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Kapitel 2

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Lars Lombardi hing noch immer bei der Lokalzeitung fest. Seine Bewerbungen bei der »Zeit«, der »Süddeutschen« und anderen großen Zeitungen waren bisher erfolglos geblieben. Es war nicht einfach, aus der Masse der schreibenden Zunft herauszustechen und sich mit außergewöhnlichen Reportagen zu empfehlen. Darauf nämlich hatte er sich spezialisiert. Reportagen zu bewegenden Themen, die auch überregional beachtet würden. Hier in Wuppertal passierte allerdings kaum etwas, was die übrige Welt interessierte. Eine Ausnahme stellte vielleicht die letzte Woche dar. Seine Berichte über diesen hoffnungsvollen Schatzsucher aus Sachsen, der hier das verschollene Bernsteinzimmer finden wollte, wurden sogar von anderen Zeitungen übernommen.

Anfangs hatten sich auch die Stadtoberen begeistert gezeigt. Sie erlaubten dem Mann, Tunnel und Bunker zu durchsuchen, ließen sich mit ihm zusammen für die Zeitung ablichten. Sie waren stolz, dass Wuppertal mal wieder in den überregionalen Medien mit so einem aufregenden Thema auftauchte.

»Das legendäre Bernsteinzimmer in Wuppertal wiedergefunden«, was für eine Schlagzeile. Dumm nur, dass sie auch nach tagelangem Suchen nicht wahr wurde. Langsam dämmerte den Stadtfürsten, dass sie sich lächerlich machten. Der Verwaltungschef gab schließlich die Devise aus: »Stoppt diesen Unsinn! Keinerlei Hilfe mehr für den ominösen Schatzsucher.«

Obwohl der eindringlich schilderte, warum er unter der Hardt fündig werden könnte. Man glaubte ihm nicht mehr und blieb bei dem Entschluss, seine Aktionen zu beenden.

Lars Lombardi hatte Heinz-Günther Kotthausen auf seiner Suche begleitet und insgeheim gehofft, dass sie Erfolg haben würden. Sein Verstand und seine Internetrecherche sagten ihm aber anderes, denn seit Jahrzehnten jagten unzählige Forscher und solche, die sich dafür hielten, dem verschollenen Bernsteinzimmer hinterher. Lars wollte diese Geschichte nicht weiterverfolgen. Er suchte gerade eine andere in der Notaufnahme des Klinikums. Viel war dort nicht los. Im Wartebereich für Patienten saß er mit der Krankenschwester Carola allein. Er flirtete sie an und die junge Frau ging darauf ein. Der Journalist war ihr sympathisch. Sie meinten es ja beide nicht ernst. Lars hatte sich für diese Nacht mehr versprochen. Nichts Amouröses, vielmehr spektakuläre Verletzungen, Dramen, Schicksale, über die er berichten wollte. Bisher war allerdings nur ein Pizzabäcker aufgetaucht, der sich die Hand verbrannt hatte. Ein junger Mann erschien mit gebrochenem Arm. Hatte er sich beim Badmintonspiel zugezogen. Wollte nicht weiter darüber reden. Die Polizei brachte eine Frau vorbei, deren geschwollenes Gesicht von einem häuslichen Drama erzählte. Sie selbst blieb stumm. In dieser Hinsicht war es bisher ein langweiliger Abend gewesen, der keine Geschichte zuließ, die sein Journalistenherz höherschlagen ließ.

Es war kurz vor Mitternacht, als Lars seinen x-ten Kaffee austrank und beschloss, nach Hause zu fahren. Er wollte sich gerade auf den Weg machen, da stürmte ein Mann herein. Blutverschmiert, das eine Ohr seltsam verformt ließ er sich ächzend auf einen Stuhl fallen. Doch nicht nur sein Anblick ließ Lars erschaudern. Er kannte den Mann.

Schließlich hatte er ihn, Kotthausen, in den letzten Tagen mehrfach interviewt und auf seinen Exkursionen begleitet. Bevor er sich aus seiner Erstarrung lösen konnte, hatte Schwester Carola schon den Arzt gerufen, einen Rollstuhl herangezogen und den Verletzten in den Behandlungsraum geschoben. Lars wollte hinterher, doch die Schwester verwehrte ihm den Zutritt. Der Mann winkte ab.

»Lassen Sie ihn mitkommen«, murmelte er, bevor seine Augäpfel nach oben kippten und er in die Bewusstlosigkeit abzudriften drohte.

»Na, na, ist doch gar nicht so dramatisch. Fehlt nur ein Stück vom Ohr. War das ein Hund, oder was? Ne … sieht nicht so aus …«

Während er an seinem Patienten herumwerkelte, redete der Arzt ununterbrochen, ohne eine Antwort hören zu wollen. »Wenn Sie das fehlende Stück mitgebracht hätten, könnte ich es wieder annähen.«

Unter der Wirkung einer Beruhigungsspritze, der örtlichen Betäubung und Schwester Carolas Hand, die sanft seinen Kopf streichelte, kam Kotthausen langsam zurück ins Bewusstsein.

»So, die Blutung ist gestoppt und die Wunde vernäht. Jetzt legt die nette Schwester Ihnen noch einen Verband an und dann kann Ihr Sohn Sie nach Hause fahren.«

Dabei schaute der Arzt Lars an. Der berichtigte ihn nicht.

Er half Kotthausen in die Senkrechte und stützte ihn beim Rausgehen.

»Ich vermute, das war ein Metallsplitter, der das halbe Ohr abgerissen hat. Das macht Sie zwar nicht attraktiver, aber Ihr Gehör ist noch intakt. Sie sollten das als Arbeitsunfall melden«, gab der Arzt ihnen noch mit auf den Weg.

Lars platzte vor Neugier. Er hielt sich aber zurück und bugsierte Kotthausen in seinen Wagen und fuhr ihn zu seinem Hotel. Bei seiner Schwester hatte der Verletzte nicht mehr wohnen wollen. Sie löchre ihn den ganzen Tag mit Fragen und rede ihm auch sonst zu viel.

Lars setzte den noch leicht benebelten Mann im Foyer in einen Sessel, schwatzte dem Nachtportier zwei Flaschen Bier ab und hoffte, damit Kotthausens Zunge zu lockern.

»Was ist Ihnen passiert?«

»Ich glaube, es hat jemand auf mich geschossen.«

»Quatsch.«

»Kein Quatsch. Ich wollte in die Hardt-Kaverne einbrechen. Dann hab ich so ein Blitzen gesehen. Plötzlich knallte es und mein Ohr war weg.«

»Wieso Hardt-Kaverne? Die ist doch erst in den 60er-Jahren gebaut worden. Da kann doch nicht Ihr Bernsteinzimmer versteckt sein. Wussten Sie das nicht?«

Der Mann seufzte, nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche.

»Weiß ich doch«, sagte er. »Beim Sprengen des Felstunnels wurde aber eine weitere Höhle entdeckt und die ist möglicherweise mit dem bereits bekannten Höhlenlabyrinth weiter oben im Berg verbunden.«

»Und da wollten Sie suchen?«

»Es muss doch einen Grund geben, warum man mich da nicht reinlassen wollte.«

»Und jetzt sogar mit Waffengewalt daran hindert«, lachte Lars. Wer wusste schon, wobei der Mann sich das halbe Ohr abgerissen hatte.

»Ich erzähle keinen Unsinn. Das war ein Schuss.«

»Ja, gut«, erwiderte Lars. Er glaubte ihm nicht. »Warum sollte denn jemand auf Sie schießen?«

Der Mann antwortete nicht. Er setzte die Flasche an und trank sie in einem Zug aus. Seine Hand wanderte tastend zu seinem bandagierten Ohr. Der halbe Kopf war mit dem Mull umwickelt.

Sieht aus wie DJ Ötzi mit seinem weißen Käppi, schmunzelte Lars in sich hinein, behielt den Kommentar aber lieber für sich. Er musste wegschauen, sonst hätte er nicht an sich halten können.

»Ich hab die Schnauze voll«, murmelte Kotthausen. »Ich pack meine Sachen und fahre nach Hause.«

»Und das Bernsteinzimmer?«

»Ist mir im Augenblick egal. Ich hau erst mal ab.«

»Sollen wir nicht lieber die Polizei informieren?«

Lars griff schon nach seinem Handy.

Ein scharfes »Nein!« ließ ihn stoppen.

»Mit der Polizei will ich nichts zu tun haben.«

Kotthausen schaute Lars direkt an.

»Lassen Sie mich einfach in Ruhe. Ich verschwinde aus eurem ungastlichen Wuppertal und damit ist die Sache erledigt. Vorläufig«, murmelte er noch vor sich hin.

Unschlüssig stand Lars auf.

»Wenn Sie meinen. Ich wünsche Ihnen jedenfalls alles Gute.«

Eine merkwürdige Geschichte, dachte er, als er in seinem Wagen saß. Die letzten Stunden in der Notaufnahme hatten nicht viel Stoff für eine Geschichte ergeben. Vielleicht würde aus der ergebnislosen Schatzsuche doch noch eine?

Lars startete und fuhr zum Hardtufer. Der Tunneleingang war leicht zu finden. Nur wenige Meter von der Straße entfernt blinkte eine helle Metalltür im Mondlicht. Sie war zwar mit diversen Graffiti beschmiert, sah aber relativ neu aus.

Lars parkte den Wagen. Weit und breit war niemand zu sehen. Aus dem Handschuhfach kramte er seine Taschenlampe hervor und ging hinüber.

Ein Rucksack und eine Akkubohrmaschine lagen im Gestrüpp vor dem Eingang. Nachdem er sich die Tür genau angesehen hatte, glaubte er dem Mann aus Leipzig: zwei Dellen, die ganz nach Einschüssen aussahen. Mit seinem Smartphone fotografierte er alles und packte die zurückgelassenen Sachen ein.

Im Rucksack fand er eine Art Tagebuch. Eine interessante Lektüre. Seine Neugier war größer als der Respekt vor den fremden Gegenständen. Er verstand nun, warum Kotthausen von dem Gedanken beseelt war, das Bernsteinzimmer in Wuppertal zu finden.

Anscheinend hatte der NS-Scherge Erich Koch noch Verwandte in Wuppertal. Koch war Gauleiter in Ostpreußen und der Ukraine gewesen. Anfang 1945, die russischen Truppen stießen immer weiter vor, setzte er sich Richtung Westen ab und tauchte unter. Erst 1950 spürte man ihn auf, lieferte ihn an Polen aus. Dort saß er bis 1986 im Gefängnis, wo er verstarb.

Kotthausens Aufzeichnungen waren lückenhaft. Unzureichend recherchiert, mehr spekulativ als mit Tatsachen unterlegt. In seinen Tagebuchseiten fand Lars eine aus der Zeitung ausgeschnittene Todesanzeige einer Elisabeth Koch, verstorben 2015. Ihre letzte Wohnanschrift lag ganz in der Nähe von Kotthausens eigener ehemaliger Wohnung in Cronenberg. Eine schlichte Anzeige, ohne Spruch, ohne der Abbildung eines trauernden Engels oder einer anderen Trauersymbolik. Nur der Name, die Anschrift und das Sterbedatum waren verzeichnet, darunter der kurze Satz »Ich vermisse Dich, Klaus-Jürgen«, ohne Nachname.

Aus einer Notiz ging hervor, dass Kotthausen vermutete, dass dieser Klaus-Jürgen der Sohn Elisabeths war und damit ebenfalls mit Nachnamen Koch heißen müsste. Faktensicher nachvollzogen hatte er das nicht. Er hatte lediglich festgestellt, dass kein Klaus-Jürgen Koch unter der Adresse seiner Mutter gemeldet gewesen war.

Als Tatsache anzusehen war nur, dass sich das Bernsteinzimmer im Königsberger Schloss befand, bevor das von den Engländern bombardiert wurde. Das Schloss wurde weitgehend zerstört, das Bernsteinzimmer war verschollen.

Bevor Koch aus Königsberg verschwand, raffte er seine geraubten Kunstschätze zusammen. 64 Kisten mit Gemälden und 27 Kisten, in denen sich das demontierte Bernsteinzimmer befand, wurden auf die Bahn verladen und gen Westen transportiert. Koch kannte sich mit der Eisenbahn aus, hatte noch viele Verbindungen aus früherer Zeit. Er war geborener Wuppertaler, damals noch Elberfeld, hatte lange dort gewohnt und war bei der Eisenbahn angestellt gewesen, bevor er später als Nazi Karriere machte. Kotthausen folgerte daraus, dass Koch sich in seiner Heimatstadt Wuppertal, in der er sich auskannte, ein geeignetes Versteck für das Bernsteinzimmer suchte, auf das er nach einem beendeten Krieg zugreifen könnte. Weit über hundert Tunnel und Bunker boten sich dafür an.

Seine weiteren Ausführungen folgten:

Jahre vor Beginn des Krieges lebte Göbbels in Wuppertal.

1924 arbeitete er dort als Redakteur des Gaukampfblattes »Völkische Freiheit«.

Schon früh war er glühender Anhänger der NSDAP gewesen und großer Bewunderer Hitlers. Er holte ihn mehrmals in die Stadt und ließ ihn hier bejubelte Auftritte absolvieren.

1926 notierte er in seinem Tagebuch: »Hitler seit zwei Tagen hier. Ein grauenvolles Warten auf ihn. Mit Jubel empfangen. Unter Begeisterung vorgestern in Elberfeld.«

In den folgenden Jahren baute Göbbels Elberfeld, das erst 1929 mit anderen Gemeinden zur Stadt Wuppertal vereint wurde, zu einer Hochburg der NSDAP aus. Bevorzugter Treffpunkt war damals das Evangelische Vereinshaus an der Kasinostraße. Heute hat dort ein Altenheim seinen Sitz. Prominente Nazi-Größen fanden sich im Vereinshaus als Redner ein, unter ihnen auch Erich Koch, der spätere Gauleiter Ostpreußens.

Das alles ließ Kotthausen zu dem Schluss kommen, dass der aus Wuppertal stammende Koch das Bernsteinzimmer geraubt hatte, um es hier für eine glorreiche Nachkriegszeit zu verstecken. Gesinnungsgenossen, die ihm dabei geholfen haben könnten, habe es in der Stadt zur Genüge gegeben.

Aber warum vermutet er es dann ausgerechnet in der Hardt-Kaverne, die doch erst 1960/61 gebaut wurde?, fragte Lars sich. Insgesamt empfand er Kotthausens Aufzeichnungen als sehr dürftig, nicht gut recherchiert und nicht an entscheidenden Stellen nachgehakt. Was war zum Beispiel mit diesem ominösen Klaus-Jürgen? War der tatsächlich ein Enkel des NS-Mannes Koch, vorausgesetzt die verstorbene Elisabeth wäre Kochs Tochter gewesen? Könnte der es gewesen sein, der auf Kotthausen geschossen hatte? Und wenn ja, warum?

Lars klappte das Tagebuch zu.

Man müsste tiefer graben, dachte er, vielleicht wird doch noch eine großartige Geschichte daraus. Zunächst galt es, in die Kaverne zu gelangen, um zu sehen, was dort wirklich zu finden war.

Mit der Überlegung, wer ihm dabei behilflich sein könnte, ging er zu Bett.

Begraben in Wuppertal

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