Читать книгу Begraben in Wuppertal - Jürgen Kasten - Страница 5

Prolog

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»Boah, du nervst!«, schrie Sarah ihrer Mutter entgegen. »Ich hau ab!«

Die Mutter rührte sich nicht. Sie lag auf der Couch, das Gesicht mit einem Handtuch abgedeckt. Im Hintergrund dudelte ein Radio.

»Mach doch«, murmelte sie schwach. Sie war nicht in der Lage, ihrer 14-jährigen Tochter mehr entgegenzusetzen. Am liebsten wäre sie gestorben. Wieder einmal. An diesem 28. April 2001 starb stattdessen Evelyn Künneke. Die Nachricht drang zu Sarahs Mutter durch, weil gleich darauf »Hoppe, Hoppe Reiter« angespielt wurde. Das Lied erinnerte sie immer schmerzhaft an ihren geliebten, früh verstorbenen Vater. Evelyn Künneke hatte es 1995 noch einmal als Techno-Version aufgenommen. Tränen schossen ihr in die Augen. Ihre Gedanken hingen fast nur noch in der Vergangenheit. Dass sie eine ausgeprägte Depression hatte, wollte sie nicht wahrhaben. Professionelle Hilfe nahm sie nicht in Anspruch. Lieber griff sie zu Tabletten, die allerdings nicht halfen. Im Laufe der Zeit hatte sich deshalb außerdem eine Medikamentenabhängigkeit eingeschlichen.

*

Sarah fühlte sich alleingelassen. Einen Vater gab es in ihrem Leben schon lange nicht mehr. Die 14-Jährige war nicht in der Lage, den Zustand ihrer Mutter richtig einzuordnen, geschweige denn, ihr zu helfen. Sie hatte ihre eigenen Probleme. Ihre Mutter fand sie nur nervig. Genauso wie den kauzigen Nachbarn Kotthausen, ein Lehrer, der ihr gelegentlich Nachhilfestunden gab. Das half ihr zwar einigermaßen, in der Schule über die Runden zu kommen, ob sie aber die achte Klasse auf der Realschule Berghauser Straße erfolgreich beenden würde, blieb zweifelhaft. Die lange Liste ihrer Fehlstunden könnte das noch verhindern. Daran dachte Sarah aber gar nicht. Ihr war das alles reichlich egal. An diesem Samstag spielte das ohnehin keine Rolle.

Sie haute nicht das erste Mal von zu Hause ab. Meistens griff man sie in Solingen wieder auf. Die Nachbarstadt war ihr liebstes Ziel, lieber als das verschlafene Cronenberg. Dort traf sie Gleichgesinnte, die ähnliche Probleme hatten wie sie. Von denen fühlte sie sich verstanden.

Das Turmzentrum und der Platz vor dem Karstadt hatten es ihr angetan. Dort traf man sich. Entwurzelte Jugendliche, Obdachlose und Fixer. Manchmal blieb sie mehr als einen Tag verschwunden. Ein Schlafplatz fand sich immer irgendwo bei irgendwem.

An diesem 28. April 2001 meinte es das Schicksal nicht so gut mit ihr. Es regnete, ein unangenehmer Wind blies, vergeblich schaute sie sich nach einem bekannten Gesicht um. Überdies war sie auf der Hinfahrt im City-Express kontrolliert worden. Sie besaß keine gültige Fahrkarte und hatte zwei Stationen vor dem Busbahnhof am Turmbau aussteigen müssen.

»Die Anzeige wegen Schwarzfahrens kommt schriftlich«, hatte ihr der knurrige Kontrolleur mit auf den Weg gegeben.

Eine Zeit lang stand sie unschlüssig herum, hatte sich vor dem Regen in den Eingangsbereich des Karstadt zurückgezogen. Niemand in der Nähe, von dem sie eine Zigarette schnorren konnte. Zögernd überquerte sie schließlich die Straße, um in den Fußgängerbereich der City zu wechseln. Neben ihr hielt ein roter Wagen. Die Beifahrertür wurde aufgestoßen und eine bekannte Stimme rief: »Sarah, steig ein, ich fahr dich nach Hause.«

Erschrocken zuckte sie zusammen. Scheiße, sie kannte den Typen. Erst wollte sie ihn ignorieren und wegrennen. Doch ihr fiel ein, dass er sie bestimmt beim Amt anschwärzen würde. Schon beim letzten Mal hatten die gedroht, sie in ein Heim zu stecken. Dann doch lieber nach Hause, zurück zur Psycho.

Sie stieg ein. Er grinste sie an. Wenigstens saß sie nun im Trockenen, aber er sollte ja nicht wieder versuchen, sie zu befummeln. Diesmal wäre sie gewappnet.

Sarah tastete nach ihrer langen spitzen Nagelfeile in der Jackentasche. Mit der anderen Hand wischte sie sich die nassen Haare aus der Stirn.

Mit verkniffenen Lippen lehnte sie sich zurück, schloss die Augen. An einem Gespräch war sie nicht interessiert.

Erst als der Wagen über Schotter hoppelte, blickte sie wieder auf. Sie waren in einen Waldweg eingebogen.

»Beim Bundeskriminalamt sind mehr als 13.000 Vermisste registriert. Täglich kommen 250 bis 300 hinzu. Mindestens 80 Prozent erledigen sich nach kurzer Zeit, weil die Vermissten wiederauftauchen.«

Hinter dem Tresen der Polizeiwache am Rathaus in Cronenberg stand ein mild lächelnder Beamter, der sein Wissen zum Besten gab. Eigentlich meinte er aber, dass es sich nicht lohne, den ganzen Papierkram anzufangen, weil Sarah morgen sowieso zurück sein würde.

»Das hilft uns jetzt auch nicht weiter«, widersprach Kotthausen.

Er hatte Sarahs Mutter mit zur Wache geschleppt, denn die hatte überhaupt noch nicht realisiert, dass ihre Tochter nun schon seit drei Tagen verschwunden war.

»Bisher ist die doch immer nur nach Solingen abgehauen und dort vom Jugendamt aufgegriffen worden«, versuchte der Beamte abzuwiegeln, nachdem er seinen Computer mit Sarahs Namen gefüttert hatte. Er schien wenig Lust zu haben, das Formular umsonst auszufüllen.

»Drei Tage war sie noch nie weg.«

Kotthausen wollte sich nicht abwimmeln lassen.

»Wer sind Sie überhaupt?« Der Beamte schaute ihn fragend an.

Er wirkte gereizt.

»Ich bin ein Nachbar«, sagte Kotthausen, »ich habe Sarahs Mutter nur begleitet.«

Die Frau nickte abwesend.

»Nun gut, ich nehme erst einmal eine vorläufige Vermisstenanzeige auf. Morgen ist Feiertag, 01. Mai. Wenn Sarah dann immer noch nicht zu Hause ist, gehen Sie am Mittwoch direkt ins Präsidium zum zuständigen Kommissariat und nehmen ein Foto von dem Kind mit.«

Seufzend setzte er sich an den Computer und suchte in den Formularvordrucken das richtige heraus.

Kotthausen schaute sich derweil in dem kargen Wachraum um. An einem schwarzen Brett hing ein kleines rot umrandetes Poster.

Vermisst wird seit dem 12. Februar 2001 die 15-jährige Lisa Niewöhler. Auf ihrem Schulweg wurde sie zuletzt in Höhe der Haltestelle Rathaus Cronenberg gesehen. Sie war bekleidet mit …

»Die ging auch in Sarahs Schule.« Kotthausen zeigte in Richtung des Fotos, unter dem der Text stand.

Der Beamte schaute gar nicht hin.

»Die wird wirklich vermisst«, murmelte er, »seit drei Monaten unauffindbar.«

»Gibt es keine Hinweise, wo sie sein könnte?«, fragte Kotthausen.

»Keine Ahnung. Das können Sie die Kollegen von der Vermisstenstelle fragen.«

Kotthausen ging näher an das Foto heran. Das Bild erinnerte ihn an Sarah. Lange blonde Haare, Stupsnase und in ihren Augen spiegelte sich Trotz.

Gibt es keinen anderen Ausweg, als abzuhauen, wenn man zu Hause nicht mehr klarkommt?, fragte sich Kotthausen. Sind die Familien so kaputt, dass sie nicht mehr in der Lage sind, anständig miteinander zu kommunizieren? Gibt es niemanden, der hilft?

Kotthausen half, wo er konnte. Selbst in den Klassen seiner Grundschule gab es Kinder, die auffällig waren. Er versuchte zu ergründen, woran es lag. Er suchte die Eltern zu Hause auf, zwang sie zum Gespräch. Gern gesehen war er selten. Das machte ihm nichts aus. Er fühlte sich verpflichtet, wollte glückliche Kinder um sich haben.

»Du wärst besser Sozialarbeiter geworden«, warf ihm seine Frau oft vor. Sie missbilligte seinen permanenten Einsatz, der einen Großteil seiner Freizeit vereinnahmte. Dass seine Ehe daran zugrunde gehen sollte, ahnte er nicht.

Begraben in Wuppertal

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