Читать книгу Die Kestel Regression - Jürgen Ruhr - Страница 4
Prolog
ОглавлениеDer Mann in dem dunkelblauen Maßanzug schob seinen Nachtischteller von sich und wischte noch einmal sorgfältig mit der Serviette über den Mund. Wie immer war das Essen in dem gehobenen Privatclub ausgezeichnet gewesen, doch er hatte es heute nicht richtig genießen können.
Heute nicht.
Dafür brannte er zu sehr darauf, seinen Kollegen die sensationelle Neuigkeit endlich verkünden zu können. Eine Neuigkeit, auf die er nun seit über einem Jahr hinarbeitete. Eine Sensation, die ihn endlich zu den Koryphäen der Psychiatrie werden lassen würde und die ihm - hoffentlich früher als später - endlich die wohlverdiente Leitung der Klinik übernehmen ließe. Das, was er seinen Kollegen heute verkünden würde, dürfte einmalig in der Geschichte der Psychiatrie sein. Jedenfalls war ihm kein ähnlicher Fall bekannt.
Während er den Nachtischlöffel hob, um damit an sein Weinglas zu klopfen, blickte er sich in der Runde der Kollegen um. Normalerweise saßen sie hier zu zehnt an dem großen runden Tisch, doch heute fehlte ein Arzt, der als einziger von ihnen eine Praxis unterhielt und nicht in einer der psychiatrischen Kliniken arbeitete. Er dachte kurz an den Mann, doch der war nicht wirklich wichtig. Die wichtigen Ärzte saßen hier und würden jeden Augenblick staunend seine Neuigkeit zu hören bekommen. Sie trafen sich hier zweimal im Monat, um bei einem opulenten Mahl Gedanken auszutauschen und über Fortschritte in den Behandlungsmethoden zu sprechen.
Und heute war endlich sein Tag!
Während der Arzt sich langsam erhob, klopfte er mit dem Löffel gegen das Kristallglas. Augenblicklich wurde es still am Tisch und seine Kollegen schauten ihn fragend an. Er konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Dann wurde sein Blick ernst und wichtig, während er dazu ansetzte, die Neuigkeit zu verbreiten.
„Liebe Kollegen“, begann er seine zuvor einstudierte Rede und blickte lächelnd in die Runde. „Es ist mir eine Ehre, mit ihnen hier am Tisch sitzen zu dürfen. Und das schon seit meinem Eintritt in die Klinik vor einem Jahr.“
„Ein Jahr und zwei Monate“, unterbrach ihn ein Kollege und fügte hinzu: „Wir wollen doch bei genauen Angaben bleiben.“
Ein leises Schmunzeln ging um den Tisch und der Arzt klopfte noch einmal an sein Glas. „Ich glaube nicht, dass das wirklich eine Rolle spielt, Herr Kollege“, fuhr er fort und hielt den Blick auf den Mann gerichtet. Der Arzt, der ihn so rüde unterbrochen hatte, war bekannt dafür, ein Witzbold zu sein. Ein Franzose namens Mathéo Meunier, der vor zahlreichen Jahren von Frankreich an eine Privatklinik in Köln Hürth gewechselt war. Gerüchten zufolge kam der Mann einst nach Deutschland, als er hier die Liebe seines Lebens gefunden hatte. Meunier maß vielleicht einen Meter achtundsechzig und war ziemlich korpulent. Jetzt klopften die ‚Wurstfinger‘ des Kollegen einen imaginären Takt auf der Tischdecke und er blickte sehnsüchtig auf die Nachspeise, von der er kaum etwas gegessen hatte. Zweifelsohne war er von dem Arzt beim Essen gestört worden.
„Aber es ist natürlich korrekt: ein Jahr und zwei Monate“, seufzte der Arzt schließlich, um endlich zum Thema zu kommen: „Ich habe ihnen heute eine kleine Sensation zu berichten und bitte sie, mir ohne Unterbrechungen zuzuhören.“ Wieder blickte er Meunier an, während der schuldbewusst seinen Blick senkte.
„Wie sie ja alle wissen, habe ich die Behandlung des Patienten Tobias Kestel vor einem Jahr über...“, er unterbrach sich, blickte lächelnd auf den Kollegen Meunier und korrigierte seine Worte, „vor einem Jahr und zwei Monaten übernommen, als der geschätzte Kollege Fiemrer in den wohlverdienten Ruhestand gegangen ist. Ich hatte die Gelegenheit, mich umfassend einzuarbeiten und damals erkannte ich schon das Potenzial, das eine hochwertige Behandlung des Patienten bieten würde: nämlich die vollständige Heilung. Und nun endlich ist es soweit, ich bin stolz und glücklich, ihnen verkünden zu dürfen, dass es mir gelungen ist: Tobias Kestel kann als vollständig geheilt betrachtet werden. Damit wird in absehbarer Zeit seine Rückführung in das zivilisierte Leben stattfinden. Die Klinikleitung hat nach sorgfältiger Betrachtung meiner Therapieergebnisse dem uneingeschränkt zugestimmt. In wenigen Tagen werden zu diesem Thema einige von mir verfasste aussagekräftige Artikel in den führenden Arztmagazinen erscheinen. Ich pla...“
In diesem Moment wurde er durch Mathéo Meunier unterbrochen, der ihn entsetzt ansah. Auch die anderen Kollegen blickten skeptisch und so mancher schüttelte sorgenvoll den Kopf. „Herr Dr. Barters, das wird doch wohl nicht ihr Ernst sein? Ich habe die Geschichte des Tobias Kestel von Anfang an verfolgt und mich oft mit dem Kollegen Fiemrer besprochen. Eine Heilung, so wie sie sie erreicht haben wollen, ist einfach unmöglich.“
Dr. Barters schüttelte den Kopf: „Sie sehen das zu schwarz, Herr Kollege.“ Er betonte das ‚Herr Kollege‘ absichtlich abfällig, um zum Ausdruck zu bringen, was er von dem älteren Arzt hielt. Nämlich eigentlich nichts. „Meine Diagnose basiert auf zahlreichen Beobachtungen, Versuchen und Untersuchungen. Wie ich schon früh in meiner Praxisarbeit feststellen konnte, sind Menschen sehr wohl heilbar. Man muss an das Gute in ihnen glauben, ihnen Mut und Hoffnung geben und sie da...“
„Geschwafel“, unterbrach ihn Meunier erneut. „Auf was für Erfahrungen aus ihrer Praxisarbeit wollen sie sich stützen? Die Behandlung von Alkoholsüchtigen und hysterischen Hausfrauen? Das waren doch ihre Hauptaufgaben in der kleinen Praxis, oder irre ich mich? Und die Stelle in der Psychiatrie haben sie doch nur bekommen, weil ihr Herr Vater der Klinik eine größere Summe gespendet hat. Das können doch selbst sie nicht bestreiten.“
Barters spürte, wie sein Gesicht rot anlief und das machte ihn wütend. „Das tut hier nichts zur Sache, Herr Meunier“, wies er den Alten zurecht. „Die Stelle war vakant und ich der geeignetste Bewerber. Von etwaigen Spenden war mir nichts bekannt.“
„Natürlich nicht, Herr Kollege“, erwiderte Meunier süffisant. Dann aber fuhr er eindringlich und ernst fort: „Tobias Kestel ist eine tickende Zeitbombe. Eine Regression, also der Rückfall in alte Gewohnheiten, ist nahezu vorprogrammiert. Wie wollen sie das verhindern? Mit was für einer Therapie? Oder haben sie ihm das halbe Gehirn weggeschnitten und ihn auf diese Weise geheilt? Wenn sie den Mann auf die Menschheit loslassen, wird er in seine frühere Entwicklungsstufe zurückfallen und das wäre dann die Regression.“ Meunier schmunzelte trotz des Ernstes der Situation und fuhr fort: „Das wäre de facto ein GAR.“
„GAR?“ Barters sah den Kollegen fragend an.
„Eine größte anzunehmende Regression“, erklärte Meunier.
„Sie verkennen die Situation, Herr Meunier. Und sie reden Blödsinn, wenn sie von ‚GAR‘ reden. Meine Therapiemethode ist sicher und es wird keinen Rückfall Tobias Kestels geben.“
Meunier schüttelte den Kopf: „Nein, Herr Dr. Barters, sie verkennen die Situation. Sie verrennen sich da in etwas, das nicht kontrollierbar sein wird. Tobias Kestel ist nicht geheilt, er kann gar nicht geheilt sein. Sie sollten wenigstens noch die Meinung von mehreren Experten einholen, bevor sie solch einen schwerwiegenden Schritt tun und Kestel entlassen.“
Barters stellte das Weinglas abrupt auf den Tisch und warf den kleinen Löffel daneben. Dann richtete er seinen Zeigefinger auf Meunier. „Und einer dieser ‚Experten‘ wollen sie sein, richtig? Nein, nein mein Lieber. Meine Versuche und Beobachtungen sind abgeschlossen, Tobias Kestel ist geheilt. Das können selbst sie mit ihrem angeborenen Pessimismus nicht ins Negative wenden. Kann es nicht einfach nur sein, dass sie mir den Erfolg neiden? Selbst ein Stück vom Kuchen abhaben wollen? Dar...“
Wieder unterbrach ihn der ältere Kollege. Kopfschüttelnd meinte er: „Darüber sollten sie sich keine Sorgen machen, Herr Dr. Barters. Aber bedenken sie bitte auch, dass eine Regression des Patienten ihnen angelastet wird. Wollen sie solch ein Risiko eingehen? Wollen sie riskieren, dass Tobias Kestel erneut mordet? Erneut kleine Kinder zu Tode quält? Denken sie darüber einmal nach!“
„Tobias Kestel ist geheilt. In dieser Hinsicht brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Dies ist ein Fall, den sie nicht beurteilen können, denn ich habe den Patienten nun über ein Jahr therapiert. Ja, ich weiß: Ein Jahr und zwei Monate. Aber das war ich und nicht sie!“
Jetzt meldete sich ein anderer Kollege zu Wort und Barters überlegte, wie der Mann hieß. Es war unwichtig und der Name fiel ihm auch nicht ein. Unwichtig.
„Herr Dr. Barters“, begann der Arzt, dessen Namen mit ‚H‘ anfangen musste. Barters hörte ihm kaum zu. Wie kam es, dass sich plötzlich alle gegen ihn wandten? War es wirklich der pure Neid? Gönnte ihm denn niemand diesen bahnbrechenden Erfolg?
„Herr Dr. Barters. Ich glaube im Namen aller Kollegen hier zu sprechen, wenn ich sie dringend bitten muss, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. Lassen sie Tobias Kestel wenigstens von einer unabhängigen Kommission begutachten. Alle unsere Patienten sind Schauspieler. Der eine besser, der andere schlechter. Aber es gibt zahlreiche Methoden ihnen auf den Zahn zu fühlen. Eine so schwerwiegende Entscheidung, wie die Entlassung des Patienten Kestel, sollte nicht ein einziger Arzt treffen.“
Barters wurde zusehends wütender. Was bildeten diese Leute sich eigentlich ein? Wieso maßten sie sich an, seine Entscheidungen in Frage zu stellen und zu kritisieren? „Herr Kollege“, fuhr er den Mann scharf an, „die Entscheidung ist getroffen. Die Klinikleitung hat meiner Empfehlung zugestimmt und mein Assistent, der Tobias Kestel auf seinen Freigängen beobachtet und analysiert hat, geht mit meiner Meinung konform. Sie alle kennen den Fall Tobias Kestel höchstens vom Hörensagen oder von Gerüchten her und können sich daher kein neutrales Urteil bilden. Glauben sie mir, ich weiß was ich tue!“
Meunier meldete sich wieder zu Wort und seine Stimme klang pessimistisch und resigniert: „Hat ihr Herr Vater wieder an die Klinikleitung gespendet? Kein vernünftiger Mensch würde den Patienten Tobias Kestel nur auf das Wort seines behandelnden Arztes entlassen.“
„Was fällt ihnen ein, Herr Meunier!“, brüllte Barters. „Sie deuten damit an, dass die Klinikleitung bestechlich wäre. Ich hätte mir eine sachlichere Diskussion gewünscht, aber nicht diese haltlosen Anschuldigungen! Guten Tag, meine Herren!“
Barters hieb mit der Faust auf den Tisch, so dass sein Weinglas umfiel und einen roten Fleck auf der weißen Tischdecke hinterließ. Dann stürmte er wutentbrannt aus dem Raum.