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ОглавлениеDas Gute liegt so nah
Auf dem Mond fühlte ich
die überwältigende Präsenz Gottes.
Ich spürte seinen Geist so nah,
wie ich es nie auf Erden spürte,
ganz nah, es war umwerfend.
Seitdem bete ich!
(James Benson Irvin, amerikanischer Astronaut, 1930-1991)
Selber beten, statt beten lassen
Warum treten jedes Jahr Hunderttausende aus unseren Kirchen aus und machen sich allein auf den Weg? Sie lassen sich von allem Tamtam und Luther und Co. nicht mehr blenden. Selbst ein neuer Papst ändert nichts daran. Warum reisen Tausende Menschen jährlich in den Fernen Osten, treiben sich auf Tausenden Metern Höhe im Himalaja herum, um dort Buddha oder Konfuzius zu treffen? Warum ziehen immer mehr junge Männer in den sogenannten Heiligen Krieg der Islamisten? Religion ist das Thema unserer Zeit. Und wir hier im Westen verstehen es nicht. Vor fünfzig Jahren zogen die Esoteriker nach Poona zu Bhagwan alias Osho oder nach Puttaparthi zu Sai Baba. Heute fliegen nicht selten dieselben Leute nach Amritapuri, für eine persönliche Umarmung von Amma. Irgendwo in Indien. Indien ist immer gut für die Hoffnung auf Erleuchtung. Auf jeden Fall in einem Ashram. Wieder andere studieren den Ahnenkult Afrikas, errechnen das voraussichtlich endgültige Weltende mit Formeln nach dem Maya-Kalender und versuchen, ihre seelischen Wunden von einem indianischen Schamanen heilen zu lassen. Noch einmal: Warum Khalil Gibran lesen? Warum die Kabbala, das Tao Te King des Laotse, das I Ging? Weshalb können inzwischen so viele Menschen Gedichte des muslimischen Mystikers Rumi auswendig, während sie von den Seligpreisungen Jesu keine Ahnung mehr haben?!
Warum das Gute nicht in der Nähe suchen, warum nicht in der eigenen christlichen Tradition? Es liegt eben nicht mehr so nah, das Gute, unsere eigene alte und ehrwürdige spirituelle Kultur. Was die Ferne der anderen Weisheitslehren und Philosophien ausmacht – ihre Exotik, das Wilde, das Spannende und das, was Hingabe fordert, wenn es wirken soll –, das liegt bei uns gar nicht so nah, wie es die Jesusprediger immer behaupten. Sie verschütten dabei immer mehr von den Perlen des Glaubens. Das Gute unserer traditionellen Spiritualität, das Geheimnis des Gebets und die Technik der Hingabe, ist mehr und mehr von Schutt bedeckt und wird mit jeder Behauptung der auf Moral, statt auf Spiritualität geeichten Kirchenfunktionäre tiefer und tiefer vergraben. Statt den Schatz zu heben, wie sie es immer vorgeben, häufen sie mehr und mehr Abraum auf die Seelen ihrer Mitmenschen. Und deshalb laufen wir weiterhin zum Dalai Lama, suchen unsere Gurus in Indien, reisen Hunderte von Kilometern selbst durch Europa, um uns sogar vor der eigenen kulturellen Haustür von einer Inderin in den mittleren Jahren einfach vor Tausenden anderen in den Arm nehmen zu lassen und zu weinen. Und während wir das tun, lassen wir den Rabbi aus Galiläa – was dasselbe ist wie ein Guru, ein Lehrer nämlich – links liegen. Er bedeutet uns nichts mehr. Und statt auf dem eigenen Acker, im eigenen Herzen und in heimatlicher Umgebung nach den verlorenen Perlen zu schürfen, den Schatz auszubuddeln, wie es ausgerechnet jeder fremde Weise und spirituelle Führer dieser Welt sowieso fordert, holen wir uns das Exotische nach Deutschland an den Familientisch, der kaum noch Kinder und Alte zusammenbringt. Warum eigentlich?
Leute gehen mittlerweile zur vom Arzt verordneten Yogastunde, meditieren in Rehakliniken vor sich hin und auf Teufel komm raus, ohne genau zu wissen, was das eigentlich sein könnte: Meditation. Gehen die da innerlich mit ihren Gedanken um etwas herum und besehen es von allen Seiten? Das wäre ja schon was. Und zwar etwas sehr Mutiges. Sie würden das, was sie erleben, nicht nur immer von einer Seite – aus ihrer Perspektive – betrachten, sondern auch genauso von der gegenüberliegenden Position. Der Schatten schenkt schließlich genauso viel Erkenntnis wie das Licht. Das sagen alle – hier und in der Ferne auch. Sie meditieren also Licht und Schatten und die Krankenkasse zahlt sogar! Aber wenn es ans Beten geht, wenn es heißt, die Hände zu falten und auf die Knie zu sinken – ohne Yogamatte – und Gott zu suchen, dann wird es kritisch: „Rede mir nicht von Beten, rede mir nicht von Gott, rede mir nicht von Jesus oder Maria! Ich kann es nicht mehr hören!“
Eine indische Heilige umarmt – in Europa! – Tausende von Menschen, die sich dann geliebt fühlen und weinend und beseelt wieder nach Hause gehen. Was haben sie da eigentlich bekommen, was kein Mensch sehen kann? Was ist das für ein Stoff? Warum die Investition? Gibt es etwas neben dem Materiellen, was das Materielle zumindest sekundär erscheinen lässt? Aber wenn der Pfarrer in der Kirche vorschlüge, in dieser Tradition am Ende des Gottesdienstes jeden Einzelnen – stellvertretend für Vater und Mutter und Gott und Jesus und die Gottesmutter Maria – zu umarmen, dann riefe jeder natürlich sofort nach der Polizei und dem Sittendezernat. Jede Menge Schuttberge der Vergangenheit und Gegenwart erlauben es keinem mehr, dass er nach dem Menschlichen – nach den Perlen – sucht, die in ihm selbst, in seiner Geschichte, versteckt sind, und die mindestens so tief und voller Weisheit sind wie die, die im ehrwürdigen Tao Te King, in der Bhagavad Gita, den indischen Veden, den Spruchweisheiten von Schamanen und Zauberformeln indigener Völker auf allen Kontinenten und in allen Kulturen zu lesen sind. Es sind theologische Konstruktionen, die über die Jahrhunderte per se den Zugang zur eigenen Tradition versperrt haben. Sie haben sich mit all ihren Regeln, Moralismen, Dogmen und elitären Machtspielchen zwischen Menschen und Gott gestellt. Sie haben jedoch nicht vermittelt zwischen Gott und Menschen, sondern eine echte Verbundenheit mit dem Schöpfer verhindert. Das Privateste, was es gibt – das intime Gebet –, ist beschlagnahmt worden. Die katholische Kirche sagt: „Ich mache das für dich, denn du selbst kannst gar nichts allein machen!“ Und die Wissenschaft hat es noch dreister gemacht: „Du brauchst das gar nicht! Gott ist sowieso tot!“ Aber das ist keine angemessene Antwort auf das tiefe Bedürfnis, auf eine moderne Weise mit Gott in Kontakt zu treten.