Читать книгу Personen - Schutz - Jürgen H. Ruhr - Страница 5

II.

Оглавление

Urlaub ... Da sprach Sam das richtige Thema an. Es schüttelte mich leicht, als ich an meinen letzten Urlaub zurückdenken musste.

Dass ich bei meinen Eltern wieder einziehen - nein, halt ‚lediglich übernachten‘ gibt es besser wider - durfte, geschah doch nicht ganz so selbstlos wie es zunächst schien. Jetzt stand ich wieder in der Verfügungsgewalt meiner Eltern und es dauerte nicht lange, da eröffnete mein Vater meiner Mutter und mir beim Abendessen: „Frieda, der Jonathan wird mit dir in Urlaub fahren.“ Nach diesen Worten schob er sich ein großes Stück Fleisch in den Mund und kaute zufrieden darauf herum.

Ich war perplex. Wieso sollte ich jetzt mit meiner Mutter in Urlaub fahren? Bisher war von so etwas nie die Rede gewesen. Überhaupt - früher fuhren wir doch immer alle zusammen in die Ferien. Aber früher war ich auch ein kleines Kind gewesen. Ich schaute meine Mutter fragend an.

„Walter, was soll das jetzt?“, erkundigte sie sich auch direkt, „wir zwei wollten doch zusammen fahren. Das haben wir doch schon groß und breit besprochen.“

Mein Vater kaute in aller Ruhe zu Ende, bevor er grinsend erläuterte: „Also. Zunächst hast du das besprochen. ‚Die Frieda und ihr Mann‘“, äffte er meine Mutter nach, „ich wollte nie diese blöde Städtereise machen. Das wolltest immer nur du.“

„Bildungsreise. Ein wenig Bildung kann dir ja nun nicht schaden. Die Frieda und ihr Mann haben diese Reise auch schon gemacht. Voriges Jahr und …“

Jetzt sah mein Vater mich an: „Siehst du, Jonathan. Die Frieda und ihr Mann. Und deswegen sollen wir jetzt auch so eine blöde ‚Bildungsreise‘ machen. Darum habe ich beschlossen, dass du, Jonathan, viel eher ein wenig Bildung gebrauchen kannst und Mutter an meiner Stelle begleitest.“ Zufrieden lehnte er sich zurück und pulte mit einem Fingernagel zwischen den Zähnen.

„Aber das geht doch nicht. Die Reise ist doch schon gebucht. Da kann doch nicht einfach jemand anderes mitfahren“, versuchte meine Mutter ihren Ehemann jetzt zum Einlenken zu bewegen.

Aber Vater winkte lediglich ab: „Ach, ist der Jonathan denn nicht auch ein Lärpers? Natürlich kann der für mich mitfahren. Das kommt mir sogar ganz gelegen, dann verpasse ich wenigstens nicht die zwei wichtigen Fußballspiele.“

Ich konnte sehen, dass meine Mutter den Tränen nahe war. „Aber ich habe mich doch so auf diese Reise gefreut.“ - „Du kannst dich ja auch weiter freuen. Schließlich sagen wir die Fahrt ja nicht ab. Und damit basta!“

Jetzt mischte ich mich ein, denn schließlich ging es ja um meine Person. „Will mich denn jemand auch einmal fragen, ob ich überhaupt verreisen möchte? Und um was für eine Reise handelt es sich denn?“

Mein Vater schaute zufrieden vor sich hin, während meine Mutter rasch einen Reisekatalog hervorkramte.

„Hier, Jonathan. Sieben Städte in vierzehn Tagen. Eine Städte - Bildungsreise. Zwei Tage in jeder Stadt. Feinste Hotels, eine angenehme Reisegruppe und das Ganze im klimatisierten Bus.“

„Alte Leute Reise“, warf mein Vater ein, „wen interessieren denn überhaupt diese ganzen Städte? Mir reicht es schon, wenn ich einmal nach Mönchengladbach muss. Eine Stadt ist wie die andere.“

„Das kannst du aber nicht sagen“, entrüstete sich meine Mutter, „Düsseldorf zum Beispiel bietet viele Sehenswürdigkeiten. Oder Köln, oder …“

„Ja, ja, ja“, unterbrach sie mein Vater, „Jonathan fährt mit und damit Ende der Debatte. Schließlich wohnt er hier und kann auch einmal etwas für seine Familie tun.“

Betreten schauten meine Mutter und ich uns an. Natürlich dürfte ich keinen Rückzieher machen, dann käme Mutter gar nicht zu ihrer Reise. Aber sieben Städte in vierzehn Tagen? „Und wo geht die Reise so hin?“, fragte ich.

„Wir starten in Düsseldorf. Dorthin müssen wir allerdings selbst anreisen. Aber das ist von hier aus ja kein Problem ... Dann geht es weiter nach Köln, Frankfurt, Dresden, Berlin, Hamburg und Düsseldorf.“

„Das sind nur sechs Städte“, stellte ich fest.

„Wieso sechs?“ Meine Mutter zählte die Stationen an ihren Fingern ab. „Ich zähle sieben.“ - „Düsseldorf ist doppelt“, erläuterte ich.

„Das stimmt. Aber am ersten Tag wird die Altstadt besucht und nachher die Königsallee.“

Ich ahnte Schlimmes. „Das sind die Ziele? Altstadt und Kö? Nicht nur, dass wir die ja zur Genüge kennen. Das scheinen mir aber nicht wirklich die Ziele mit Bildungsanspruch zu sein.“

Jetzt mischte sich mein Vater ein: „Du hast ja keine Ahnung, Junge. Bist du überhaupt schon einmal mit offenen Augen durch die Düsseldorfer Altstadt gegangen? Da kannst du nun wirklich nicht mitreden. Außerdem wird der Reiseveranstalter schon wissen, was gut ist. Schließlich war die Reise ja auch teuer genug - ist ja eine Bildungsreise mit deutschsprachigem Reiseführer.“

„Deutschsprachig, aha.“ Mühsam verkniff ich mir ein Lachen. „Gut, dass der Mann nicht chinesisch spricht.“

Ich ignorierte den drohenden Blick meines Vaters. „Mach du dich auch noch lustig darüber. Dabei kannst du mir dankbar sein, dass du mir die Reisekosten in Raten zurückzahlen darfst.“

Ich war perplex. Sollte ich diese Reise jetzt auch noch selbst bezahlen? Ich besaß doch momentan ohnehin kaum einen Cent. „Ich soll diese Reise auch noch selbst bezahlen? Ich habe doch sowieso kein Geld! Und was soll das denn kosten?“

„Deswegen kannst du mir deine Schulden ja in Raten zurückzahlen. Ich denke, du hast ab dem Ersten Achten einen Job in diesem Sportstudio?“

„Ja, habe ich auch. Also, wie viel?“ - „Zweit... achtndet“, nuschelte mein Vater.

„Wie viel?“

Jetzt mischte sich meine Mutter wieder ein: „Wir besuchen sogar den Kölner Dom.“

Ich stöhnte. „Den kenne ich in- und auswendig. Also wie viel?“

„Und den Goetheturm in Frankfurt.“

Jetzt wurde es mir zu viel. Ich steigerte ein wenig meine Stimme: „Wie viel?“

„Zweitausendachthundert.“

Mir wurde schwindelig. Ich konnte die Zahl nur falsch verstanden haben. „Zweitausendachthundert?“, hakte ich nach. Meine Eltern nickten. Für den Preis flog man in die Karibik.

„Bildungsreise“, erläuterte meine Mutter unnötiger Weise, „wir besichtigen sogar das Brandenburger Tor. Gott, wie ich mich auf diese Reise freue.“

„Die Zweitausendachthundert sind aber für zwei Personen, oder?“

„Natürlich nicht.“ Mein Vater erhob sich. „Das ist der Preis pro Person im Doppelzimmer. Ihr übernachtet in den feinsten Hotels am Ort. So steht es im Reiseplan. Schau selbst in die Unterlagen. Und ab dem Ersten Achten zahlst du mir jeden Monat fünfhundert Euro zurück.“ Damit stapfte er aus dem Zimmer und ließ Mutter und mich allein.

„Das ist doch ein Witz, oder? Wir sollten die Reise stornieren.“

Meine Mutter sah mich aus tränenerfüllten Augen an. „Das geht nicht, Jonathan. Dann müssen wir dreiviertel des Reisepreises zahlen.“

„Gibt es denn keine Reiserücktrittversicherung?“ - „Die hat dein Vater nicht abgeschlossen, da er Geld sparen wollte. Und außerdem - in Hamburg besuchen wir den Tierpark Hagenbeck - da wollte ich immer schon einmal hin.“

„Na, da kannst du auch den Tierpark in Odenkirchen besuchen. Das ist allemal billiger.“

Jetzt sah mich meine Mutter böse an. „Ja, ja. Aber da gibt es auch keinen deutschsprachigen Reiseführer. Du gönnst wohl einer alten Frau diese kleine Freude nicht.“

Über das Thema Urlaub wurde schließlich kein weiteres Wort mehr verloren. Mein Vater brachte uns zum Rheydter Bahnhof und schon war er wieder fort. ‚Hier kann ich nicht parken‘, waren seine letzten Worte bevor er grinsend hinter dem Steuer verschwand.

Mutter und ich standen auf dem Bahnsteig und warteten auf den Zug. Wir hatten beide einen Schirm aufgespannt, da es leicht regnete. Die Bänke waren durchweg nass, so dass wir auch nicht daran denken konnten, uns zu setzen. Soweit ich erkennen konnte, befanden wir uns als einzige auf dem Bahnsteig hier.

„Wann kommt denn der Zug?“, fragte ich mit einem zweifelnden Blick auf die Gleise.

„In ungefähr dreißig Minuten. Der Zug fährt alle halbe Stunde“ - „Und wieso stehen wir dann jetzt schon hier?“ - „Lieber zu früh, als zu spät.“

„Dann ist ja gerade ein Zug abgefahren.“ Ich schüttelte den Kopf. Noch fünfundzwanzig Minuten. Die Zeit verging einfach nicht.

„Siehst du, Junge. Noch acht Minuten, dann kann unsere große Reise beginnen.“ Meine Mutter strahlte mich an. „Wo hast du denn die Fahrkarten?“

Ich konnte mich nicht an Fahrkarten erinnern. Wieso sollte ich die haben? „Ich habe keine Fahrkarten. Hast du die denn nicht? Gehören die etwa nicht zu der gebuchten Reise?“ - „Ach, Junge. Wie dumm du doch bist. Die Reise beginnt doch in Düsseldorf. Und um die Fahrkarten solltest du dich kümmern. Hat dir Vater das nicht gesagt? Dann musst du eben noch welche besorgen!“

Der Bahnsteig füllte sich allmählich mit Menschen. „Fahrkarten besorgen? Wo denn? Kann man die nicht im Zug lösen?“

Meine Mutter schüttelte den Kopf. „Du bist immer so weltfremd. Das geht doch schon lange nicht mehr. Du musst in die Bahnhofshalle und am Automaten zwei Karten lösen. Und beeile dich, der Zug ist gleich da.“

Ich hastete los. Nach meiner Uhr blieben mir gerade einmal fünf Minuten. Das müsste zu schaffen sein. Gegen den Strom der auf den Bahnsteig flutenden Menschen kämpfte ich mich zur Halle zurück. Da stand ja der Automat!

Zugegebenermaßen bin ich kein großer Bahn- oder Busfahrer. Folglich war der Automat für mich auch ein Buch mit sieben Siegeln. Hilfesuchend sah ich mich nach einem offenen Schalter oder wenigstens einer Information um. Dann trat ein junger Mann an mich heran. „Willste hier Wurzeln schlagen? Kann ich mal da ran?“ Ich trat einen Schritt zur Seite und beobachtete interessiert wie der Mann die Tasten bediente. „Was glotzte denn so?“ - „Ich ... - ich kenne mich mit dem Ding nicht so aus.“

Gutmütig grinste er mich an. „Ach so, Opa. Wo willste denn hin?“ - „Düsseldorf, zweimal.“ - „Zweimal? Hin und zurück, oder?“ - „Nein, ich und meine Mutter.“

Der junge Mann sah mich prüfend an. „Meine Mutter und ich.“ - „Sie auch - mit ihrer Mutter?“ - „Nein, das heißt: meine Mutter und ich. Der Esel nennt sich immer zuerst.“

Drei Minuten noch.

„Ja, sicher. Entschuldigung.“ - „Geben sie mal dreißig Euro her.“

Ich war verwirrt. Was wollte der Mann jetzt mit meinem Geld? Der sah doch gar nicht wie ein Bettler aus. „Dreißig Euro? Wofür? Ich kann ihnen einen Euro für ein Brötchen oder Kaff...“ - „Opa, für die Fahrkarten natürlich. Umsonst spuckt der Automat die nicht aus!“

Ich kramte das Geld aus meiner Tasche. Wenige Sekunden später drückte mir der junge Mann zwei Fahrkarten in die Hand. „Und nicht vergessen zu entwerten. An dem Automaten da vorne.“ Mit diesen Worten ließ er mich stehen. Bekam ich denn nicht noch Geld zurück? Auf den Karten stand ein Betrag von zwölf Euro. „Und mein Rückgeld?“, rief ich ihm hinterher.

„Trinkgeld für die Hilfe.“ Dann war er weg.

Egal. Ein Blick auf meine Uhr sagte mir, dass ich es in knapp einer Minute zurück auf den Bahnsteig schaffen müsste. Schon spurtete ich los. Und kehrte nach wenigen Metern zu dem kleinen roten Kästchen zurück, an dem ich die Fahrkarten noch entwerten musste.

Im Laufschritt und laut keuchend erreichte ich endlich den Bahnsteig. Der Zug würde noch nicht abgefahren sein; Züge hatten immer Verspätung.

„Du bist zu spät, Jonathan.“ Meine Mutter deutete auf die roten Rücklichter. „Der ist gerade abgefahren. Wieso du aber auch immer so trödelig bist!“

Nun ja, in dreißig Minuten käme ja der Nächste. Nur der Regen war etwas stärker geworden und lief in kleinen Bächen den Bahnsteig herunter und an meinen nassen Schuhen vorbei. Vielleicht hätte ich ja Gummistiefel anziehen sollen.

Kaum in Düsseldorf angekommen, hetzte Mutter mich die Stufen zur U-Bahn herunter. Dabei durfte ich unsere Koffer tragen. „Beeil dich, Junge. Wir kommen noch zu spät!“ Gut, dass wir auf die Bahn nicht lange warten mussten.

Keine fünfzehn Minuten später standen wir an unserem Zielpunkt. Im strömenden Regen. „Da hinten ist die Reisegruppe.“ Und schon steuerte sie auf einen Pulk Menschen zu, ihren Regenschirm mit beiden Händen haltend.

Ich durfte die Rollkoffer hinter mir herziehen und war mittlerweile klatschnass. Wirklich ein Bilderbuchurlaub.

„Da sind sie ja endlich!“ Ein dicklicher Mann lugte unwillig unter einem überdimensionalen Regenschirm hervor. „Wir warten schon seit dreißig Minuten auf sie. Sie sind doch Herr und Frau Lärpers?“

Meine Mutter nickte, was man unter dem Schirm aber kaum sehen konnte.

„Sind sie Herr und Frau Lärpers?“, klang es noch einmal und eine Spur unfreundlicher.

„Ja, sind wir. Also ich und mein Sohn“, keuchte meine Mutter.

„Und wo ist ihr Mann? Angemeldet ist doch ihr Mann!“ - „Der ist verhindert, deswegen kommt ja mein Sohn mit.“

Jetzt drehte der dicke Mann den Schirm ein wenig zur Seite und betrachtete uns eingehend. Dann nahm er seine Schirmmütze ab und kratzte sich am Kopf. Der Mann war vollständig kahl. Ich betrachtete ihn genauer: Unterhalb eines grünen Anoraks kam eine dreiviertel Lederhose zum Vorschein. Dicke graue Socken bedeckten die Schienbeine und Wanderstiefel rundeten das Bild ab.

„Tja, ich weiß nicht, ob das so einfach geht. Angemeldet ist doch ein Herr Walter Lärpers. Wie heißt denn ihr Sohn?“ - „Lärpers“, antwortete Mutter knapp. - „Nein, ich meine mit Vornamen.“ - „Jonathan.“

Wieder kratzte der Mann sich am Kopf. Ob der Hautprobleme hatte? Jedenfalls zeigte sich dort schon eine rote Stelle. „Das geht dann gar nicht! Sie können ja nicht einfach einen Walter anmelden und dann mit einem Jonathan ankommen.“ - „Aber Lärpers. Beide sind doch Lärpers“, begehrte Mutter auf, „ohne meinen Sohn fahre ich nicht.“ - „Dann müssen sie halt beide hier bleiben“, beharrte der Dicke.

Jetzt wurde es mir zu viel. „Moment, Herr ...“, mischte ich mich ein. Obwohl im gleichen Augenblick überlegte ich: Sollte ich nicht mitfahren dürfen, dann wäre mir schon geholfen. Doch dann verwarf ich den Gedanken; Mutter würde in diesem Fall ja auch nicht mitfahren können ...

„Demmbaum, Alois. Ich bin hier der deutschsprachige Reiseleiter.“

Das hatte ich mir fast schon gedacht. „Herr Demmbaum. Ich verlange, dass wir die Sache auf der Stelle mit dem Reiseveranstalter klären. Wir haben viel Geld für diese Reise bezahlt und bestimmt legt der Veranstalter wenig Wert darauf, dass sich meine Anwälte um den Fall kümmern.“

Das war natürlich ein wenig dick aufgetragen - hatte ich doch noch nicht einmal einen Anwalt. Aber meine Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht.

„Wir sind spät dran, Herr Lärpers. Ich will dann mal eine Ausnahme machen. Aber nur, weil sie es sind.“ Abrupt drehte er sich um, klatschte in die Hände und wandte sich an die wartende Gruppe. „Meine Damen und Herren. Ruhe bitte. Darf ich um ihre Aufmerksamkeit bitten?“ Endlich wurde es ruhig.

Interessiert schauten ihn die Leute an.

„Nachdem die Familie Lärpers endlich doch noch eingetroffen ist, kann es jetzt losgehen!“ Er drehte sich ein wenig zu uns: „Herr und Frau Lärpers, wären sie so freundlich und hätten sie die Güte sich zur Gruppe zu gesellen? Sie halten den ganzen Laden auf!“ Grinsend drehte er sich wieder zur Gruppe. „Erst zu spät kommen und dann den Betrieb auch noch aufhalten! Nun, ich begrüße sie zu unserer Städte - Bildungsreise. Sieben Städte in vierzehn Tagen, da...“

„Sechs Städte“, unterbrach ich ihn. - „Wie bitte?“ - „Sechs Städte.“ Und ich begann die Städte aufzuzählen: „Düsseldorf, Köln, Frankfurt, Dresden, Berlin, Hamburg. Das sind sechs Städte.“

„Sie haben Düsseldorf vergessen.“ - „Nein, habe ich nicht.“ - „Düsseldorf.“

Demmbaum war jetzt rot angelaufen und stampfte mit einem Fuß auf den Boden. „Düsseldorf zuletzt.“ - „Düsseldorf zuerst und Düsseldorf zuletzt“, erläuterte ich freundlich, „damit bleibt es aber eine Stadt. Oder gibt es noch ein anderes Düsseldorf?“

Ein Murren wurde in der Gruppe laut. Für mich klang es wie ‚recht hat er‘. Allerdings war nicht auszumachen, wer nun Recht haben sollte. Mutter rammte mir ihren Ellbogen in die Seite. „Gib Ruhe, Junge, und lass den Mann seine Arbeit machen.“

Demmbaum bekam das natürlich mit und ging nun grinsend über meinen Einwand hinweg. „Heute besichtigen wir die berühmte Düsseldorfer Altstadt. Wenn sie mir bitte folgen wollen.“

Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Insgesamt handelte es sich um vielleicht dreißig Personen. Alle zwischen sechzig und achtzig Jahren schätzte ich. Mehrere der Älteren mühten sich mit einem Rollator ab. Sie konnten dem Reiseleiter kaum folgen. So erklang auch alle paar Minuten ein unfreundliches: ‚Bitte aufschließen. Nicht trödeln da hinten!‘

Vor einem flachen Gebäude blieben wir schließlich stehen. Die Gruppe sammelte sich, wobei es allerdings etwas dauerte, bis auch der letzte mit seinem Rollator eingetrudelt war.

„Herrschaften nicht so langsam! Wir verlieren viel Zeit, wenn sie nicht bei der Gruppe bleiben. Schließlich müssen wir noch zum Bus.“ Demmbaum sah auf seine Uhr. „Schade, jetzt muss ich mich kurz fassen. Also: Wir stehen hier vor dem berühmten Düsseldorfer Kommödchen. Das Kommödchen wurde Neunzehnhundertsiebenundsechzig gegründet un...“

Demmbaum wurde unterbrochen. Ein erschöpft wirkender Mittsiebziger, auf seinem Rollator sitzend wedelte mit dem Arm: „Tschuldigung, Herr Reiseleiter. Aber das Kommödchen wurde Neunzehnhundertsiebenundvierzig gegründet und ist Neunzehnhundertsiebenundsechzig lediglich hier in diese Räume gezogen!“

Demmbaum wurde wieder rot und zischte: „Besserwisser!“ Dann wandte er sich abrupt um. „Wir müssen jetzt weiter. Der Bus wartet!“

Die Gruppe stolperte und rollte hinter ihm her.

Nach ungefähr zehn Minuten erreichten wir den Bus, der vorschriftswidrig auf einer Abbiegespur parkte. Zwei Polizisten überprüften gerade die Papiere des Fahrers.

„Herrschaften! Alle schnell in den Bus. Die Koffer bitte zuvor hier einladen.“ Demmbaum hatte es plötzlich sehr eilig. Noch fehlten allerdings die letzten Rollatorfahrer.

Mutter suchte sich einen Platz vorne, was mir sehr gelegen kam, da ich so dem Gespräch der Polizisten mit dem Fahrer lauschen konnte. Auch Demmbaum mischte sich jetzt in die Debatte.

„Wie ich schon sagte: sie können hier nicht parken. Auf jeden Fall erhalten sie eine Strafanzeige wegen Verkehrsbehinderung!“

Der Fahrer, ein kleiner, magerer, nervöser Mann zündete sich eine Zigarette an seiner gerade aufgerauchten an. „Herr Polizist. Drücken sie doch ein Auge zu. Es geht hier schließlich um alte und behinderte Leutchen. Wo sollte ich auch sonst parken? Und in wenigen Minuten sind wir ja auch schon wieder weg.“ - „Sie stehen jetzt aber schon seit mindestens einer Stunde hier. Und das geht nicht. Und machen sie endlich die Zigarette aus.“

Der Fahrer zog gierig an seinem Glimmstengel. Demmbaum, wieder mit hochrotem Kopf mischte sich jetzt ein: „Dies ist eine Privatreise. Da kann der Fahrer machen was er will!“

Einer der Polizisten machte ein grimmiges Gesicht und bemerkte böse: „Aber nicht parken, wo er will!“

Jetzt fing Demmbaum auch noch an zu schreien: „Sehen sie die Leute? Die alten und Gehbehinderten? Sollen diese armen Leute hunderte von Kilometern laufen? Sie, sie ...“ Demmbaum rang nach Worten. „Polizistennörgler!“

Die beiden Polizisten grinsten sich an. „Na, dann hätte ich gerne ihren Personalausweis. Das bringt ihnen auf jeden Fall eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung ein.“

Demmbaum wurde noch eine Spur röter. Wenn das überhaupt ging. „Nein. Meinen Ausweis bekommen sie nicht!“ - „Dann muss ich sie bitten mit auf die Wache zu kommen.“

Jetzt meldete sich der Fahrer zu Wort, nachdem er einen Hustenanfall überwunden hatte: „Wir können fahren. Die Leute sind alle da.“

„Also, was ist mit ihrem Personalausweis?“ - „Kriegen sie nicht. Und jetzt lassen sie uns fahren!“ - „Ja, der Bus kann fahren. Aber ohne sie. Kommen sie bitte mit auf die Wache.“

Demmbaum schüttelte den Kopf. „Sie können mich mal, sie Arschloch!“

Der so titulierte Beamte zögerte nicht lange. Blitzschnell legte er Demmbaum Handschellen an und führte ihn aus dem Bus. „Und sie verschwinden jetzt hier“, rief er im Hinausgehen dem Fahrer zu. „Wegen der Anzeige hören sie noch von uns!“

Mutter lehnte sich gemütlich zurück. Soweit es die unbequemen Sitze zuließen. Bei diesem ‚luxuriösen‘ Reisebus musste es sich um einen umgebauten Linienbus aus den achtziger Jahren handeln.

„Jetzt geht die große Reise endlich los“, seufzte sie und schloss die Augen. Doch Sekunden später wurde sie schon wieder aus ihrer Ruhe gerissen.

„Alle mal herhören“, quäkte es überlaut durch die Lautsprecheranlage. Der Busfahrer hielt ein Mikrofon in der Hand und versuchte nun das Fahren, sein Rauchen und die Ansprache zu koordinieren. Was folgte, war zunächst ein längerer Hustenanfall, fein über Lautsprecher verstärkt. Ich hoffte nur, dass das gut gehen würde ...

„Also, bitte Ruhe da hinten! Ich begrüße sie zu unserer Städtereise. Mein Name ist Heinrich Imgär und ich bin ihr Busfahrer. Da unser Reiseleiter, der Herr Demmbaum, leider ausgefallen ist, werde ich bis zu seiner Rückkehr ihr Ansprechpartner sein. Wir sind jetzt auf dem Weg in das schöne Köln, wo ein feines Hotel schon auf sie wartet. Morgen Vormittag geht‘s dann zum Kölner Dom und anschließend weiter nach Frankfurt. Aber das wissen sie ja alle aus ihren Reiseunterlagen. So, das war‘s. Jetzt bitte ich um Ruhe, damit ich konzentriert fahren kann. Ist schließlich kein Honigschlecken bei dem Verkehr!“

Mit einem lauten Knacken wurde die Lautsprecheranlage abgeschaltet. „Der hätte ja wenigstens etwas Musik machen können“, meinte Mutter.

Ich sah sie aus großen Augen an. „Während der Fahrt? Der Mann ist doch schon mit der Fahrerei genug beschäftigt! Soll er jetzt auch noch Gitarre oder Akkordeon spielen?“ - „Ach Junge. Radio oder Musikkassette natürlich.“

Das Hotel befand sich im Stadtteil Porz und machte schon von außen einen recht heruntergekommenen Eindruck. Dafür lag es direkt an der Hauptstraße und alle paar Minuten brausten Düsenflugzeuge im Landeanflug auf den Flughafen Köln - Bonn über uns hinweg.

Der Busfahrer, mittlerweile bei seinem dritten Bier, kaum dass wir angekommen waren, winkte uns in der Gaststätte des Hotels zusammen. „Meine Damen und Herrn.“ Seine Aussprache klang schon ein wenig verschwommen. „Sie haben jetzt bis morgen früh Freizeit und können die Gegend auf eigene Faust erkunden. Um halb neun erwarte ich sie abmarschbereit, dann geht‘s zum Dom.“

Wieder brauste ein Flieger über uns hinweg. Ich musste schreien, um mich bemerkbar zu machen: „Das ist aber kaum das versprochene Luxushotel in Köln, wie es im Prospekt steht!“

Imgär trank genüsslich sein Bier aus, bevor er mir antwortete. „Schreien sie doch nicht so, junger Mann. Ich kann doch auch nichts dafür. Da müssen sie sich beim Reiseleiter beschweren. Und - sehen sie den hier irgendwo?“ - „Ich denke, sie sind jetzt unser Reiseleiter.“ - „Richtig, aber nicht für das Organisatorische. Ich sage ihnen nur, was sie zu machen haben. Für alles andere ist der Herr Demmbaum zuständig.“

„Und wann kommt der wieder?“ - „Woher soll ich das wissen? Ich bin nur der Fahrer.“

Ich spürte, wie mein Gesicht warm wurde. Bestimmt lief ich gerade puterrot an. „Dann rufen sie diesen Reiseleiter doch an!“

Imgär schüttelte den Kopf. „Geht nicht.“ - „Und wieso?“ - „Ich habe seit zehn Minuten Feierabend. Steht so in meinem Vertrag.“

Jetzt reichte es mir. Ich würde uns auf der Stelle ein Taxi kommen lassen und nach Hause fahren. Dann dürfte sich dieses ominöse Reiseunternehmen mit meinem Anwalt herumschlagen! Während ich in meiner Tasche nach dem Handy suchte, fiel mein Blick auf Mutter. Die stand mit seligem Blick da. „Ist das nicht schön, Jonathan? So eine Reise habe ich mir schon lange gewünscht.“

Das Handy blieb in meiner Tasche und das Taxi dort, wo es war.

Zum Dom durften wir nach einer grausigen Nacht, in der eine Maschine nach der anderen über uns hinwegflog, mit der S - Bahn fahren. Fragen bitte an den Reiseleiter und außerdem dürfe der Fahrer ja gar nicht mit dem Bus nach Köln hinein, da er nicht über die notwendige Umweltplakette verfüge. Aber Mutter war selig, auch wenn die Zeit fast nur für die Hin- und Rückfahrt reichte. Immerhin kaufte sie in einem Andenkenladen einen Kölner Dom aus Plastik.

In Gedanken formulierte ich schon einen harschen Brief an das Reiseunternehmen.

In Frankfurt trafen wir es ein wenig besser. Das Hotel lag zwar direkt an einem Friedhof - was einige der älteren Leute für kein gutes Zeichen hielten - war aber ordentlich und sauber. Allerdings mussten wir die Strecke zum Goetheturm zu Fuß absolvieren. ‚Nur knapp zwanzig Minuten‘ meinte Imgär lakonisch und schickte seinem Bier einen Schnaps hinterher. Mit der Rollatortruppe benötigten wir allerdings eine Stunde für die paar Kilometer. Aber Mutters Augen glänzten. „Der Goetheturm. Den wollte ich immer schon einmal sehen“, seufzte sie. Aber dann mussten wir auch schon wieder zum Hotel zurück: der Bus wartete auf die Fahrt nach Dresden.

„Ach, Junge. Jetzt geht‘s zur Semperoper. Nein, wie ist das schön ...“

Nachdem die Unterkunft in Frankfurt die Gruppe und mich schon ein wenig mit der Reisegesellschaft versöhnt hatte, entschädigte Dresden uns nun vollkommen. Der Busfahrer Herr Imgär zeigte während der Fahrt durchweg gute Laune und obwohl ich befürchtete, dass sich dies lediglich auf seinem Alkoholpegel begründete, behielt ich meine Gedanken doch für mich. Imgär legte sogar eine Kassette in das vorsintflutliche Abspielgerät und alsbald tönten Marianne Rosenberg, Mirelle Mathieu und Co durch die Lautsprecher. Im hinteren Bereich des Busses begann man fröhlich mitzusingen und auch Mutter ließ sich von der Stimmung anstecken. „Ist das nicht herrlich? Ist das nicht schön? Sieh mal die Landschaft, Jonathan.“

Wir blickten meistens auf Lärmschutzwände.

In Dresden überraschte Imgär uns damit, dass wir ein Hotel ganz in der Nähe der Liebfrauenkirche bezogen. Wellnessbereich, Frühstücks- und Abendbuffet und ein sehr gutes Restaurant. Imgär klärte uns sogar darüber auf, warum er hier in die Stadt hineinfahren durfte: „Dresden hat - noch - keine Umweltzonen. Hier versucht man nach einem anderen Konzept den EU - Richtlinien gerecht zu werden.“

Aha.

Und am Nachmittag tauchte auch wieder unser Reiseführer, Herr Demmbaum, auf. Merklich gut gelaunt überraschte er uns mit der Ankündigung, dass er alles daran gesetzt habe, damit wir abends ein Konzert in der Semperoper besuchen könnten. Die Gruppe jubelte. Alle Zweifel an dieser ‚Bildungsreise‘ waren plötzlich ausgeräumt. Mutter seufzte einmal mehr ‚Ach, ist das schön‘.

Dass es sich um eine Ballettaufführung handelte, die kaum besucht wurde, erfuhr ich erst viel später ...

Dafür Berlin! Unsere Abfahrt verzögerte sich um einen Tag, da der Busfahrer stockbetrunken die Treppe hinabstürzte und im Krankenhaus versorgt werden musste. Gott sei Dank war ihm nichts Ernsthaftes passiert. Das Hotel zeigte sich verständig. Aus Zweibettzimmern wurden Vierbettzimmer, da durch Reservierungen nicht mehr genügend Räume für unsere Reisegruppe zur Verfügung standen. Aber immerhin mussten wir uns nicht neue Hotels suchen oder gar im Bus oder auf der Straße schlafen. Mutter und ich bekamen zwei Männer der Rollatortruppe auf unser Zimmer. Die beiden schienen eng befreundet zu sein und spielten die halbe Nacht Karten miteinander. Ich wartete vergeblich auf das altbekannte Aufseufzen meiner Mutter: ‚Ach ist das schön‘.

Aber auch diese Nacht verging und uns blieb am nächsten Vormittag sogar Zeit und Gelegenheit die Frauenkirche zu besichtigen. Hier glänzte Demmbaum dann als Reiseführer und erzählte uns zahlreiche Details. Störend war lediglich, dass er ständig an seinem Handy herum fummelte - aber vielleicht erwartete er ja noch einen Anruf wegen des Busfahrers.

Zurück im Hotel wartete Imgär schon auf uns. Mittlerweile wieder nüchtern, trug er mehrere Pflaster im Gesicht und blickte uns aus verkaterten Augen an. Nach einem heftigen Streitgespräch mit Herrn Demmbaum verschwand er in seinem Bus. Guter Laune luden wir unsere Koffer ein und kurze Zeit später befanden wir uns auch schon auf der Autobahn Richtung Berlin.

Demmbaum stand mit dem Mikrofon in der Hand neben dem Fahrer.

„Eins, zwei Test.“ Ein schrilles Pfeifen der Lautsprecheranlage riss uns aus unseren Gedanken. „Test - Test - Test. Hallo liebe Reisegruppe.“ Jetzt ließ sich kaum noch ein Ton vernehmen und im hinteren Bereich des Busses erklangen Rufe ‚lauter!‘.

„Test - Test - Eins, eins, drei, drei.“ Endlich stimmte die Lautstärke. „Liebe Reisegruppe. Wie sie bestimmt mitbekommen haben - hahaha - hat sich unsere Abfahrt aus Dresden ein wenig verzögert. Unser lieber Busfahrer, Herr Imgär, ist gestern leider auf den glatten Stufen im Hotel ausgerutscht und musste im Krankenhaus versorgt werden. Ja, so frisch gebohnerte Stufen haben es in sich!“

Am liebsten hätte ich laut gefragt, wieso denn Stufen mit Teppichboden frisch gebohnert sein sollten, unterließ es dann aber.

„Deswegen müssen wir unser Programm jetzt ein wenig straffen. Aber das wird auf gar keinen Fall ihr Schade sein: Im Gegenteil. Da wir in Berlin nicht übernachten, bekommen sie eine erstklassige Stadtrundfahrt mit dem Bus. Na ist das nichts? Wir von der Reiseleitung tun natürlich alles, damit es ihnen bei uns gefällt. Bei der Gelegenheit möchte ich auch auf unsere nächste Reise hinweisen, die ...“

Demmbaum hielt sich eine volle halbe Stunde dran, die Vorzüge der nächsten Städtereise zu erläutern. Ja, man könne sogar direkt bei ihm buchen. Ist das nicht toll? Ich sah Mutters glänzende Augen.

Aber nicht mit mir!

Nach zirka anderthalb Stunden Fahrt steuerte unser Fahrer Imgär einen Parkplatz an. „So, Herrschaften. Wir machen jetzt eine kurze Pause. Sie können sich ein wenig die Beine und die Rollatoren - hähähä, kleiner Scherz - vertreten. In einer halben Stunde geht es dann weiter. Also, dass mir niemand die Abfahrt verpasst!“

Zischend öffneten sich die Türen und schon strömte die Reisegruppe auf den Parkplatz. Weiter hinten stand ein einsames Dixiklo und zwischen den Rollatorfahrern entbrannte ein Wettrennen, wer als erster das Häuschen erreichen würde. Allerdings hatte sich schon eine Schlange der weniger gehandicapten davor gebildet. Ich suchte mir einen Baum, das machte die Sache etwas einfacher.

Langsam schlenderte ich zum Bus zurück. Imgär war fleißig am hinteren Nummernschild beschäftigt. Interessiert schaute ich ihm zu.

Jetzt nahm er schwarzes Isolierband und fing an die Buchstaben zu verändern. Aus 'MG-F 391' wurde plötzlich 'MG-E 884'. Was sollte das? Was tat der Mann da? Plötzlich stand der Reiseleiter neben mir. „Am besten sie vergessen was sie da sehen, junger Mann.“

Ich schüttelte verwundert den Kopf. „Was macht er da? Wozu soll das gut sein?“

Demmbaum wand sich ein wenig, rückte dann aber mit der Sprache heraus: „Nun, ein kleines technisches Problem. Wir müssen ja mit dem Bus durch Berlin durch - wegen der Stadtrundfahrt - aber leider ist das Gebiet eine Umweltzone. Und wir verfügen nicht über die notwendige grüne Plakette. Ehrlich gesagt, besitzen wir nicht einmal eine rote!“ Demmbaum lachte leise vor sich hin.

„Also müssen wir ein wenig kreativ sein, sie verstehen?“

Nein, ich verstand nicht. Äußerte das aber nicht.

„Also vergessen sie unsere kleine ‚Kreativität‘ am besten sofort wieder. Ich verspreche ihnen, dass es eine wunderschöne Fahrt durch Berlin wird.“

Nun, dessen war ich mir nicht so ganz sicher. Jedoch kam ich nicht dazu, noch weitere Bedenken anzumelden, denn unser Fahrer stand jetzt an der Türe und winkte zum Aufbruch. Dass er sichtlich nervös war, schien nur mir aufzufallen.

„Ist das nicht schön, Jonathan? Schau, die Gegend!“

Ich verdrehte die Augen, was Mutter aber zum Glück nicht sehen konnte. „Ja, Mutter. Wunderschön.“ Brachliegende Felder, viel ungepflegtes Gestrüpp und hin und wieder ein Baum. Meistens verkrüppelt. Ja, wunderschön!

„Hallo, Test, Test. Eins, eins.“ Es dauerte eine Weile, bis Demmbaum die Lautstärke korrekt eingestellt hatte.

„Alle aufwachen. Hahaha - Scherz gemacht. Wir kommen jetzt nach Berlin, meine Damen und Herren, liebe Reisegruppe. Ich begrüße sie also herzlichst zu unserer kleinen, exklusiven Stadtrundfahrt.“

Ein Raunen ging durch den Bus und so manches ‚Ah‘ und ‚Oh‘ ließ sich vernehmen.

„Siehst du, Jonathan. Das ist doch schön, oder, Junge?“ Mutter lehnte zufrieden in dem unbequemen Sitz und blickte aus dem Fenster. Dicht an dicht standen jetzt heruntergekommene Mehrfamilienhäuser am Straßenrand. Vom Dreck und Gesamteindruck konnte dies durchaus mit Rheydt konkurrieren.

„Wenn die Herrschaften bitte einmal links aus dem Fenster sehen würden: dies ist Berlin. Und jetzt vielleicht einmal rechts: sie sehen Berlin. Und freuen sie sich schon einmal, in wenigen Minuten erleben sie das Brandenburger Tor in all seiner Pracht.“

„Schau mal, Junge. Diese Häuser. Die sind bestimmt kurz vor dem Krieg entstanden.“

Die Frage war nur, welchen Krieg sie meinte. Den Ersten Weltkrieg? „Ja, Mutter. Hier ist es genau so schön wie in Rheydt!“

Mutter lächelte selig. „Da hast du Recht, Junge.“

Wir standen jetzt im Stau auf der linken Spur. Ganz so schnell würde das wohl mit dem Brandenburger Tor nichts werden. Jetzt schob sich rechts ein Streifenwagen an uns vorbei. Dann stöhnte der Busfahrer auf: „Scheiße!“

Was er meinte, konnte ich bei näherem Hinsehen erkennen: „Die Polizisten im Polizeifahrzeug sahen sich interessiert unsere Windschutzscheibe an. Und hatten vermutlich die fehlende Plakette entdeckt. Jetzt verließ der Beifahrer den Wagen und kam mit erhobener Kelle auf unseren Bus zu.

„Festhalten!“, schrie Imgär und gab Gas. Der Polizist sprang zur Seite und rannte zu seinem Fahrzeug zurück. Imgär wechselte auf die Spur einer Straßenbahn und beschleunigte weiter.

Über die Lautsprecheranlag ließ sich plötzlich der Reiseleiter vernehmen: „Test, Test, eins, eins, drei. Bitte, meine Damen und Herren. Keine Sorge. Unser Fahrer hat einen Weg gefunden, sicher und schnell ans Ziel zu gelangen. Wenn sie sich bitte nur festhalten!“

Ein Rumpeln und Quietschen ging durch den Bus, als Imgär mit zu hoher Geschwindigkeit durch eine Kurve fuhr. ‚Anhalten‘ klang es von hinten und auch Mutter hatte sich ganz in ihren Sitz zurückgezogen. Ich war fast versucht ‚Ist das nicht herrlich‘ zu sagen.

„Wenn sie bitte links oder rechts aus dem Fenster schauen: das berühmte Brandenburger Tor!“

Und schon waren wir durch. Imgär musste jetzt bestimmt neunzig Sachen drauf haben. Wenn das mal gut ging. Schützend legte ich meine Arme um Mutter.

„Du hast Angst, was Junge? Keine Sorge, ich bin ja bei dir. Aber warum fährt der so schnell? Jetzt habe ich das Brandenburger Tor gar nicht gesehen.“ - „Ich auch nicht, Mutter, ich auch nicht.“

Ob ihr das ein Trost war?

Hinter uns klang jetzt das Martinshorn des Polizeiwagens. Es konnte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis man uns stoppte. Würde unsere Städtereise hier in Berlin enden?

Aber Imgär - der in einem früheren Leben vermutlich Rennfahrer gewesen war - wechselte jetzt auf eine Busspur und sauste dann über eine rote Ampel. Nur um Haaresbreite entgingen wir einem Unfall. Ich hörte Reifen quietschen und ein Krachen. Das Martinshorn wurde leiser.

Nach einer halben Stunde - Imgär hatte Gott sei Dank das Tempo wieder normalisiert - bog er auf einen unscheinbaren, von dichtem Gestrüpp umgebenen Parkplatz ab.

Demmbaum meldete sich wieder über die Sprechanlage: „Hallo Reisegruppe, hallo. Also: Leider mussten wir auf Grund des Stadtverkehrs unser Tempo ein wenig erhöhen. Da ist bestimmt irgendwo ein Unfall passiert, sie haben ja alle das Tatütata gehört. Wir machen jetzt hier ein paar Minuten Pause. Allerdings können sie den Bus nicht verlassen, bleiben sie also auf ihren Plätzen.“

„Aber ich muss mal“, klang es von hinten. „Und ich habe mir in die Hose gemacht“, rief eine andere Stimme.

„Noch ein wenig Geduld, meine Damen und Herren. Wir erreichen ja in Kürze unser nächstes Reiseziel: Hamburg. Dort wartet schon ein wunderschönes, gemütliches Hotelzimmer auf sie.“

Imgär verließ rasch den Bus. Ich war mir sicher, dass er jetzt die Nummernschilder zurückändern würde ...

Richtung Hamburg quälten wir uns stundenlang durch einen Stau. Zum Glück gönnten uns der Reiseleiter und Imgär auf einem Rastplatz eine kurze Pause. Ich bemerkte mehr als eine Person mit ausgewaschener Hose. Mutter bestand darauf, in der Raststätte etwas zu essen. Leider musste ich in der Schlange ziemlich weit hinten warten. Und als wir endlich unsere Essen vor uns stehen hatten, wieselte Demmbaum durch das Lokal und scheuchte uns zum Bus zurück. Noch beim Aufstehen stopfte ich mir eine Krokette in den Mund und biss hastig von einem Stück Fleisch ab.

Nach fünf Stunden endlos scheinender Fahrt erreichten wir endlich Hamburg. Oder besser das Hotel in einem entlegenen Vorort. Allerdings stand das dem in Köln - Porz in nichts nach. Da aber alle froh waren, endlich auf ihre Zimmer zu kommen und ausruhen zu können, äußerte sich niemand. Auch ich hielt mich zurück. Immerhin würden wir heute noch ein Abendessen bekommen. Ich hatte fast schon nicht mehr damit gerechnet.

Die Besichtigung des Zirkus Hagenbeck am folgenden Tag wurde ein echtes Erlebnis. Auch wenn die Reisegruppe dies in Eigenregie und per U - Bahn durchführen musste, da Demmbaum darauf beharrte, heute seinen freien Tag zu haben. Mehr als einmal sah Mutter mich strahlend an: „Ist das nicht schön, so wunder, wunderschön?“

Und dann wieder Düsseldorf. Meine Laune besserte sich schlagartig erheblich. Jetzt, da diese unsägliche Reise fast überstanden war. Nur noch die Königsallee und dann ab nach Hause. Wenn das kein Grund zum Jubeln war. Mutter allerdings vertrat da eine andere Meinung. „Schade, ist die schöne Fahrt schon zu Ende. Jonathan, was hältst du davon, wenn wir jetzt die nächste Reise buchen? Das hat doch alles gut geklappt und ...“

Ich unterbrach meine Mutter: „Geht leider nicht. Ich muss doch arbeiten. Vielleicht solltest du die Fahrt mit Vater durchführen. Es ist eine Schande, dass er nicht dabei war. So viele Sehenswürdigkeiten, soviel Bildung. Das hätte ihm doch bestimmt auch gut getan!“

Mutter sah mich an. „Da hast du Recht, Junge. Du bist ja schon richtig groß und vernünftig geworden, dass du zu solchen Erkenntnissen gelangst. Gleich morgen muss ich mit Vati reden.“

Personen - Schutz

Подняться наверх