Читать книгу Der Astrologe - eine gänzlich unwahre Geschichte - Jürgen G. H. Hoppmann - Страница 9
Berlin – 08:30 – Weltzeituhr am Alexanderplatz
ОглавлениеJupiter und Uranus haben Hüte aus Schneeflocken. Das vereiste Planetengestänge quietscht und ruckelt. Mühsam dreht es sich über dem Stundenring. Der Zeiger steht auf dreizehn Uhr in Indien, wo er geboren ist, zwölf Uhr in Afghanistan, wo ein paar seiner Leute draufgegangen sind, und halb elf im Irak, wo ein paar von seiner Truppe nach der Entlassung als Söldner angeheuert haben.
Guter Verdienst, schlechte Überlebenschancen. Ihm pfeift‘s im Ohr. Tinnitus, combat stress reaction. Wird sich mit der Zeit geben, meinen die in der Reha. Immer schön ruhig bleiben.
Unter dem Zeitzonenband der Weltzeituhr kippen übernächtigte Partynerds Szene-Bier der Marke Lucky Experience, reißen Witze über einen wackeligen Penner, der sich an einen Stoffbeutel klammert und vor Kälte zittert.
»Kümmern Sie sich um Scultetus«, hatte Aurora Celestico ihn vor nicht mal einer halben Stunde angefleht. Nun ist sie nicht mehr und vom Stargast weit und breit nichts zu sehen.
Jemand meckert, dass der VW Phaeton zu nahe am Straßenbahngleis steht. Reisende vom Fernbahnhof Alexanderplatz schieben Rollkoffer zum U-Bahn-Eingang. Drüben bei der Lieferanteneinfahrt vom Saturn-Markt ein Ford Galaxy. Weißer Qualm aus dem Auspuff. Hinterm Steuer ein Typ mit breitem Bart. Schon auf der Stadtautobahn hinter ihnen? Bloß keine Paranoia. Nerven behalten!
Max geht zur Pommesbude unter den S-Bahn-Bögen. Einmal Currywurst bitte. Was trinken dazu, Berliner Weiße mit Schuss? Positiv. Himbeersaft ins Bier kippen, Wurst in handliche Stücke hacken. Ketchup und gelbes Pulver drauf, fertig ist das Großstadtfrühstück. Schmeckt. Hagelkörner prasseln gegen die Imbissscheiben. Drüben unter der Weltzeituhr nur der mit dem Wackelbeutel. Das Radio hinterm Tresen spielt »Sunshine Lady«.
Der Arm juckt. Er will sich kratzen. Hält inne, schiebt vorsichtig den Ärmel hoch:
855 PACCAN 00218497 E 62458887 ALYA 442
Komische Sache. Im Wagen lag eine Visitenkarte. Tiefdruck in Gold auf dickem Edelkarton. Max wählt die Nummer, schaltet auf Freisprechen, tunkt Fritten in Currysoße. Eine ölige Altherrenstimme meldet sich.
»Ja bittschön?«
»Ist da das Planetenfest?«
»Besser hätten’S nicht wählen können. Sie sprechen mit Mag. iur. rer. soc. oec. Jovis Morgenstern, Magister der Jurisprudenz und Wirtschaftswissenschaften, künstlerischer Leiter des Großen Europäischen Planetenfestes. Freude und Pflicht, dieses Amt – obgleich meine Leitungsfunktion bei der Zentralbank ad interim ruhen muss.«
»Hören Sie …«
»Nein, Sie hören! Ungeduld und Torheit der Jugend klingen aus Ihrer Stimme. Und doch, innehalten mögen Sie, für einen Atemhauch der Ewigkeit. Heiter und strahlend ward’s, als Johann Wolfgang von Goethe das Licht der Welt erblickte. Wie heißt es doch in ›Dichtung und Wahrheit‹, woraus ich angesichts Ihrer Drängelei nur kurz zitiere, stante pede sozusagen, stehenden Fußes.
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
die Sonne stand zum Gruß der Planeten,
bist alsobald und fort und fort gediehen
nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen.
Dies zum Geleit, unbekannter Jüngling, der Sie mich derart bedrängen. Darf ich mir die bescheidene Frage erlauben, wer Ihnen meinen Privatkontakt preisgab?«
»Festivalchefin Celestico.«
»Die gute Aurora! Sind’S ihr junger Galan? Noch grün hinter den Ohren, wenn’S mir das Bonmot gestatten, und schon mit solcher Gunst beschienen.«
»Zielperson Scultetus: Erbitte Personenbeschreibung.«
»Ja, wie schaut er aus, unser aller Meister? Stets elegant gekleidet, wie für den Wiener Hofball. Letztmalig trafen wir uns im Britzer Garten zu Berlin. Reizende Anlage, doch kein Vergleich zum Großen Parterre auf Schloss Schönbrunn. Ich schweife ab. Wo waren wir? Ach ja: Scultetus kam mit Pullmann-Limousine und Chauffeur, gab stets ein ›Papperlapapp‹ zum Ausdruck, wenn’s ihm nicht konvenierte, trug einen leichten Sommeranzug. Seide oder gekämmte Schurwolle? Fragen’S mich nicht, Herr Praktikant. Wie gesagt, Stretchlimo …«
»Sonstige Merkmale, Narben, Tätowierungen etc.?«
»Fragen’S doch die Celestico. Hat drauf insistiert, den Meister persönlich abzuholen. Wissen’S, die Dame ist ein Segen. Ich gestehe, mich überfordert das Kleinklein. Sie nimmt mir alles ab. Die Auswahl der Musikanten, Opernaufführungen und Semperoper-Konzerte lasse ich mir natürlich nicht nehmen. Apropos ›nehmen‹: Haben’S ihr Herz im Sturm genommen. Kompliment! Aurora insistierte, bestand auf Euch als Begleiter, namentlich.«
»Negativ. Nie zuvor gesehen.«
»Ein Schelm! Gleich Cherubino, dem Höfling in ›Hochzeit des Figaro‹ erklimmt er aufgrund von Verführungskünsten höchste Ämter. Genießt Protektion und schweigt, der junge Kavalier. Ach übrigens: Mein Freund Swaro, der von Europol, wo Ihr Polizeipraktikum eingefädelt hat, würd’ bittschön gern wissen, wo’S sich derzeit aufhalten. Es soll da was Unschönes vorgefallen sein. Haben’S vielleicht Freimaurerwissen verraten, wie Wolfgang Amadeus in der Zauberflöte?«
Draußen an der Weltzeituhr schaut sich ein vornehmer Herr mit Pelzmütze nach allen Seiten um. Der Breitbärtige im Galaxy-Ford beobachtet ihn durchs Fernglas. Ein Mädchen mit Pudelmütze rennt herbei, Frau mit Kinderwagen hinterher. Glücklich vereinte Familie. Fehlalarm.
Die Straßenbahn kommt. Aurora Celesticos schwerer Wagen muss vom Gleis. Max lässt den Opernfreund weiterlabern. Das Handy liegt gut, da auf dem Tresen. Er rennt bei der Weltzeituhr beinahe den zittrigen Greis mit dem Stoffbeutel um. Ist ganz weiß vom Schnee, klappert mit den Zähnen vor Kälte.
»Hier, Alterchen. Setzt dich drüben rein und wärm dich auf. Kauf dir ne Curry mit Pommes. Versaufs nicht.«
Max steckt ihm zehn Euro zu, biegt vorsichtig die eiskalten Finger um den Schein, schiebt ihn mit sanftem Druck Richtung Imbiss.
»Geh schon, erfrierst sonst!«
Der Alte murmelt ein schwaches »Papperlapapp« und trippelt los. Eine Schneeböe nimmt ihn auf.
Die Tram klingelt, kommt nicht weiter. Max, den Autoschlüssel schon in der Hand, bleibt stehen. Starrt in den Schneeflockennebel, rennt zurück zur Frittenbude.
Aus dem Radio hinter dem Tresen singen die Moody Blues »Let the Sun Shine in«. Dem verfrorenen Greis von der Weltzeituhr läuft vor Vorfreude auf Pommes mit Wurst der Sabber runter. Und Jovis Morgenstern quakt immer noch aus dem Freisprechhandy.
»… und der Bariton intoniert ›Wer des Todes Schrecken überwindet, schwingt sich aus der Erde himmelan‹. Behutsam muss die Jugend an Hochkultur herangeführt werden.«
»Personenstandsabfrage.«
Max fischt einen zerknickten Ausweis aus der schmuddeligen Jackentasche des Alten.
»Sarastro ist’s, aus der Zauberflöte. Kaufen’S sich nen Opernführer, wenn’S überfordert san! Dann fragen’S ned so deppert.«
»Personenstandsabfrage: Schulz, Bertold, 10.1.1940 Breslau.«
»Ja, da haben’S ihn ja, unsren Meister. Aus bürgerlichem Schulz wird Scultetus, gräzisiert nach Humanistenart, wenn’S wissen, was ich meine.«
»Ohne Chauffeur oder Stretchlimo, ziemlich abgewrackt.«
»Machen’S nicht zu kompliziert, Herr Oberpraktikant. Nebenbei bemerkt: Sind’S zur Fahndung ausgeschrieben, meint Freund Swaro. Der Fernsprechapparat, über den wir konversieren, ist geortet. Bleiben’S da, wo Sie sind.«
»Negativ.«
Der Polizeistudent nimmt sein Handy vom Netz und zahlt sein Hauptstadtfrühstück. Den Alten packt er am Hemdkragen und führt ihn ab, samt Wurst und Fritten und Wackelbeutel.
Draußen bimmelt die Straßenbahn Sturm. Empörte Fahrgäste pöbeln ihn an. Der Fifi einer empörten Hauptstädterin hebt demonstrativ sein Bein am Kotflügel.
Max startet mit durchdrehenden Rädern. Die Töle quietscht panisch auf. Dem Schmuddelgreis auf dem Beifahrersitz in gediegenem Altweiß rutschen die Pommes weg, fliegen samt Ketchup und Mayo übers Nussbaumfurnier-Armaturenbrett. Der Kerl müffelt gewaltig. Max schaltet vorsichtshalber die Sitzheizung aus.
Der Ford Galaxy sitzt ihnen im Nacken. Beschleunigen, Spuren wechseln, blutrote Ampeln ignorieren, scharf abbiegen, quer über vereiste Grünflächen. Permanenter Allradantrieb zeigt seine Überlegenheit. Phänomenale Beschleunigungswerte auf der Stadtautobahn.