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Einführung

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Als Junge verbrachte ich viel Zeit bei meinem Großvater – das war in den Fünfzigern. Der schlachtete und kochte mit seinem Vetter, dem Feuerwehrhauptmann und Metzger unserer kleinen Stadt, die Schweine, Kaninchen und Hühner und ich war oft dabei. Schlachten kann ich also. Das habe ich bei ihm gelernt. Und wenn dann auf dem Herd alles zusammengeköchelt war und mein Großvater seinen Teller gefüllt hatte mit dem, was er essen wollte – seine Frau Alma und ich saßen auch vor unseren Essensbergen: Teller voller Kartoffeln, Soße und Fleisch, sodass es überschwappte –, dann faltete er seine schweren, zerfurchten Hände und betete. Er betete: „Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast und segne uns und alles, was du uns bescheret hast. Amen.“ Aber dann ging es immer noch nicht los, sondern er stand wieder auf. Er hatte etwas vergessen, drehte sich zur Wand, ging zum Neukirchner Abreißkalender, riss das neueste Blatt ab, setzte sich wieder hin, nahm seine Brille und las den frommen Tagesspruch vor, beide Seiten: Die vordere war dogmatisch geprägt, und die Rückseite war ein spannender Kommentar für alle. Es war immer eine Wolke von mutigen Zeugen, in die ich mich eingehüllt fühlte. Dieses Vorlesen vor dem Essen war so ein bisschen Ritual und strenge Magie. Das Mystische daran war aber, dass die Stimme meines Großvaters, während er dieses „Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast“ betete, irgendwie versank, irgendwohin entschwand. Und ich, das Kind Jürgen, sein kleines Bürschchen, merkte: Hallo, da ist eine andere Dimension. Der redet jetzt nicht mit uns oder mit mir. Der hat auch die Augen geschlossen, der ist ganz woanders. Der ist irgendwo, wo es friedlich ist und gut. Wo es genug zu essen gibt und warm ist. Seine Stimme erzählte davon. Ich konnte in diesen Augenblicken selbst unbeobachtet über den ganzen Tisch gucken und ich wusste, ich war der Einzige, der diese andere Wirklichkeit wahrnahm, während mein Großvater sozusagen auf Reisen war. Und das lag nicht am Text. Ja, es lag an seiner Stimme, an seinem Versenkt-Sein. Wenn mich also jemand fragt, wie es angefangen habe, dann sage ich: „Diese immer wiederkehrenden wenigen Sekunden am Tisch meiner Großeltern, diese magischen Momente, haben mich zu einem Mystiker gemacht.“ Das heißt, wenn man so will, zu einem, der zunächst einmal dem Gebet seines Großvaters auf die Spur kommen wollte, um dann ein frommer Mann zu werden. Wie er.

Jahre später saß ich regelmäßig donnerstags in der Gebetsstunde des Christlichen Vereins Junger Männer mit ungefähr zehn, zwanzig Männern jeden Alters – auf Holzstühlen, die in einem Kreis angeordnet waren. Es roch nach dem Bohnerwachs auf den alten Holzdielen. Großvater war gar nicht dabei. Wir falteten die Hände und beteten. Das war wieder so ein merkwürdiger Sound, so ein Ton, der nicht ins tägliche Leben passte. Was war das? Ich war mit Abstand der Jüngste, sogar mit gewaltigem Abstand. Die anderen blickten schon mehr oder minder in Richtung des Sarges, aber ich war vielleicht zwölf oder dreizehn. Da geht man auf Entdeckungsreise. Ich war neugierig. Ich fand es wieder faszinierend zu erleben, wie alle diese Männer versanken – in einer Sprache und in einer Stimmung, die ich nicht kannte. Irgendwann fiel mir auf, dass mich zwar diese Stimmung faszinierte, ich aber nicht wirklich ein anhaltendes Interesse aufbringen konnte für das, WAS diese Männer da beteten. Ich merkte ja schnell, dass sich die Inhalte der Gebete jede Woche wiederholten. Es wurde also gar nichts vom Jetzt erzählt und meinetwegen wiederkäu- end bearbeitet, von dem also, was gerade im Augenblick wichtig gewesen wäre, an diesem Tag, in dieser Woche, in der letzten Nacht. Nein, es ging vielmehr wieder einmal um Russland, um die Gefangenschaft, in der einige gewesen waren und wo ihre Seele und ihr Körper etwa durch ein Bibellesen gerettet worden waren. Der alte Lorenz im feinen grauen Anzug, weißes Hemd, Krawatte, der irgendwie gar nicht hierher passte, der holte dann immer seine kleine Ledertaschenbibel aus der linken Innentasche seines Jacketts und zeigte das Einschussloch einer Gewehrkugel. Wunder gibt es immer wieder. Er war dann Kaufmann geworden. Und wie ein Kaufmann erzählte er immer eine Heilsgeschichte – natürlich seine persönliche – und seine Sündergeschichte, immer dieselbe, wie bei den Anonymen Alkoholikern. Und die anderen taten es ihm nach, aber nicht ganz so gut. Ein Einsteckschussloch in einem ledernen Neuen Testament hatten sie nicht zu bieten. Sie hielten sich eher im Unkonkreten auf.

Als ich das immer mehr begriff, war mir bald klar: Es wird nie etwas Neues gesagt werden. Meine Mitbeter konnten nicht so weit kommen, unserem Herrn Jesus Christus zu berichten, was HEUTE passiert war, wer heute auf sie geschossen hatte, ihnen ein Bein gestellt, sie aus dem Bett geworfen oder verlassen hatte. Sie holten den Herrn nicht in ihr wirkliches Leben. Stattdessen wurde unser Herr Jesus Christus immer nach Russland verschleppt. Aber es wurde nie gebetet und beklagt, dass einer seine Frau geschlagen, die Kinder verdroschen oder seinen Job verloren hatte, dass einer eine todkranke Tochter oder ein Alkoholproblem hatte. All das, was mich eigentlich brennend interessierte: Hallo, wie bewältigst du das Leben? Und was ist daran der Anteil „unseres Herrn Jesus Christus“? Das alles fand da gar nicht statt.

Diese tiefen Gebete der Männer waren im Grunde ein Ritual, genauso wie ein Ave Maria, ein Vaterunser. Nur etwas länger. Sie waren sich dessen nicht im Geringsten bewusst, denn sie sprachen mit Gott als ein Ich zu einem Du. Sie kannten und konnten es nicht anders, denn niemand hatte ihnen beigebracht, aus ihren Regressionen und Traumata aufzuwachen oder darüber hinauszuwachsen und sie so in ihr Leben als eigentliches Evangelium und Geschenk zu integrieren. Sie versenkten sich in ihr Gebet. Aber dieses Beten machte sie nicht stark, die dunkle Wirklichkeit zu betrachten, die nach der Gebetsstunde draußen vor der Tür auf sie wartete. Oder doch? Aber warum saßen sie dann eine Woche später mit demselben Thema wieder auf dem „heißen Stuhl“, mit dem Geruch von Bohnerwachs in der Nase? Sie hatten diese Wirklichkeit wie ein paar Schuhe vor der Tür abgestellt, bevor sie anfingen, mit Gott zu reden. Das war für mich – als Teenager – nicht nur langweilig, es machte mich auch nachdenklich. Das konnte doch nicht alles gewesen sein! Ich wollte unbedingt herausfinden, ob und wie es möglich wäre, dem Herrn Jesus Christus vor allen Dingen meine unaufgeräumten Sachen, mein Zimmer zu zeigen, ihn an den Ort zu führen, an dem ich jeden Tag lebte – mit all den lästigen Hausaufgaben, dem ständigen Schulversagen, der schwachen Muskulatur, dem Chaos in den Schränken und den Postern an der Wand. Es war ein dringlicher Impuls, nach einer neuen Gegenwärtigkeit im Gebet zu suchen. Gebete müssten doch auch erwachsen werden können. Sehenden Auges durch die Täler zu ziehen, bekennend über die Berge ‒ darin könnte ich geschickt sein. Ich war schließlich erkennbar zu schwach, dem allen auszuweichen, „was ER uns bescheret hat, Amen“. Wer schickte mich da auf den Weg des Erwachsenwerdens der Gebete, die die Vernunft nicht leugneten? Die Faszination, dass das Beten das eigentlich Mystische war, hat mich indes nicht mehr verlassen.

Ungefähr zu dieser Zeit wurde ein leitender Bruder aus Taizé für ein paar Nächte von meiner Mutter in meinem Schlafzimmer einquartiert. Sie quartierte immer wieder einmal jemanden ein, meistens in meinem Zimmer. Ihr greiser Onkel Hugo mit dem dicken Bauch war dabei, Kinder aus der kleinen Stadt oder eben fromme Brüder aus dem Burgund. Taizé, das ist die kleine Gemeinde im Burgund, in der Roger Schutz 1949 den Versuch unternahm, in einer ökumenischen Bruderschaft Kontemplation und Kampf, Gebet und politische Reflexion zu vereinigen. Jahre später bin ich hingefahren. Der „Bruder“ in meinem Schlafzimmer, ein Mann um die vierzig, stammte aus einer alten holländischen Adelsfamilie und hatte in Meteorologie promoviert, war dann ausgestiegen und nun weltweit für seinen Orden unterwegs. Ein erster Missionar einer ökologischen Theologie. Ein Bewahrer der Schöpfung. Afrika, Europa ‒ er war wohl überall. Mehr weiß ich nicht mehr. Dass er nun zwei Meter entfernt von mir lag und die kleine Leselampe bis tief in die Nacht brannte, hatte ich meiner Großtante zu verdanken, die ihn einst als Gouvernante großgezogen hatte. Er war ein stiller Mann. Er redete nicht von „unserem Herrn Jesus Christus“, wie die frommen Männer um meinen Großvater und im Christlichen Verein Junger Männer. Er sprach sein Deutsch bis in die letzte Silbe hinein immer ausgesucht und korrekt. Sein Englisch, Holländisch und Französisch wird er wohl ebenso ausgesucht gesprochen haben. Er war still und sanft und extrem aufgeweckt und wach und bis spät nach Mitternacht in Bibellesen und Gebet vertieft. Ich lag in diesen Nächten wach im Bett neben ihm – lauschend, staunend, neugierig. Da war es wieder, dieses Gefühl einer anderen Wirklichkeit, die ganz nah war, zum Greifen und Aufspüren nah wie an Großvaters Mittagstisch, nur eben anders. Da betete ein kluger, akademisch gebildeter Mann nicht auf dem Markt, irgendwo in der Öffentlichkeit und laut mit vielen Worten, nicht einmal in Zimmerlautstärke. Er betete still. Er betete offenbar innen. Er las dann und wann abends in seiner kleinen Bibel und dann legte er sie wieder mit beiden Händen auf der Bettdecke ab und tat nichts. Er lauschte nur in die Nacht. Mehr nicht. Er ließ sich auch durch mich nicht stören. Er war ein Lauschender, der mit dem heiligen Benedikt sein Leben unter ein Wort stellte: Lausche!

Was schickte mir mein Schicksal da für einen Betlehrer an mein Bett und auf meinen frühen Weg? Er war nur eine so kurze Zeit da und vertiefte doch meine Sehnsucht nach einer anderen, mystischen Kommunikation mit dem Göttlichen.

Beten

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