Читать книгу Soulac sur Mer - Das Fanal - Jürgen Nottebaum - Страница 6
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ОглавлениеThomas Moulin, erster und einziger Kriminalkommissar in Soulac, lehnte sich auf seinem Bürostuhl zurück. Die Lehne gab unter dem Druck nach, und er verschränkte seine Hände hinter dem Nacken. Während er Rücken und Schultern durchdrückte, schloss er seine Augen. Ein wohliger Schauer durchlief ihn. In dem Moment konnte er nicht sagen, ob es lediglich die Dehnübung war, die ihm so gut tat, oder ob es nicht doch die Gedanken waren, denen er gerade nachgehangen hatte. Gedanken an eine hübsche junge Frau, die er vor längerer Zeit kurz einmal in der Pizzeria „Chez Gonzo“ in l’Amélie gesehen hatte. Diese diskret aufzuspüren hatte einen Teil seiner kriminalistischen Aktivitäten im letzten Jahr ausgemacht.
Obwohl sein Dienstantritt in Soulac sehr spektakulär begonnen hatte, war das Leben des Kriminalkommissars für den Rest des Jahres beschaulich und ruhig verlaufen. Vor einem Jahr war er nach Soulac sur Mer auf seine erste Stelle nach der Ausbildung versetzt worden. Gleich zu Beginn seiner Tätigkeit hatte er einen verzwickten Fall zu lösen gehabt, den er nur mit Hilfe des pensionierten ehemaligen Kriminalbeamten und Urlaubers Gérard Bréton letztlich hatte lösen können.
Um sich bei diesem zu bedanken hatte er Bréton und dessen Frau, das „Cremeschnittchen“, wie Bréton seine Frau zu nennen pflegte, in die Pizzeria eingeladen. Dort war plötzlich eine auffällig schöne Kundin aufgetaucht und hatte bei dem Pizzabäcker Sylvain zwei Pizzen zum Mitnehmen in Auftrag gegeben.
Spontan hatte Moulin sich im Stillen gewünscht, derjenige zu sein, für den die zweite Pizza bestellt wurde. Da die Frau an der Ausgabe im Gastraum wartete, hatte er, Moulin, viel Zeit gehabt, sie trotz seines Gesprächs mit Bréton zu beobachten. Dies musste er wohl sehr auffällig getan haben.
Sylvain, der Pizzabäcker wirbelte in seiner Pizzabackstube. Mit hoch gezogenen Schultern, abgewinkelten Ellenbogen und tief nach vorne über den Tisch gebeugt, breitete er die Pizzaböden aus und verteilte in sehenswerter Geschwindigkeit Tomatensoße, Käse sowie die jeweils gewünschten Zutaten darauf aus. Zwischendurch zauberte er dann und wann ein fröhliches Lächeln auf sein wettergegerbtes Gesicht. Die Stirn unter dem lockigen schwarzen, allerdings inzwischen von einigen grauen Fäden durchzogenen Haar legte er bei seiner Arbeit vor lauter Konzentration in Falten, während er die Temperatur und den Zustand der im Ofen befindlichen Pizzen kontrollierte.
Ihm war tatsächlich aufgefallen, dass der Gast auffällig oft zu seiner Kundin herüberblickte. Es machte ihm Spaß, den Gast spitzbübisch anzulachen und, ohne dabei seine geschäftige Pizzazubereitung zu unterbrechen, mit aufmunternden Kopfbewegungen aufzufordern, Kontakt mit der jungen Dame aufzunehmen. Gleichzeitig aber sah Moulin auch, dass die Inhaberin des Restaurants, deren Augen ständig wachsam durch den Restaurantbereich schweiften, ihn missbilligend beäugte. Madame Gonzo, vor über 30 Jahren aus Neapel gekommen und seitdem in Soulac ansässig, war im Grunde ihres Herzens eine typische italienische Mamma geblieben. Aber sie sah einfach alles. Schließlich blieb ja auch, wie sie es sah, die ganze Verantwortung an ihr hängen. Madame musste auf das Geld aufpassen, auf ihren Sylvain achten, das Wohl der Gäste im Auge haben und das Personal antreiben.
Sie scheuchte die jungen Kellnerinnen mit knappen Gesten und Blicken durch das Lokal, dass diesen kaum einmal Zeit zum Durchatmen blieb. Mamma Gonzo war sowieso der Ansicht, dass die jungen „Dinger“, wie sie die Mädchen insgeheim nannte, tagsüber viel zu viel Zeit hatten, am Strand herumzulungern und mit den jungen Burschen zu flirten. Und wie die zur Arbeit erschienen! Knappe enge längs gestreifte Hosen, dazu Oberteile, die an Schicklichkeit in ihren Augen erheblich zu wünschen ließen.
In seiner Schüchternheit hatte der Kommissar die Gelegenheit zunächst verstreichen lassen, was ihn in der Folgezeit aber zu kriminalistischem Eifer angespornt hatte, denn die Gedanken an die schöne Frau gingen ihm einfach nicht aus dem Kopf. Er wollte sie gerne näher kennen lernen.
Schließlich hatte der Kommissar sie gefunden. Ihr gehörte in Soulac sur Mer die Weinhandlung ‚Les Caves du Prince Noir‘. Moulin hatte sich in seiner Schüchternheit bemüht, unverfänglich vorzugehen. Obwohl er als gebürtiger Elsässer eigentlich lieber Bier trank, kaufte er fortan Wein im Les Caves du Prince Noir. So konnte er sie über einen längeren Zeitraum immer wieder sehen und kurz sprechen. Dabei waren die Gespräche allerdings höchst kurz und inhaltlich völlig neutral. Erst mit der Zeit, als im Winter das Geschäft ruhiger lief, kam es zu ausführlicheren Gesprächen. So ließ er sich ausführlich beraten und lernte nebenbei eine Menge über den Weinanbau im Medoc.
‚Caroll-Lynn‘. Ein zauberhafter Name. Er hatte ihn unter Umgehung der Dienstvorschriften schnell im Computer gefunden. Ein apart klingender ungewöhnlicher Doppelname, einfach hinreißend. Auch die anderen Informationen, die er zusammengetragen hatte, stimmten ihn froh. Sie war unverheiratet, und ihr Geburtsdatum kannte er auch. Vor gut zwei Wochen hatte er einen seiner Einkäufe genutzt, um sie unter Aufbietung all seines Mutes für den fünften Juni, dem Tag von „Soulac 1900“ zu einem Restaurantbesuch einzuladen. Ausgesucht hatte er auf Anraten von Gérard Bréton das Lokal ‚Aux Huitres Joyeuses‘ in Port de St. Vivien. Das Restaurant lag zwar etwa 20 Kilometer von Soulac entfernt, aber dort hoffte er, bei seinem ersten Rendezvous auf nicht allzu viele Soulacaiser zu treffen. Die waren ja in Soulac selbst beschäftigt.
Er stand aus seinem Sessel auf, trat vor den Spiegel, rückte seine Krawatte zurecht. Anzug, weißes Hemd, Krawatte und schwarze Halbschuhe waren sein Markenzeichen, wie er fand. Dass das halbe Polizeipräsidium sich über diese Steifheit amüsierte, war ihm noch nicht zu Bewusstsein gekommen. Ihm hingegen schien dieses Outfit am besten geeignet, seine Jugendlichkeit und berufliche Unerfahrenheit auszugleichen. Er wollte Würde ausstrahlen. Um 13.00 Uhr würde er, der Kommissar, sich auf der Strandpromenade bei der Freiheitsstatue mit einer bezaubernden Frau treffen.
In einem Anfall von Keckheit nickte er sich aufmunternd zu, erschrak aber sofort wieder. Ihm war selbst nicht ganz klar, ob es der Schreck über seine Keckheit war oder der Lärm der tutenden Dampflok, der in diesem Moment vom Bahnhof her durch das geöffnete Fenster seines Büros herüber schallte. Einen kurzen Moment lang schien es dem Kommissar, als ob er noch ein anderes Geräusch gehört hätte, das einer Explosion. Er blickte auf die Uhr. Es war 12.29 Uhr.