Читать книгу Der Astrologe - eine gänzlich unwahre Geschichte - Jürgen G. H. Hoppmann - Страница 15

Dresden – 11:27 – Führungsetage des Kongresszentrums

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Totale Entspannung jenseits von Zeit und Raum. Er ist betäubt, aber nicht tot. Liegt auf dem Rücken. Sieht sternenklares Flimmern hinter den geschlossenen Augendeckeln, hört leises Stimmengemurmel. Atmet flach, vermeidet jede von außen sichtbare Bewegung.

Wenn es ihm gelingt, mikromillimeterweise die Augenlider zu öffnen und zwischen den Wimpern hindurch einen Blick auf die feindliche Umgebung werfen, ist das Überraschungsmoment auf seiner Seite, wird er die Situation mit gezielten Handkantenschlägen in Weichteile klären. Falls Pistolen oder Gewehre griffbereit liegen, ist er zum finalen Kopfschuss bereit. Solche Kampfsporttechniken lernt man weder beim Antiterrortraining der Bundeswehr noch im Auslandseinsatz der Spezialkräfte, geschweige denn auf der Sächsischen Polizeiakademie in Rothenburg.

Möglich, dass die Villa Bärenfett in Radebeul spezielle Kurse anbietet. Schließlich ist sie die Wohnstatt von Karl May, dessen Abenteuerromane Max seit frühester Kindheit gelesen hat. Winnetou und Old Shatterhand, betäubt und gefesselt am Lagerfeuer. Befreiten sich heimlich von den Fesseln, scannten die Umgebung durch unmerkliches Blinzeln und überwältigten die Feinde. Eine Technik, die Max bislang nur theoretisch erprobte.

Jetzt also die Praxis. Mit äußerster Konzentration wagt der Polizeistudent den Wimpernblick.

»Voilà, unser kleiner Held ist aufgewacht. Eine kleine Stärkung, Monsieur? Frisch aus Brüssel!«

Eine betagte Dame, feingliedrig und von dezenter Eleganz, lächelt ihm aufmunternd zu. Mit leicht zittrigen Händen hält sie ihm einen Pralinenkasten entgegen. Seine automatischen Kampfreflexe verzögern sich, bedingt durch eine Schmusedecke, in die er gehüllt ist. Zudem behindert ein mit Kölnisch Wasser beträufeltes Taschentuch auf seiner Stirn die Sicht. Notgedrungen muss er sich der Übermacht beugen.

Feinherbe Schokolade schmilzt auf seiner Zunge. Likörsaft tropft ihm übers Kinn. Die nächste Weinbrandbohne ist in Goldpapier eingewickelt. Er leckt sich die Finger ab, bevor er wieder zugreift.

»Positiv.«

»Très bien. Dazu ein stärkendes Getränk? Pardon, ich habe mich nicht vorgestellt: Claire D’Etoiles, Alterspräsidentin des Conseil de l’Europe zu Straßburg.«

Sie greift mit ihren schmalen, knochigen, aber gepflegten Fingern zu einem Porzellanservice. Würziger Kaffeeduft steigt auf. Max lässt etwas Sahne aus einem filigranen Kännchen dazutun, schaufelt mit dem ihm angebotenen Silberlöffel Zucker rein und rührt um.

»Doppelt positiv.«

Max schaut sich um. Ein großzügiger Raum mit breiter Fensterfront vom Boden bis zur Decke, vor der ein stattlicher Christbaum mit bunten Kugeln steht.

Der Blick weitet sich, schweift hinaus zum Altstadtpanorama mit den Zuschauertribünen am Schlossplatz. Prunkvoll mit Fahnen geschmückt die altehrwürdige Augustusbrücke.

Eisschollen treiben auf dem Fluss. Festbauten auf den Elbwiesen. Klare Sicht zu bewaldeten Hügeln, auf denen der Dresdner Funkturm thront. Dahinter lässt sich schemenhaft die Felslandschaft der Sächsischen Schweiz erahnen.

Die Tür öffnet sich. Ein betagter Herr in feinem Zwirn tritt ein, grau in grau gekleidet, Hemd mit Stehkragen. Wollpullover und Wollhose, dazu leichter Wintermantel, wie maßgeschneidert. Der alte Penner vom Alexanderplatz ist frisch rasiert, riecht nach frisch gebadet und hat sich mit edlem Herrenparfüm besprenkelt. Kaum wiederzuerkennen.

»Das Hingeworfensein des Fischbocks durch uranischen Elektronenblitz erfordert frohlockendes Verspeisen. So der Magen gestärkt, spann er an, seinen Sonnenwagen. Auf gehts, bis ans Ende der Welt!«

Max verschluckt sich an einer Praline. Seine Kaffeetasse schwappt über.

Die Alterspräsidentin des Europarats reicht ihm eine mit Brüsseler Spitzen verzierte Stoffserviette und wirft Scultetus einen strengen Blick zu.

»Zuerst muss er sich erholen.«

Sie schenkt Max Café noir nach und lächelt.

»Monsieur l‘étudiant policier, ich möchte mich im Namen der Direktion für die Komplikationen entschuldigen. Ein Missverständnis. Sie haben Großartiges geleistet. Doch Scultetus ist weiterhin in Gefahr. Et de plus, mit ihm das ganze Festival. Ein Attentat auf den Stargast? Quel blamage für die Europäische Idee! Man müsste ihn in Sicherheit bringen, auf Reisen schicken. Die gelben Couverts an unseren Meister und an Madame Celestico, sie enthalten exactement die gleiche Substanz, so die Laboranalysen in Berlin und Dresden: Zyanid, auch Blausäure genannt, gewonnen aus dem Kern bitterer Mandeln.«

Die Französin deutet auf den Couchtisch. Dort liegt, in transparente Klarsichtfolie eingeschweißt, das gelbe Couvert, das Scultetus beinahe angeleckt hat, zusammen mit einem Anschreiben der Zentralbank und dem bunten Eurohoroskop. Daneben die Gutachten der Chemielabore.

Der Alte macht eine unwirsche Handbewegung.

»Papperlapapp, Claire! Machs Bürschlein nicht verrückt. Kein passenderer Ort im Weltenkreise als die ehrwürdige Semperoper, um auf offener Bühne den Heldentod zu sterben. Ich bin bereit.«

Madame D’Etoiles bittet zu sich aufs Sofa, streicht ihm eine Wimper aus dem Augenwinkel.

»Mon ami, denke stets an den großen Plan! Das Fest soll den Gedanken Europas stärken. Doch was ist Europa ohne seine Währung, den Euro? Du weißt, wie verzweifelt die Situation der Gemeinschaftswährung ist. Nach dem Abschlussball kommenden Samstag geht es direkt zur Zentralbank, noch in der Nacht. Das Direktorium, speziell die neue EZB-Chefin, erwartet deine Horoskopaufstellung. Und sie hoffen auf deine alten Klienten, deine ehemaligen Schüler, auf all jene, die unter deiner Anleitung zur wirtschaftlichen Elite Europas aufgestiegen sind. Auf dich hört man. Du hast einst den russischen Präsidenten beraten!«

»Ach Claire, das ist schon lange her.«

»Mon cher! Als du kamst, wirktest du, gestatte mir die Bemerkung, etwas derangiert. Während dein tapferer Knappe ruhte, hat unser Jovis an dir wahre Wunder vollbracht. Dank sei den Kostüm- und Maskenbildnern des Theaters. Frisch wirkst du, standesgemäß gekleidet. Doch wo ist der Glanz deiner Augen geblieben? Wie strahltest du damals, vor drei Jahren in Berlin. Quel mystère …«

Scultetus senkt sein Haupt. Die Französin zieht geistesabwesend ihre langen Fingernägel über die Glastischplatte. Ein Geräusch, das unter die Haut geht.

Max wickelt sich aus der Schmusedecke, schlendert durch den Raum. Er presst sein Gesicht an die Scheibe.

Unten am Fuß der Freitreppe zum Eingangsportal ruht der Phaeton, leckt sich die Narben und Beulen des Kampfes. Der Sonnenwagen. Im Galopp über Felder und Wälder. Drüben am anderen Elbufer bauen sie eine Freiluftbühne auf. Mächtig gewaltig, die Lautsprechertürme. Soundcheck. Tiefe Bässe.

»Monsieur Max. Ça va, ça va bien? Ist alles gut, sind Sie reisefertig?«

Der Polizeistudent meint, seine Freundin sei auf dem Weg nach Dresden. Wollte eigentlich mit ihr aufs Fest. Sie backstage reinschmuggeln, weil, für so ne richtige VIP-Party ist sie nicht angezogen. Andererseits, er ist fit wie ein Turnschuh. Und der Wagen habe ja auch nur ein paar Dellen abbekommen. Echt starkes Gefährt. Keine Ahnung, was er als Bodyguard jetzt machen soll. Fürchterlich kompliziert das, praktisch unlösbar.

»Theoretisch schon!«, kontert die Französin.

Sie setzt sich, zückt ihr Handy, spricht in ruhigem Ton, der keinen Widerspruch duldet, mit diesem Europol-Mann. Swarożyc Gwiazdek möge einer jungen Dame die passende Garderobe besorgen. Unangemeldeter Extragast bei der Abendveranstaltung.

Er wisse nicht, er könne nicht, er habe keine Zeit? Nun, Claire D’Etoiles müsse als Repräsentantin des Conseil de l’Europe die Delegationen aus Norwegen, Russland, der Türkei und dem Vatikan empfangen. Wolle er das für sie übernehmen? Nein? Dann lieber vollste Verantwortung für Fräulein Evi, die Begleiterin des Polizeistudenten, die sein Hotelzimmer bekommt? Très bien, sehr gut! Man sehe sich dann beim Fest.

Max meint, seine Evi, die stehe total auf Klamotten. Glaube er jedenfalls. Im Backwagen vor der Polizeiakademie habe sie immer nur ne Kittelschürze aus Plastik getragen. Bei ihm oben auf der Studentenbude … eigentlich nichts. Nur diese selbst gemachten Handschuhe aus abgeschnittenen Wollsocken, wo die Fingerspitzen rausgucken wie neugierige Mäuse.

»Mäuse?«

Die Französin schaut sich irritiert um und schlägt die Beine übereinander.

»Monsieur Max, was zeichnet Ihre Liaison mit Evi aus?«

Er schnippt an einer der Kristallkugeln, die am Tannenbaum hängen. Sie ist die größte, orange bemalt.

Insgesamt hängen da neun Kugeln. Eine mit einem Ring aus Plexiglas, eine andere mit großem Fleck, die nächste in Blau mit weißen Streifen. Wolkenstreifen, darunter blaues Meer und … Kontinente! Die Erde, das mit dem Ring Saturn, der Fleck Jupiter, rot der Mars, in orange die Sonne. Er nimmt die blau-weiße Christbaumkugel ab, dreht sie zwischen den Fingern.

»Wann sind wir zurück?«

»Beim großen Abschlussball. Bis dahin kümmern wir uns um Ihre Verlobte. Monsieur Max, Sie brauchen ein Reisebudget. Sagen wir tausend pro Tag und pro Person? Plus etwas mehr, man weiß ja nie? Ich veranlasse, dass man Ihnen gleich Geld aushändigt.«

»Wohin gehts?«, fragt der Bodyguard.

Scultetus klopft sich auf die Schenkel. Abenteuerlust glänzt in seinen Augen.

»Claire, ich schlage vor, wir machen einen Zwischenstopp beim Repräsentantenhaus. Weiter geht es zum Ende der Welt. Dann der Dreifachstern Sirius. Und kennst du die Rennbahn, auf der die Planeten im Kreise wandeln? Arrangiere Begegnungen mit alten Freunden, auf dass ich mich für das Projekt Zwölf Sterne einsetze. Lade sie auch zum Abendmahl ein. Anschließend Nachtmeerfahrt und zur Spitze des Vulkans. Von dort ist es nicht weit zu deinen Steinalleen, vorausgesetzt, du arrangierst uns ein Gefährt. Zum Kreisritual jenseits des Kanals müssten wir fliegen, ebenfalls zur Venusinsel. Ein gewaltiges Unterfangen, zumal du alte Kontakte auffrischen müsstest, derweil ich mit dem Bürschchen dort die Galaxien durchquere.«

»Alles klar, Chef. Was ist mit Raketen und Raumanzügen?«

»Papperlapapp! Claire, kannst du das arrangieren?«

Der Alte, anscheinend hellauf begeistert von seinen Reiseplänen, will die Französin umarmen. Sie stößt ihn sanft weg.

»Un moment, s’il vous plaît. Lasst mich nachdenken. Très difficile, kaum Zeit zur Organisation, zumal … meine Festansprache. Allerdings, du bist in der Tat in Gefahr. Swarożyc Gwiazdek berichtet, Europol habe zwei weitere Zyanid-Couverts abgefangen, adressiert an Astrologen, die zum Fest geladen sind. Du müsstest sie kennen, Scultetus. Sie sind auf der Gästeliste, die wir dir vorab übersenden sollten.«

Ein helles Klirren am Weihnachtsbaum. »Ach ja?«

Max starrt zu ihnen rüber, Glassplitter der zersprungenen Erdkugel in der Faust. Sein ganzer Körper ist angespannt und zittert.

Claire D’Etoiles klatscht in die Hände.

»Messieurs, die Reise beginnt. Bon voyage!«

Sie erhebt sich. Der Alte folgt ihr auf dem Fuße. Max greift sich den in Folie eingeschweißten Giftbrief und lässt ihn in den Tiefen seines Rucksacks verschwinden.

Babylonisches Sprachgewirr im Foyer des Kongresszentrums. Ergraute Hippies mit Halbglatze, Nonkonformisten in stylishen Sakkos, dunkelhäutige Afrikaner und braun gebrannte Südamerikaner, manche mit Rauschebart, ein Breitbärtiger, der Max bekannt vorkommt, glatt rasierte Asiaten, Inder mit Turban.

Aufgeregtes Kreischen, als zwei Frauen um die Fünfzig Scultetus erblicken. Sie zeigen mit den Fingern auf ihn, die Hölle bricht los. Im Nu sind sie eingekreist von Fans jeglichen Alters und Nationalität, die ihm die Hände schütteln, ihn umarmen, hektisch Horoskopzeichnungen aus Handtaschen ziehen und sie ihm entgegenstrecken, die um Autogramme betteln, sich an ihn quetschen und fast in Stücke reißen. Kamerateams bringen sich in Stellung. Reporter halten ihm Aufnahmegeräte entgegen.

»Herr Scultetus, was sagen Sie zur Weltgeschichte, wie schätzen Sie die aktuelle politische Lage ein?«

»Eine Flut wird kommen.«

»Zerbricht die Europäische Gemeinschaft?«

»Papperlapapp!«

»Wo waren Sie die letzten Jahre?«

»Studien, langwierige Studien.«

»An Ihrer Gorbatschow-Formel?«

»Kein Kommentar.«

Der alte Astrologe genießt das Bad in der Menge, obwohl ihn die Leute fast erdrücken. Sein Bodyguard kassiert am Infoschalter das Reisegeld und führt ihn mit hartem Griff nach draußen zum Sonnenwagen. Max legt dem greisen, zerbrechlich wirkenden Alten den Sicherheitsgurt derart fest an, dass man denken könnte, er sei sein Gefangener.

»Irgendwo schon mal Ihren Namen gehört. Sie sind Schlagersänger – oder? Also, zum Flughafen. Repräsentantenhaus in Washington, NASA? Mit dem Reisegeld zahle ich die Transatlantikflüge. Für den Kurztrip ins All müssen Sie noch was drauflegen.«

»Zuerst gen Prag, Bürschchen.«

Der Alte starrt in eine unsichtbare Ferne.

Im Schritttempo rollen sie durch die Menschenmassen. Vor der Semperoper scheint es, als ob Evi da steht mit ihrem Fahrrad. Doch die Bauarbeiter der notdürftig geflickten Euro-Skulptur fuchteln wie wild rum, als sich der Phaeton nähert, und drängen zur Weiterfahrt. Bald sind sie auf der verschneiten Autobahn nach Tschechien. Max schaut dauernd in den Rückspiegel.

»Der Ford Galaxy.«

»Eile dahin, Sohn des Sonnengotts,« ruft Scultetus. »Werd ich dahingerafft, unverschuldet, ohn eignen Will’, ohn Ursach’, heiß ich ihn willkommen, den Schnitter, den lang ersehnten. Die Berechnung meines Todeszeitpunktes …«

»Könnte hier irgendwo abfahren, ihn über Schleichwege abhängen. Zeigt bloß keine Waldwege an, das Navi hier im Phaeton.«

»Falsch abgebogen gerieten Pilger ins Verderben«, raunt der Greis. »So opferten sie der Hekate, an Kreuzungen, Türschwellen und Gräbern. Dreier Gestalt, das schwarze Gestirn: jungfräulich beim Zunehmen, schwanger bei Vollmond, verwelkend im abnehmenden Lichte. Höllenfackeln seine Waffen. Schwarze Hundewelpen musste man ihm opfern, Kröten, Iltisse und Schlangen. Spuk, Hexerei, Nekromantie. Lilith, das Apogäum, zweiter Brennpunkt der irdischen Ellipse. Ungeheuer kompliziert zu berechnen. Nur weise Männer schafften es, mithilfe schwer zugänglicher Ephemeridentabellen.«

»Gibt für alles ne App. Klick und zack, schon haben Sie die Daten. Wetten? Könnt‘ ich beweisen, wenn mein Smartphone nicht über Bord gegangen wär‘. Egal. Wer es auch findet, meine Geheimnachricht an Evi ist nicht drauf. Und sie weiß trotzdem Bescheid.«

Der Astrologe - eine gänzlich unwahre Geschichte

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