Читать книгу Begraben in Wuppertal - Jürgen Kasten - Страница 8
Kapitel 3
ОглавлениеMit noch schlafverklebten Augen schlurfte Fiebig Richtung Badezimmer. In der Küche gluckerte schon leise die Kaffeemaschine. Die würde er auch blind finden. Das Radio hatte sich von allein eingeschaltet, es war programmiert. Heute sei Freitag, der 26. April 2019, ein warmer Frühlingstag stehe bevor, flötete ein aufgeräumter Moderator durch den Äther. Die folgenden Nachrichten schwappten an Fiebig vorbei. Am liebsten ginge er sowieso mit geschlossenen Augen und Ohren durch die Welt. In letzter Zeit noch mehr als sonst. Für ihn bestand die Stadt aus Schmutz, Elend und Dreck. Werbung nicht zu vergessen, die vor allen Dingen. Die Plakatwände waren mit verhunzten Wortgebilden bestückt, die seiner Sprache nicht ähnelten. Sie erreichten ihn nicht. Im Übrigen fand er die meisten hirnrissig. Sinnentleerte Slogans sollten junge Menschen ansprechen, für ihn waren sie nicht gedacht.
Geschlossene Augen gingen aber nicht, schon gar nicht, wenn man vor dem Spiegel stand und sich rasieren wollte, nass, mit scharfer Klinge.
Fiebig musste hineinsehen. Mühsam hob er die müden Augenlider. »Bäh!«, entfuhr es ihm beim Anblick seines zerknautschten Gesichtes.
Seine geröteten Augen konnte er noch dem gestrigen Alkoholkonsum zuschreiben. Die schweißnasse Glatze der unruhig verbrachten Nacht. Seine fahle, schlaffe Haut und die Tränensäcke unter den Augen auf sein Alter zu schieben, das allerdings erschien selbst ihm nicht ehrlich.
Schuld war sein ungesunder Lebenswandel. Seine Schwester hielt es ihm ohne Unterlass vor. Fast neun Jahre jünger als er war sie, seine kleine Schwester. Eine lebensbejahende Witwe. Im Gegensatz zu ihm strotzte sie vor Energie und konnte es nicht lassen, ihn zu bevormunden und zu gängeln.
Wenn er nächste Woche seinen 59. Geburtstag erleiden würde, würde er sie wie immer nicht daran hindern können, ihm eine Feier auszurichten. Und wie jedes Jahr würde sie eine ihrer zahlreichen Freundinnen mitbringen. Elfie, Claudia, Hanne, oder wie sie alle hießen. In einem stillen Winkel der Küche würde sie ihm zuraunen: »Sei nett und nicht so grantig zu Elfie. Die wäre doch was für dich.«
»Ihr geht mir alle auf den Sack, auch du!«, blaffte er sein Spiegelbild an. Er brauchte keine Frau, musste sich erst einmal wieder in Form bringen.
Missmutig setzte er den Rasierer an, wissend, dass er die Klinge nicht unfallfrei über seine faltige Haut ziehen könnte.
Seine Hand zitterte, trotzdem kam er mit nur einer Schramme davon. Er klebte ein winziges Pflaster darüber, öffnete das Badezimmerfenster, um den Dampf der heißen Dusche abziehen zu lassen, die er zuvor genossen hatte, und sah draußen einen strahlenden Frühlingstag aufziehen.
Vor seinem Kleiderschrank entschied er sich für eine leichte Sommerhose und sein helles Leinenjackett. Der harte Duschstrahl hatte ihm ins Leben zurückgeholfen.
Nachher würde er sich mit Lars Lombardi im Biergarten auf dem Laurentiusplatz treffen. Im Präsidium musste nicht jeder mitkriegen, dass er Umgang mit der Presse pflegte, wo doch alle wussten, dass Presseleute für ihn lästige Schmierfinken waren.
Leider hatte er im Alkoholrausch mit eben einem dieser Zunft Brüderschaft getrunken. Und wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass dieser Lars Lombardi ein sympathischer Junge war, sonst würde er sich ja auch nicht mit ihm treffen.
Was ihm an Lars nicht gefiel, war seine Manie, diese eine unglaubliche Geschichte zu finden, die ihn in die Riege der angesagtesten Journalisten katapultieren würde.
Fiebig war gespannt, für was er ihn heute wieder einspannen wollte.
Im Treppenhaus roch es nach angebranntem Toast. Fiebigs Nase kräuselte sich angewidert. Er frühstückte nie zu Hause. Der Lift stand auf seiner Etage, der siebten und letzten. Fiebig war dort Besitzer einer Eigentumswohnung: einem Penthouse mit Blick über die Stadt. Er zog die Fahrstuhltür auf. Warmer Mief schlug ihm entgegen. In der engen Kabine setzte sich der Duft seines Rasierwassers durch. Es war das Weihnachtsgeschenk seiner Schwester gewesen. Heute hatte er es zum ersten Mal aufgetragen. Im vierten Stock stieg die Rothaarige ein. Auf Mitte 40 schätzte er sie. Sie schnupperte überrascht und schaute Fiebig interessiert an.
Das irritierte ihn.
Normalerweise beachtete sie ihn nicht – er hingegen schaute ihr gern hinterher. Dabei kamen ihm Gedanken, die er besser für sich behielt. Eine Frau an seiner Seite hatte er schon zu lange entbehrt.
Nicht ganz freiwillig. Er hatte sich gehen lassen, war kein angenehmer Anblick für seine Mitmenschen.
»Ein Geschenk meiner Schwester.« Er grinste unbeholfen.
Die Frau musterte ihn kritisch, schien ihm das nicht ganz abzunehmen. Aber sie nickte nur, lächelte dabei.
Schweigend glitten sie in die Tiefgarage hinab.
»Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag«, sagte sie und stolzierte auf ihren hohen Stöckelschuhen zu ihrem Wagen.
»Danke, wünsche ich auch«, antwortete Fiebig viel zu spät. Sie war schon eingestiegen.
»Trottel«, sagte er zu sich selbst und wandte sich seinem alten Benz zu, der direkt neben der Ausfahrt stand.
Seinen Führerschein hatte er seit Kurzem zurück, das Trinken hatte er trotzdem nicht eingestellt. Die drei Monate ohne eigenes Auto waren ihm schwergefallen. Sich zu Fuß durch die Gegend zu bewegen, war nicht sein Ding. Einer der Gründe für sein schlaffes Aussehen. Es gab noch andere. Fiebig wollte sie sich nicht eingestehen. Jedenfalls hatte er das Autofahren nicht verlernt.
Beschwingt vom Anblick der Rothaarigen, von der er nicht einmal den Namen wusste, obwohl sie mindestens so lange wie er hier wohnte, beschloss er, einen kleinen Umweg zu fahren.
Er drehte die Scheibe hinunter, ließ die laue Frühlingsluft seine Glatze umspielen und fuhr hinauf zum Lichtscheid. Die dortige Tanke war meist einige Cent billiger als die Markentankstellen. Auch an der kleinen Kirche in der Nähe fuhr er noch vorbei. Die Seitenfassade zierte immer ein großes Plakat mit einem aufbauenden Spruch, meistens einem Bibelzitat. Fiebig war nicht religiös. Seit Jahren hatte er keine Kirche mehr von innen gesehen, aber diese Plakatwand sprach ihn an. In vierteljährlichen Abständen wurde sie von lokalen Künstlern gestaltet. Die rote Ampel neben der Kirche ließ ihn einen Augenblick verweilen und den Anblick des aktuellen Plakates genießen.
Er erinnerte sich noch an den letzten Spruch, in dem es um die Beziehung von Jenseits und Diesseits ging. Fiebig hatte nichts dagegen, dass man das Zitat inzwischen ausgetauscht hatte, schließlich musste er den Übergang zum Jenseits fast täglich aus der Nähe betrachten. Nach 40 Dienstjahren war das mehr als genug. Seine Seele zeigte Narben, und obwohl er den Beruf des Kriminalisten gerne ausübte, sehnte er seine Pensionierung herbei.
Noch war es nicht so weit. Wütendes Hupen hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken. Entschuldigend hob er die Hand und fuhr an. Die Ampel sprang gerade von Gelb erneut auf Rot.
Fiebig bog nach links ab und fuhr zur Stadt hinunter.
Er passierte den Sportplatz an der Oberbergischen Straße und neidisch sah er, wie sich Jugendliche für den Schulsport warm machten – so agil wäre er auch gerne noch.
Im Tal musste er erneut einen Umweg fahren, denn die direkte Zufahrt zum Polizeipräsidium war wegen der Dauerbaustelle an der Bahnunterführung noch immer gesperrt. Das brachte ihn in den Genuss eines weiteren Bibelspruches an einer Hausfassade: »Bereite Dich darauf vor, Deinem Gott zu begegnen (Amos 4,12)«, las er.
»Ich habe keinen eigenen Gott«, knurrte er vor sich hin. »Wenn ich aber mal irgendeinem begegnen sollte, würde ich ihn fragen, ob es ihm eigentlich Spaß macht, die Welt in den Abgrund zu stürzen.«
Die Vorstellung einer solchen Begegnung ließ ihn schmunzeln. Er beschloss, den heutigen Tag locker angehen zu lassen und ausnahmsweise nicht mit seiner Umwelt zu hadern.
Beschwingt betrat er sein Büro im zweiten Stock des Präsidiums und fand seine Mannschaft vollständig versammelt vor. Als Chef des KK 11 besaß er natürlich das größte Zimmer, das gleichzeitig als Besprechungsraum diente.
Alle hatten sich zwischenzeitlich mit Kaffee versorgt. Dass Fiebig als Letzter kam, war ungewöhnlich. Die Gespräche verstummten. Elke schob ihm den Stapel neuer Vorgänge zu, die in der Nacht angefallen waren und die von der Kriminalwache im ersten Angriff bearbeitet worden waren. Ein anderer füllte Fiebigs Kaffeetasse auf. Alle warteten auf eine Erklärung für sein Zuspätkommen.
Fiebig grinste nur. Ohne sich zuvor die neuen Anzeigen anzuschauen, schmiss er sie quer über den Tisch einem nach dem anderen zu. »An die Arbeit«, verkündete er und klatschte dabei in die Hände.
Verwundert verließen die Kollegen sein Büro.
Elke blieb sitzen.
»Was ist los?«, fragte sie. So guter Laune erlebte sie ihren Chef selten. Sein Verhalten hatte fast etwas Kindliches.
»Es muss sich etwas ändern«, erklärte Fiebig.
»Ach ja? Dass du hier nicht mehr Chef sein willst, oder was?«
»Nein, ganz allgemein. Ich muss meine Mitte wiederfinden.«
Elke Fassbender war die Einzige im Kommissariat, mit der Fiebig überhaupt Privates besprach. Er hatte sie als seine Stellvertreterin auserkoren. Offiziell war die Stelle vakant. Sie musste noch ausgeschrieben werden und dann erst konnte Elke sich bewerben. Beide hofften natürlich, dass sie auch den Zuschlag bekäme.
»War was Wichtiges bei den Eingängen dabei?«, wechselte er das Thema. Natürlich wusste er, dass Elke alles gesichtet hatte. Wenn er etwas hätte wissen sollen, hätte sie es gesagt.
Sie schüttelte nur den Kopf.
»Gut«, sagte Fiebig, »dann übergebe ich dir die Amtsgeschäfte für ein oder zwei Stunden. Ich muss zu einer Verabredung.«