohne Checkkarte, ohne Plan, ohne Begleiter sowieso. Quasi schutzlos. Wer neu geboren werden will, hat nackt bessere Chancen, da durchzukommen. Und wenn Ihnen danach ist, rufen Sie mich an. Dann sage ich Ihnen, was Sie als Nächstes tun sollen oder vielleicht sehen und wahrnehmen werden. Gott kommuniziert nicht auf Deutsch. Er liebt Zeichen und Deutungen.“ Und so machte sie es. Was dabei herauskam, war, dass sie zuerst die Angst bewältigen musste, die ihr das plötzliche Alleinsein einjagte. Der Kontrollverlust, das fehlende Geländer ihres Kalenders, die fehlenden Termine. Aber sie ging. Ein ziemlich starkes Weib, dachte ich.
Als die Stille sie umfing, konnte sie sich allmählich darauf einlassen, dass ein ganz anderer Rhythmus herrschte, schon allein durch die Nähe zur Natur und das Wetter. Die großen Resonanzen überströmten ihre Ängste und lösten sie auf. Ich hatte es ihr versprochen. Mutter Natur legt sich neben die Angst und löst sie auf wie bei einem Kleinkind, das sich nicht in die Nacht traut. Und dann kam die körperliche Grenze dazu: Sie hatte Probleme mit ihrer Kondition, es gab ja auch keine asphaltierten Wege da oben. Eines Tages sagte sie am Telefon zu mir: „Ich bin wohl verrückt? Ich gehe hier einen Weg entlang, um zu einem Gipfelkreuz zu kommen, der für mich gar nicht gangbar ist. Das ist viel zu gefährlich. Verdammt! Das ist zu gefährlich! Was mache ich denn jetzt bloß?“ Und ich schwieg eine Weile, schaute von weit weg auf die Situation und sagte leichtsinnig oder mutig: „Sie können das!“ Mehr nicht. Ich war völlig sicher, dass sie diesen Weg würde gehen können. Und dann hat sie da mit ihrem Handy jede Menge Fotos gemacht und per MMS geschickt, als sie vor dem Gipfelkreuz stand. Sie versuchte mit der objektiven Kamera etwas zu bannen, das ihre Augen so wahrnahmen. Die Sonne leuchtete durch dieses Kreuz wie beim Isenheimer Altar von Matthias Grünewald. Und man konnte einen Strahlenkranz Jesu darin erkennen. Da schoben sich zwei Wirklichkeiten übereinander. Synchronizität nennt das C. G. Jung. Ein Phänomen, bei dem sich zwei Wirklichkeiten gegenseitig zu einer dritten interpretieren. Das passiert immer wieder auf den Pilgerwegen. Nicht nur bei Jesus selbst und seinen Wüstenerfahrungen.
Diese Begegnung mit dem Eigentlichen am Gipfelkreuz ließ diese Frau völlig wach werden für das, was wirklich passiert – nämlich Schöpfung in jeder Minute. Heute weiß ich, dass diese Frau sehr erfolgreich in ihrem Job arbeitet. Alles scheint wie immer. Spiritualität kann die Wirklichkeit nicht unbedingt verändern, aber sie kann uns verändern und erlauben, sie ganz anders zu sehen. Die Frau mit Stress hatte sich damals eingelassen auf den Berg, und der redete mir ihr wie mit einer Schamanin. Sie gewann überraschende Einsichten und kam letztlich als Frau mit einer Gotteserfahrung wieder herunter. Nicht, dass sie das als Zeichen und Wunder benannt hätte, aber für sie interpretierten sich die beiden Wirklichkeiten gegenseitig. Der Berg hatte ihr erklärt, dass sie schon ziemlich weit abgerückt gewesen war vom eigentlichen Leben. Und sie hatte demütig und klein zugestimmt.