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Erdrückende Kompetenzübermacht

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Am 15. Mai, gut zwei Wochen vor dem Anpfiff zur siebzehnten Fußballweltmeisterschaft, erschien im Olympia-Verlag, Nürnberg, das kicker-Sonderheft WM 2002.

Das 188 Seiten umfassende Magazin beeindruckt noch mehr als seine Vorgänger. Es vereint all die bewährten Stärken, die aus einer langen Tradition und einem umfänglichen Fachwissen erwachsen, und zugleich übertrifft es in Inhalt und Erscheinung sogar den Klassiker, das jährliche Bundesligasonderheft. Wenn der Verlag jenem Produkt stolz attestiert, »für Fußballfans mittlerweile zum echten Kult-Objekt geworden« zu sein, so darf man dem WM-Heft getrost eine mindestens ähnlich mächtige Aura bescheinigen, eine Qualität, die es bald zum begehrten Sammlerobjekt werden läßt.

Sachliche Angemessenheit, journalistische Distanz, unbestechliche Urteile und Nüchternheit sind die Tugenden, derer sich kicker-Redakteure seit jeher befleißigen. Bereits der erste flüchtige Blick signalisiert, daß man auch bei der Fertigung des aktuellen Sonderheftes keinen Fußbreit von dieser Kardinalgesinnung abgewichen ist. Der Rückumschlag wird präsentiert von Krombacher, den Titel ziert auf erprobt rotem Hintergrund ein freigestelltes Bild des 1990er Weltmeisters Rudi Völler, der die »FIFA World Cup Trophy« in die Höhe stemmt – eine graphisch überzeugend prophetische Lösung, ein Eyecatcher bester, nämlich zweifellos unzweifelhaft eindeutiger Manier.

Diese klare Linie setzt sich auf jeder Heftinnenseite konsequent fort. Der seiner unerbittlichen Formulierungskünste wegen geachtete Chefredakteur Rainer Holzschuh läßt gleichfalls keine Zweifel an der Bedeutung des kommenden Großereignisses aufkeimen. »Liebe Leser«, beginnt sein Editorial, »kein Zweifel: Die 17. Fußballweltmeisterschaft nimmt einen außergewöhnlichen Platz in der Fußball-Geschichte ein. Das erste WM-Turnier in Asien, das erste in einem neuen Jahrhundert, dazu das erste von zwei Gastgebern. Es ist der Reiz der Veränderungen«, öffnet er uns mit elliptisch hämmernden Sätzen Augen und Ohren für Aspekte, die wir wahrzunehmen bislang nicht den Mut besaßen, und diskutiert auf knappstem Raum und babyblauem Papier gewandt den »völlig anderen Lebens- und Erlebens-Rhythmus«, der die Stätten der sportlichen Begegnungen beherrsche.

Wer aber ein Holzschuh, der ein Hegel, ein Dialektiker, der die Würze der Widersprüche schätzt: »Ganz anders unsere Nationalspieler, die auf ebenso gepflegtem Rasen antreten wie in München, Mailand oder Manchester«, und über die – dialektisch geforderte – dreifache Alliteration, den Inhaltsgleichschritt bei stabreimendem Anklang, über eine rhetorische Figur mithin, die vor Holzschuh nur ein Richard Wagner annähernd so geschickt zu handhaben verstand, findet Holzschuh zurück zur Appellation als der eigentlich sinnstiftenden Textart des Fußballjournalismus. Unmißverständlich gibt er für Völler und dessen Mannschaft das »Nahziel« aus, »mit Schwung und Kampfgeist das Vertrauen der Fans zurückzugewinnen«, um dann spätestens 2006 den Titel zu erringen.

Das Ringen um Gehalt, der Kampf um Größe: Nicht allein die imposant monomotivlichen Farbphotographien, die oft genialen Wort-Bild-Korrespondenzen (die Überschrift »Alles steht und fällt mit Käpt’n Keane« kommentiert eine Spielszene, in der um den aufrecht stürmenden irischen Spielführer herum alles fällt und liegt) und die biblische Flut an Fakten, an statistischem Material (Stadiongrößen etc.), historischen Daten (Qualifikationsergebnisse etc.) und Spielernamen (Zinedine Zidane etc.) machen das kicker-WM-Sonderheft zum unentbehrlichen Begleiter während vier aufregender Wochen. Zudem prägt dieses auch haptisch höchst passable Resultat eines gigantischen publizistischen Kraftaktes ein selten gewordenes Gefühl für die harmonische Komposition, ein, cum grano salis, klassizistisches Konzept mit zeitnaher Zielrichtung und knallbunten, dem objektiven Preßgeist geschuldeten Boulevardeinsprengseln. Im Abschnitt über die deutschen Gegner aus Gruppe E heißt es z. B.: »Kamerun – das sind nicht nur die ›unzähmbaren Löwen‹, es ist auch Patriotismus pur.«

Den Willen zur Innovation pur unterstreicht zumal die formale Klammer der zwei Spielpläne – vorne der reizvoll kolorierte und durch Bitburger-Bildchen verzierte zweiseitige Klappspielplan, hinten die einseitige Kadenz des WM-Kalenders. Dazwischen regiert der Gedanke der Synthese von »Pflicht-Informationsangebot« und sprachlicher Kür. Unter zahllosen journalistischen Topofferten wie Taktikschemen, Regelerläuterungen (»Jeder Spieler trägt im Verlauf des Turniers eine feste Nummer, […] die jeweils auf dem Rükken, der Brust und der Hose angebracht ist. Über der Rükkennummer ist der Familienname des betreffenden Spielers anzubringen«) und intimen Insidernews (Lizarazu, »der Vater eines Sohnes, ist ein begeisterter Surfer, auf dem Brett auf dem Atlantik genauso wie im Internet«) wären die Tabellen gesondert zu erwähnen: Exakte senkrechte schwarze Linien treffen auf graue Horizontalstriche, darüber liegt ein roter Querbalken mit beispielsweise der Zeile »Spieler, Tore, Noten«, und in den viereckigen Freiflächen tummeln sich ganz unterschiedliche Zahlen.

Diese Informationspolitik der Reichhaltigkeit ergänzt der abgeklärte Stil einfühlsamer Hintergrundberichte und Analysen, elaborierter Rückblicke und (Experten-)Prognosen. Sie bilden das seriöse Passepartout für Inseln der Lust am plastischen Ausdruck. Erst wo journalistische Dezenz obwaltet, kann der schmückende Wortwitz zu Höchstform auflaufen und in die philosophische Tiefe geflankt werden. »Das deutsche Team kurz vor der WM: Sicher ist nur, daß kaum etwas sicher ist«, weiß Wolfgang »Sokrates« Tobien und faßt im unverwechselbaren kicker-Substantivierungssound zusammen: »Mit seiner großen Popularität und Beliebtheit beschleunigte Rudi Völler den Wiedergewinn des öffentlichen Wohlwollens beim Neubeginn nach der EM 2000.«

Allen voran wirft Karl-Heinz Heimann sein Scheinwerferlicht mit erkenntnistheoretischer Verve und Spaß an der Formulierungsfreude auf sämtliche Phänomene des »Welt-Fußballs«. Ein paar Kostproben aus dem Einführungsessay müssen leider genügen: »Deutschland kann, wenn der Start gelingt und die Spieler ihr Selbstvertrauen finden, weiter kommen, als viele denken.« Oder: »Viel wird von den Schiedsrichtern abhängen.« Oder: »Die sportlich wichtigste aller Fragen heißt natürlich auch diesmal: Wer wird Weltmeister?«

Schon vor Beginn der Weltmeisterschaft bleibt festzuhalten: Der Ball läuft rund durch die Zeilen. »Der syntaktische Schaum« (S. 92), aus dem der adidas-WM-Ball »Fevernova« hergestellt wurde, seift das prächtige Extrablatt allseitig ein. Mit dem kicker-WM-Sonderheft hat der Olympia-Verlag eine weltmeisterliche Leistung abgeliefert. An diesem Wurf werden die Konkurrenten von Focus bis Fit For Fun schwer zu blättern haben, und sie werden angesichts der erdrückenden Kompetenzübermacht der kicker-Truppe ebenso ins Schwitzen geraten wie die Akteure auf den gepflegten Rasenflächen Südkoreas und Japans.

Fußball! Vorfälle von 1996-2007

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