Читать книгу Begraben in Wuppertal - Jürgen Kasten - Страница 6

Kapitel 1

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Viele Jahre später konnte Heinz-Günther Kotthausen trotz der tragischen Ereignisse von damals auf ein erfülltes Leben zurückblicken. Wenn er durch seine alten Fotoalben blätterte, sah er eine glückliche Kindheit und Jugend in Cronenberg, dem abgelegenen Stadtteil Wuppertals, das an die Nachbarstädte Remscheid und Solingen grenzte. Dort oben auf dem Hügel, umgeben von Wäldern, lebte ein kriegerisches Bergvolk. So spotteten etliche Elberfelder, die sich und ihren Stadtteil als die Metropole Wuppertals betrachteten. Dass die Barmer im Osten des Tals für sich das Gleiche einforderten, scherte sie wenig. Die Cronenberger jedoch fühlten sich erhaben über alle. Dort wuchs Kotthausen auf, dort ging er in den Kindergarten, in die Schule, machte eine Lehre als Maschinenschlosser in einer der zahlreichen kleinen Werkzeugfabriken. Jetzt war er Pensionär, denn er hatte im Abendstudium das Abitur nachgeholt und danach auf Lehramt studiert.

Ein Mann von Welt sah anders aus. Mit seiner abgewetzten Cordhose, der zerknitterten Jacke und den stumpfen Lederschuhen gab er den Anschein einer schludrigen Person. Die bunten Flecken auf seinem Pullunder vervollständigten diesen Eindruck. Sie verrieten seine letzte Mahlzeit: irgendetwas mit Tomatensoße. Die zu langen grauen Haare hingen ihm in die Stirn, die Brille saß schief auf seiner großen Nase. In früheren Jahren war er Bartträger gewesen. Das machte ihn alt, entschied er irgendwann und rasierte ihn ab. Seine jetzige Erscheinung ähnelte dem Klischee eines zerstreuten Professors, würde so mancher sagen und läge damit ja nicht ganz falsch.

In Wahrheit war seine korrekte Berufsbezeichnung: Grundschullehrer. Als solcher blieb er in Cronenberg haften, lernte dort seine Frau kennen und verlor sie später in Elberfeld vor dem Amtsgericht im Rahmen eines Scheidungsprozesses. Er hatte immer geglaubt, dass sie eine glückliche Ehe führten. Seine Frau war offensichtlich anderer Ansicht. Nach fast 30 Jahren verließ sie ihn – und stieß ihn damit vor den Kopf.

Im weiteren Leben war es das Arbeiten, das ihm Halt und Zufriedenheit bot, wie zuvor auch schon. Das war es ja, was seine Frau ihm vorgeworfen hatte. Seine Arbeit.

Dabei endete seine Tätigkeit als Lehrer bereits am frühen Nachmittag. Er übte sie mit Leib und Seele aus. Doch das war ihm nicht genug. Mindestens an drei Nachmittagen der Woche kümmerte er sich auch noch um das Seelenheil der Nachbarn, die vom Leben überfordert zu sein schienen. Und um deren vernachlässigte Kinder, damit die wenigstens einigermaßen den schulischen Anforderungen genügten. Eigene Kinder hatte er nicht.

Seine Frau kam erst an zweiter oder dritter Stelle, denn er brauchte ja auch noch Zeit für sein Hobby: verschwundenen historischen Schätzen auf die Spur zu kommen – bisher ohne nennenswerten Erfolg.

Was an dieser Leidenschaft, diesem Eifer verkehrt sein sollte, verstand er nicht und seine Frau verstand ihn nicht.

Jetzt war sie weg, lange schon.

Ohne Wehmut richtete Kotthausen sich auf ein Leben ohne Frau ein, was ihm nur anfangs schwerfiel. Seine Wäsche hatte er nun allein zu waschen. Kochen musste er lernen. Er beschränkte sich auf Eintöpfe. Als ihm sein Speiseplan zu eintönig wurde, bediente er sich bei »Essen auf Rädern«.

Auch das gehörte nun der Vergangenheit an. Direkt nach seiner Pensionierung kehrte er Cronenberg den Rücken. Zurück blieben verblasste Erinnerungen und seine betagte Schwester, die allein das Haus ihrer verstorbenen Eltern bewohnte.

Mitte der 2000er-Jahre war Kotthausen dem Ruf einer Werbekampagne gefolgt, die sich findige Leipziger Stadtväter ausgedacht hatten. Sie warben um neue Einwohner und lockten mit billigen altengerechten Wohnungen. Nun also wohnte Kotthausen in Leipzig, hatte sich in ein generationsübergreifendes Wohnprojekt eingekauft und frönte dort seinem Hobby. Auf den Visitenkarten, die er sich drucken ließ, stand »Historiker«. Als solcher besuchte er bereits vor einigen Jahren seine alte Heimatstadt Wuppertal. Damals blieb sein Suchen ergebnislos. Nun aber glaubte er, neue Beweise zu haben.

Das legendäre, seit dem Kriegsende aus Königsberg verschwundene Bernsteinzimmer zog ihn zurück in das Tal der Wupper. Mehr denn je war er davon überzeugt, dass es sich irgendwo in der Stadt verbergen musste. Bisher war die Suche nicht von Erfolg gekrönt. Doch vielleicht hatte er hier, im letzten noch nicht durchsuchten Tunnel Glück. Die Hardt-Kaverne und das weitverzweigte Höhlenlabyrinth schienen ihm der richtige Ort zu sein.

*

Die schweißnass auf der Stirn klebenden Haare schob er zum wiederholten Mal beiseite. Ratlos schaute er auf den vor ihm liegenden Tunneleingang.

Sah nur wie eine leichte Metalltür aus. Doch wo auch immer er den Hebel ansetzte, es bewegte sich nichts. Handwerkliches Geschick war ihm trotz seiner früheren Ausbildung nicht gegeben. Wütend trat er gegen das störrische Eisending.

Vielleicht könnte er die Hebelwirkung erhöhen, wenn er sich auf das Stemmeisen stellte? Immerhin brachte er knapp 100 Kilo auf die Waage. Er bückte sich, um das Eisen an der unteren Türkante anzusetzen. Ein trockener Knall ließ ihn überrascht aufschauen. Bewegte sich die Tür schon?

Nee, keinen Millimeter rührte sie sich.

Ein Motorrad schoss unten auf der Straße vorbei. War wohl eine Fehlzündung gewesen, die er gehört hatte.

Schnaufend richtete er sich wieder auf, stützte sich mit einer Hand an der Tür ab, wischte mit der anderen noch einmal Schweiß von der Stirn. Hilfesuchend blickte er zum Vollmond hinauf. Der ihn umgebende Nebel verlieh der gelben Scheibe das Aussehen eines in der Luft hängenden Spiegeleis. Hilfe konnte er von dort nicht erwarten. Dafür bemerkte er ein wackeliges Licht, das sich langsam näherte. Ein nächtlicher Radfahrer schlingerte das Hardtufer entlang, kam auf ihn zu. Er verdrückte sich in den Schatten eines Ginsterbusches.

Das Sirren des Stahlgerüstes über der Wupper kündigte eine Bahn an. Sie verließ gerade die Station am Landgericht. Mit wenigen Nachtschwärmern an Bord rollte sie vorbei. Kurz wanderten Lichtvierecke durch die Dunkelheit. Das leise Rattern verklang.

Kotthausen sah sich um. Er war wieder allein. Nervös schaute er auf die Uhr. Bis wann fährt die verdammte Schwebebahn eigentlich? Er hatte doch sowieso nur noch die halbe Nacht vor sich. Nicht einmal das. Spätestens gegen sechs würde es langsam hell werden. Bis dahin wollte er fertig sein.

Leise schimpfte er vor sich hin, verfluchte die uneinsichtigen Amtsböcke, die seinen Argumenten nicht folgen wollten. Wieso verstanden sie nicht, dass es für ihre Stadt eine Touristenattraktion wäre, wenn er hier endlich fündig würde. Aber nein, die Stadtoberen standen nicht mehr hinter ihm. »Ihre Aktionen werden ab sofort nicht weiter unterstützt«, hatte ihm der Oberstadtdirektor kategorisch mitgeteilt. Auf eine Diskussion hatte er sich nicht eingelassen. Stattdessen hatte er Kotthausen mit einem laschen Händedruck und einem schiefen Lächeln verabschiedet. Das war’s dann.

So schnell werdet ihr mich nicht los! Kotthausen wollte sich nicht unterkriegen lassen und hatte sich zu dieser nächtlichen Aktion entschlossen.

Noch einmal bückte er sich hinunter, kramte in seinem Rucksack. Vielleicht könnte er mit der Akkumaschine das Schloss dieser verdammten Tür aufbohren.

Erschrocken zuckte er zusammen. Sein Handy meldete sich.

Er nestelte es aus der Seitentasche seiner Jacke. Da flutschte es ihm aus der Hand. Als er danach griff, streifte er eine Brennnessel. Verdammter Mist. Die Haut brannte wie Feuer. Er spuckte darauf und verschmierte den kühlenden Schleim. Das leuchtende Display zeigte eine SMS an. Ungläubig las er den kurzen Text:

Verpiss dich aus unserer Stadt, sonst …

Der Absender war unterdrückt.

Langsam richtete er sich auf, schaute vorsichtig umher. Die Straße lag ruhig und leer unter ihm. In dieser lauen Frühlingsnacht hatten die Menschen anderes zu tun, als ihre Autos durch die Gegend zu schaukeln. Lediglich von der B 7 klangen Motorengeräusche herüber.

Ansonsten vernahm er nur das leise Plätschern der Wupper.

Beruhigt wandte er sich wieder seinem Vorhaben zu.

Er spannte einen Metallbohrer in die Maschine und setzte den Akkuschrauber an. Kreischend traf Metall auf Metall. Ein dumpfes »Knack«, der Bohrer brach ab.

»Verfluchter Mist!«

Er bückte sich, um nach einem anderen Aufsatz in seinem Rucksack zu suchen und schreckte im nächsten Augenblick herum. Diesmal hatte ihn der Glockenschlag der Pauluskirche zusammenzucken lassen. Um seinen heftigen Atem zu beruhigen, zählte er laut mit.

Dabei schaute er zum Turm hinüber und wartete auf den elften Schlag. Der bisher harmonische Gong klang verunglückt, fast wie ein Knall. Ein kurzes Blitzen zuckte am Turmfenster auf. Fast gleichzeitig ließ ihn ein hartes metallenes Geräusch hinter ihm an der Tür erstarren, ein Kreischen, dicht an seinem Kopf.

Er schrie vor Schmerz auf, hörte plötzlich nichts mehr.

Tot, dachte er, ich bin tot. Mit zitternden Knien sank er ins bodendeckende Grün, saß inmitten der Brennnesseln. Die spürte er nicht. Nur das heiße Nass, das ihm am Hals hinunterlief.

Seine Hand tastete zum Ohr. Matsch. Er fühlte warme, nasse Matsche. Ihm wurde schlecht, schwindelig. Heftiger Atem ließ seinen Brustkorb pumpen. Auf allen vieren rappelte er sich hoch, wankte zu seinem Auto, das unten an der Straße stand. Rucksack und Werkzeug blieben zurück. Mit zitternden Fingern startete er und fuhr schlingernd los.

Begraben in Wuppertal

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