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3. Der neue Job

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Tobias Kestel blickte dem davonfahrenden Wagen hinterher. Dieser dämliche Dr. Friesgart hatte ihn das ganze Wochenende nicht aus den Augen gelassen. Doch das konnte Tobias Kestel ertragen. Alles konnte er ertragen, wenn es um seine Freiheit ging. Und eine kurze Zeit der Überwachung noch, dann war er diesen Aufpasser auch wieder los. So hatte Dr. Barters es ihm erklärt.

Auch so ein Idiot. Ein eingebildeter Schnösel, der nur dank des Geldes seines Vaters den Posten in der Klinik bekommen hatte. Durch Zufall hörte Tobias Kestel das Gespräch zwischen einem Arzt und einer Schwester mit und es entsprach in etwa seinen Einschätzungen, was er da vernahm. Diese angebliche Therapie war schlechthin ein Witz gewesen. Schon nach kurzer Zeit wurde Tobias klar, dass es diese unsäglichen Pflaster waren, die ihn so müde und antriebslos machten. Anfangs konnte er keinen klaren Gedanken fassen.

Dr. Barters klebte ihm die Pflaster - nein, er klebte nicht selbst, er ließ durch seinen Assistenten kleben - zunächst auf den Rücken. Die Stellen wechselten, um die Haut nicht zu sehr zu reizen, wie ihm Barters erklärte. Und das brachte Tobias Kestel auf eine Idee. Er rieb seinen Rücken so lange am Türrahmen, bis sich eine leichte Rötung zeigte. Dann beklagte er sich beim Arzt über eine allergische Reaktion. Nach einiger Zeit erreichte er, dass das Pflaster schließlich auf seiner Brust aufgeklebt wurde. Zwar rasierte ihm der Assistent Dr. Friesgart die Haare dort ab, doch das störte Tobias nicht. Jetzt war er in der Lage, das Pflaster selbst zu entfernen und nur wieder aufzukleben, wenn durch die Ärzte Kontrollen oder Wechsel stattfanden. Leider hielten die einmal entfernten Pflaster nur noch schlecht, doch Dr. Friesgart zuckte lediglich mit den Achseln und fixierte sie mit weiteren Klebepflastern. Die ewige Benommenheit und Antriebslosigkeit verschwanden nach und nach und auch das Denken fiel Tobias wieder leichter.

Und so weilten seine Gedanken schon seit einiger Zeit bei den Kindern, die er auf dem Spielplatz in der Nähe seiner neuen Wohnung gesehen hatte. Als wenn er nicht gemerkt hätte, wie Friesgart ihn beobachtete, als sie an den Kindern vorbeifuhren!

Kestel warf einen Blick auf die Armbanduhr. Es war noch ein wenig Zeit, bevor er sich bei dieser Schwester Rosi melden musste und er hatte nicht vor, dies auch nur eine Sekunde früher, als unbedingt erforderlich, zu tun. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte er wieder in einem Schlachthof zu arbeiten begonnen. Tobias Kestel sog die morgendliche Luft tief ein und vermeinte fast den metallischen Geruch des Blutes vom Schlachthof zu spüren. All die Jahre in der Klinik hatte er davon geträumt. Und von seinem ‚Atelier‘ in dem alten Bauernhof. Die Gedanken gaben ihm Mut und ließen die lange Gefangenschaft erträglicher werden. Und als dann dieser Dr. Barters ihm gegenüber von ‚Heilung‘ und einer möglichen Entlassung aus der Klinik gesprochen hatte, wurden Kestels Phantasien gewagter. Manchmal vermeinte er, die Stimmen und das Jammern der Kinder zu vernehmen und wohlige Schauer krochen über seinen Rücken.

Zunächst stand er den Aussagen Barters skeptisch gegenüber. Hatten ihn die Richter doch für den Rest seines Lebens in diese Klinik verbannt. Doch letztlich hielt der Arzt sein Wort und entließ ihn, den Patienten, in die Freiheit. Schließlich stand Tobias Kestel ja jetzt hier.

Es wurde Zeit, zu dieser Schwester Rosi zu gehen. Friesgart wollte ihn zunächst eigentlich bis auf die Station begleiten, doch Tobias konnte dem Arzt klarmachen, dass er lieber alleine dort hineingehen würde. Schließlich war er ein Mann von mittlerweile siebenundvierzig Jahren und kein kleines Kind mehr. Immerhin neun Jahre älter, als zu dem Zeitpunkt, da man ihn eingesperrt hatte. Aber immer noch in bester Verfassung. Gut, die Haare gingen ständig weiter zurück und in absehbarer Zeit dürfte er eine Glatze bekommen, doch sein Körper war immer noch schlank und einigermaßen fit.

Tobias Kestel stieg die Treppe im Gebäude hoch. Die Anmeldung gegenüber der Eingangstüre war nicht besetzt, aber er wusste ja, wohin er musste. Das Dienstzimmer lag im ersten Stock links im Gang, er würde es nicht verfehlen können. Er hätte den Raum auch mit verbundenen Augen gefunden, denn von dort schallte ihm eine Reibeisenstimme entgegen. Er konnte nicht genau verstehen, worum es ging, lediglich die Begriffe ‚dreckige Wäsche‘, ‚Boden‘ und ‚Schweinerei im Zimmer‘ verstand er. Dann brach das Geschrei plötzlich ab und eine junge Pflegerin mit Tränen in den Augen stürmte aus dem Dienstzimmer. Fast hätte sie ihn umgerannt und sprang erschrocken zur Seite. Sie entschuldigte sich leise und kaum verständlich, wobei sie den Blick fest auf den Boden gerichtet hielt.

Tobias klopfte an die offenstehende Tür und trat in den Raum. Eine dicke Frau, vielleicht um die fünfzig Jahre alt, mit einem verlebten Gesicht und eindeutig blond gefärbten, extrem kurzen Haaren, blickte ihn feindselig an.

„Zu wem wollen sie? So früh ist noch keine Besuchszeit, die Bewohner schlafen noch alle“, fuhr sie Tobias ohne irgendeine Begrüßung an.

Kestel blickte zu Boden und gab sich bescheiden: „Guten Morgen. Mein Name ist Tobias Kestel und ich soll mich bei Schwester Rosi melden.“

„Ach, du bist das! Sag das doch gleich. Ich bin die Rosi, das kommt von Roswitha. Wie sagt man zu dir? Tobi?“

Tobias hätte am liebsten geantwortet: ‚Herr Kestel‘, doch er schluckte die Antwort herunter und meinte stattdessen kleinlaut: „Tobias, einfach nur Tobias.“

„Na gut, Tobias“, krakeelte die Blonde mit ihrer unangenehmen Stimme. „Du musst allerdings hier etwas lauter sprechen. Die meisten Leute sind schwerhörig oder tragen Hörgeräte. Aber glaube mir, damit können die auch nicht besser hören. Oder sie wollen nicht, was aber auf das Gleiche hinauskommt.“

Sie watschelte zu einer Kaffeemaschine und goss sich einen Becher ein. Dann kramte sie ein Brötchen hervor und biss herzhaft hinein. „Die Arbeit für Hilfskräfte beginnt um sieben Uhr und endet um fünfzehn Uhr. Fünfundvierzig Minuten Pause, keine Raucherpausen zwischendurch. Oder du gehst dreimal fünfzehn Minuten, dann kannste rauchen. Aber nicht einfach abhauen, sondern mich vorher fragen“, nuschelte sie mit vollem Mund und nahm einen tiefen Schluck Kaffee. „Du warst im Knast, nicht?“

Tobias schüttelte den Kopf: „Nein, ich war in einer Klinik. Aber jetzt bin ich geheilt und entlassen.“

„Klinik?“ Rosi sah ihn fragend an. „Doch nicht etwa inner Klapse?“

„Psychiatrische Klinik. Ich bin - oder war - nicht verrückt.“

„Na hoffentlich. Psychos können wir hier nicht gebrauchen. Aber das war ja auch wieder irgend so eine ‚Unter-der-Hand-Sache‘ zwischen den Chefs. Na mir soll’s recht sein, wir können hier jede helfende Hand gebrauchen. Ich sage nur ‚Pflegenotstand‘. Den Job will ja kaum noch jemand machen und die Politik kümmert sich um nichts. Die versauen alles nur immer mehr, wenn du weißt was ich meine.“

Tobias nickte: „Ja.“

Doch Rosi schien gar keine Antwort erwartet zu haben, denn sie fuhr, ohne sich unterbrechen zu lassen, einfach fort: „Nur noch Ausländer, aber ich habe ja nichts gegen Ausländer. Polen, Russen, sogar Asiaten. Und kein Schwein spricht vernünftig Deutsch. Ist doch richtig schön, dann mal wieder einen Deutschen hier zu sehen. Wenn auch nur als Aushilfe.“ Sie trank erneut, verschluckte sich und hustete ausgiebig. Dann musterte sie Tobias eingehend. „Du bist doch Deutscher, oder? Nicht, dass ich was gegen Ausländer hätte, aber ...“

Tobias nickte erneut: „Ja.“

„Na umso besser. Dann verstehste wenigstens, was ich sage.“

Tobias hätte ihr am liebsten erklärt, dass er nicht alles verstanden hatte, als sie mit vollem Mund zu ihm sprach, doch er dachte an das junge Mädchen von eben und hütete sich davor, etwas Falsches zu sagen. Mit der Frau wollte er lieber keinen Ärger bekommen.

Wieder blickte sie ihn an und schüttelte leicht den Kopf: „In den Klamotten kannste aber hier nicht arbeiten. Da biste ein bisschen overdressed!“

Tobias sah an sich herunter. Er hatte heute Morgen extra einen dunkelblauen Anzug angezogen, um einen möglichst guten Eindruck zu machen. „Was muss ich denn hier tragen?“, fragte er.

„Normale Kleidung. Jeans, T-Shirt und feste Schuhe. Aber sauber müssen die Sachen sein. Für heute kannste aber in deinem Anzug hier rumrennen. Ich zeige dir gleich erst mal alles, dann bekommst du einen Eindruck von der Station und den Bewohnern. Und in die Pflege brauchst du ohnehin nicht. Und wenn doch, dann nur als Hilfe für eine Fachkraft. Aber das lernst du noch alles. Learning by doing, kapiert?“

Rosi stellte die Tasse neben die Kaffeemaschine und blickte auf ihre Uhr am Handgelenk. „So, Arbeitsbeginn“, stellte sie fest. „Für dich, ich muss immer etwas früher anfangen. Dann komm mal mit, Tobias Kechel!“

„Kestel, Tobias Kestel“, korrigierte er sie. Doch das hörte Rosi nicht mehr, da sie bereits auf dem Flur unterwegs war. Tobias hatte Mühe, sie wieder einzuholen.

„Du musst schon etwas zügiger gehen“, beschied sie ihm. „Wir haben keine Zeit zu vertrödeln, dafür gibt es zu viel Arbeit. Nicht rennen, aber zügig gehen.“ Sie zeigte auf eine Tür: „Hier ist die Toilette für die Angestellten. Dort drin gilt absolutes Rauchverbot! Wehe ich erwische jemanden, der dort raucht. Das wird mächtig Ärger geben.“

„Ich bin Nichtraucher“, erklärte Tobias und folgte Rosi in einen Raum, der unschwer als Küche zu erkennen war.

„Umso besser, das sind mir die liebsten. Das hier ist die Küche.“ Rosi kicherte. „Unschwer zu erkennen, was? Eine deiner Hauptaufgaben wird sein, bei der Zubereitung der Mahlzeiten zu helfen, Brote für die Bewohner zu schmieren, Kaffee zu kochen und dabei zu helfen, alles zu verteilen. Und hier herrscht absolutes Rauchverbot. Aber du bist ja Nichtraucher. Und es wird nichts gegessen. Wenn ich jemanden beim Essen erwische, dann gibt es Ärger. Mächtigen Ärger. Verstanden?“

Tobias nickte: „Ja.“

„Na hoffentlich. Dann komm weiter, ich zeige dir jetzt, wie du in den Keller gelangst. Dort hat der Hausmeister sein Büro und es kann durchaus sein, dass du ihm hin und wieder auch helfen musst. Wie steht es mit deinem handwerklichen Geschick? Kannst du so etwas? Ich meine, Sachen reparieren oder so?“

„Ja.“

„Gut.“ Schwester Rosi drückte den Rufknopf für den Aufzug, dessen Türen sich Sekunden später öffneten. Tobias ließ ihr den Vortritt, dann beeilte er sich in die kleine Kabine zu gelangen, bevor die Türen sich schlossen.

„Der Hausmeister ist diese Woche in Urlaub. Irgendeine Sache mit einer Tante. Aber ich kann dir ja schon mal zeigen, wo das Büro ist.“ Der Aufzug hielt und sie betraten einen schmalen, düsteren Gang. Hier unten roch es feucht und modrig. Und ein wenig nach Motorenöl oder etwas Ähnlichem. Tobias konnte nicht ganz ausmachen, was das war.

Rosi marschierte derweil zügig durch die Gänge und erklärte, was sich hinter den einzelnen Türen befand. Dabei beschränkte sie sich auf kürzeste Kommentare. „Hier ist die Wäschekammer, dort lagern Vorräte für die Pflege und da ist das Büro des Hausmeisters. Und weiter hinten befindet sich ein großer Raum mit Betten, Nachtstühlen und so weiter. Da lagern alle die Dinge, die wir nicht oben auf Station direkt brauchen.“

Sie schwenkte herum und ging wieder in Richtung Aufzug. „Du lernst jetzt noch den Frühstücksraum oben auf Station kennen und dann kannst du auch schon mit der Arbeit beginnen. Zunächst musst du dich um’s Frühstück kümmern. Aber das wird dir Schwester Mila alles noch erklären.“

Als sie in den Frühstücksraum kamen, saßen schon mehrere alte Leute an den Tischen. Die junge Frau, die Tobias fast umgerannt hatte, schenkte Kaffee aus und stellte Körbchen mit Brot und Brötchen auf die Tische.

„Mila, komm mal her“, befahl Rosi in einem Ton, der unmittelbaren Gehorsam forderte. Die Angesprochene ließ alles liegen und stehen und eilte zu ihnen. „Das hier ist Tobias Kechel“, erklärte sie und zeigte unnötigerweise auf Tobias. Er wird dir in der Küche helfen, also erkläre ihm, was er zu machen hat. Und trödelt nicht herum, es gibt viel zu tun.“ Rosi nickte Tobias noch einmal kurz zu, drehte sich um und verließ den Raum. Bei einigen der alten Leute machte sich Unmut breit, da Mila nicht weiter aufdeckte.

„Hallo Tobias“, meinte die junge Frau und hielt ihm die Hand hin. „Ich bin Milena Palasz, aber alle nennen mich nur Mila.“

„Geht’s hier bald weiter? Wir haben Hunger“, wurden sie unterbrochen und Mila wandte sich um: „Sofort. Ich habe auch nur zwei Hände.“

„Ja, um da herumzustehen und zu quatschen“, kam es gehässig zurück.

Mila zuckte mit den Schultern und sah Tobias an: „Weißt du, wo die Küche ist? Ich muss hier weitermachen.“ Als Tobias nickte, fuhr sie erleichtert fort: „Morgens ist hier immer Stress, weil jeder als Erster sein Essen bekommen möchte. Siehst du die Teller dort? Davon brauchen wir für jeden Tisch zwei. Wurst und Käse findest du im Kühlschrank. Meinst du, du kannst ein paar Teller fertigmachen und herbringen?“

Tobias nickte erneut: „Ja.“

„Gut, ich verteile hier kurz noch Brot, Tee, Kakao und Kaffee und dann komme ich auch in die Küche.“

Tobias nickte, prägte sich kurz ein, was an Wurst und Käse auf den schon fertigen Tellern war und ging in die Küche. Dort blickte er zunächst in die Schränke und den großen Kühlschrank, um sich einen Überblick zu verschaffen. Kurze Zeit später trat Mila zu ihm.

„Die Bewohner sind heute wieder furchtbar. Weißt du, ob wir vielleicht Vollmond haben?“, fragte sie, ohne wirklich eine Antwort zu verlangen. „Tobi, wir brauchen noch vier Teller. Kannst du sie schnell in den Frühstücksraum bringen?“

„Ja, mache ich. Aber nenne mich bitte nicht ‚Tobi‘. Ich hasse diese Kurzform. Tobias ist völlig okay.“

Mila sah ihn von der Seite an und nickte. „Ja gut, wenn du das so möchtest. Du warst in der Klapse, stimmt‘s?“

„Psychiatrische Klinik. Aber ich bin wieder vollständig geheilt, sagt mein behandelnder Arzt. Und der muss es ja schließlich wissen.“ Tobias stellte die Teller auf ein Tablet und verließ damit die Küche. Die Kleine ging ihm jetzt schon mächtig auf die Nerven mit ihrem Gequatsche. Und was ging das die Leute an, wo er gewesen war?

Die Stunden vergingen recht schnell, doch da die Arbeit für Tobias ungewohnt war und das ständige Herumlaufen schon bald schmerzende Füße verursachte, sehnte er den Feierabend herbei. Oft dachte er an seine Tätigkeit in der Schlachterei. Ob er - wenn Dr. Friesgart ihn nicht mehr so intensiv kontrollierte - den Job wechseln konnte? Es ging ja niemanden etwas an, wo er arbeitete, oder?

Dr. Friesgart erwartete ihn schon in seinem Wagen vor der Tür des Altenheims. „Na, wie geht es Ihnen, Herr Kestel?“, begrüßte er seinen ehemaligen Patienten jovial, als dieser sich in den Beifahrersitz fallen ließ.

„Gut, nur ein wenig müde. Das viele Laufen bin ich ja nicht mehr gewohnt.“

„Ja, das kann ich gut verstehen.“ Friesgart startete den Wagen und fädelte sich in den Verkehr ein. „Aber da gewöhnen sie sich schneller daran, als sie denken. Nach ein paar Tagen macht ihnen das nichts mehr aus. Erzählen sie doch mal, wie ist denn ihr erster Tag verlaufen?“

Kestel stöhnte in Gedanken auf und blickte stoisch durch die Windschutzscheibe. „Gut, Herr Doktor. Es gab viel zu tun. Essen machen, Essen verteilen und so weiter.“ Dann schwieg er und starrte weiter auf die Straße.

Friesgart, der mehr erwartet hatte, ließ lediglich ein kurzen ‚Aha‘ vernehmen. Dieser Kestel war wirklich kein großer Redner. Wie würde das erst auf den Kongressen werden, wenn man ihm Fragen stellte? Oder wenn er von seinen Eindrücken in Bezug auf die Therapie berichten sollte?

Die Tage reihten sich aneinander und für Tobias Kestel stellte sich eine gewisse Routine ein. Frühstück, Reinigungsarbeiten, sowie die Aufgaben in Bezug auf das Mittagessen - hier hauptsächlich die Speisen verteilen und sich das Meckern der Leute anhören - füllten seine Arbeitstage aus. Als eine Bewohnerin es besonders schlimm trieb und sie ihn mit unflätigen Schimpfworten wegen des angeblich schlechten Essens bedachte, raunte ihm Mila einmal im Vorbeigehen zu: „Da darfste nichts drum geben, Tobias. Die Leute sind zum größten Teil dement. Die reden nicht extra so. Also hör einfach nicht hin, die meinen es nicht persönlich.“

Tobias Kestel nickte lediglich. Er hätte der Alten in seinem ‚Atelier‘ damals schon das Schimpfen ausgetrieben. Aber das durfte er niemanden erzählen, das war sein Geheimnis und den Raum im Keller des verfallenen Bauernhofes gab es bestimmt nicht mehr.

Der Donnerstag war ein Feiertag und die Besetzung der Stationen noch schlechter als ohnehin schon. Tobias musste zum größten Teil das Verteilen des Frühstücks alleine übernehmen, denn Mila war zu beschäftigt, um sich darum auch noch zu kümmern. Er tat sein Möglichstes und eilte schon fast im Laufschritt zwischen Küche und Speiseraum hin und her, doch das genügte den Leuten offensichtlich nicht. Mehrere ältere Frauen schimpften lautstark, wenn Tobias den Raum betrat.

Am späten Vormittag kam Mila zu ihm in die Küche, wo er gerade die angelieferten Essen in einen Aufwärmwagen schob. „Tobias, ich brauche mal deine Hilfe. Wir müssen eine Frau mit einem Dekubitus verbinden und das kann ich nicht allein, weil die so schwer ist. Ich warte im Dienstzimmer auf dich. Wie lange brauchst du hier noch?“

„Ich bin fast fertig“, entgegnete Tobias. Es würde sein erster Einsatz in der Pflege sein und er war gespannt darauf. Schnell schob Tobias die letzten Tabletts in die Aufwärmstation. Es wäre noch ein wenig Zeit, bis er sie anschalten musste, damit alle Bewohner pünktlich ihr Essen bekamen. Rasch folgte er Mila in das Dienstzimmer.

Während sie durch den Flur gingen, erklärte sie ihm, was zu tun war: „Wir müssen die Frau auf die Seite drehen. Das ist ein wenig schwierig, weil die so dick ist. Alleine schaffe ich das nicht. Ich sage dir, was du zu tun hast.“

Tobias nickte: „Ja.“

Die Frau lag steif und mit starrem Blick zur Decke in ihrem Bett. Sie war wirklich unheimlich fett, Mila hatte nicht übertrieben. In dem kleinen Zimmer herrschte ein süßlicher Geruch nach Verwesung. Und das, obwohl das Fenster einen Spalt geöffnet war. Tobias fühlte sich sofort an den Schlachthof oder an sein ‚Atelier‘ erinnert. Diesen Geruch nach Tod kannte und liebte er.

„Nun steh da nicht so rum“, fuhr ihn Mila an. „Ich weiß, der Geruch ist fürchterlich. Aber da gewöhnt man sich dran. Atme durch den Mund, dann ist es nicht ganz so schlimm. Und jetzt hilf mir mal die Frau zu drehen.“

Tobias sog die Luft langsam durch die Nase ein. Wie viele Jahre hatte er darauf verzichten müssen? Alte Erinnerungen an schreiende und bettelnde Kinder tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Oder an das angstvolle und panische Quieken der Schweine im Schlachthof, die er nur ungenügend betäubt hatte, so dass sie bei lebendigem Leib verbrüht wurden.

Mila erklärte ihm derweil, was er zu tun hatte und sie drehten die Frau auf die Seite. „Du kannst auf den Gang gehen, während ich sie neu verbinde“, bot ihm Mila an. „Der Anblick ist nicht besonders schön. Ich rufe dich dann, wenn wir sie wieder umdrehen müssen. Aber bleibe vor der Tür, damit ich dich nicht suchen muss.“

Tobias schüttelte den Kopf: „Ich bleibe hier, wenn du nichts dagegen hast. Vielleicht kann ich dir ja helfen, etwas anreichen oder so. Und außerdem lerne ich vielleicht noch ein wenig.“ Er hatte nie daran gedacht und er würde es auch niemals machen, doch Tobias fügte dann noch hinzu: „Ich denke, dass ich vielleicht auch eine Ausbildung zum Altenpfleger machen werde.“

Mila hatte derweil den alten Verband entfernt, reinigte die Wunde, in die Tobias gut und gerne seine Faust hätte stecken können und verband sie anschließend. Hin und wieder warf sie einen kurzen Seitenblick auf Tobias. „Du hältst dich ganz gut“, bemerkte Mila beiläufig. „So mancher oder manche, die so etwas nicht kennen, sind schon würgend rausgerannt.“ Sie deutete auf das Tablett mit dem Verbandsmaterial: „Gib mir doch mal bitte die Rolle mit dem Pflaster dort. Ja genau, die breite.“ Sorgfältig verklebte sie anschließend die Kompresse. „So, das war’s schon. Hilf mir die Frau wieder umzudrehen. Morgen kannst du mir noch einmal helfen. Und jetzt kümmere dich um den Aufwärmwagen, sonst bekommen unsere verwöhnten Schäflein am Ende noch kaltes Essen und was das an Ärger geben würde, willst du gar nicht wissen ...“ Sie lachte leise und stob Richtung Dienstzimmer davon, während Tobias zur Küche ging.

Der nächste Tag begann schon direkt unangenehm. Er bereitete in der Küche wieder die Teller mit Wurst und Käse vor, als aus dem Speiseraum das Gekreische der alten Frau, die ständig etwas zu meckern hatte, drang. Tobias nannte sie im Stillen ‚die Querulantin‘ und überlegte schon, wie man sie unauffällig zur Ruhe bringen konnte. Doch er war sich klar darüber, dass man ihn beobachtete und er sich keine Fehler erlauben durfte. Dr. Friesgart würde ihn schneller, als er denken konnte, wieder in die Klinik zurückbringen.

Mila rauschte an ihm vorbei und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie wischte verstohlen einige Tränen fort und atmete einmal tief durch. „Ich könnte die Alte umbringen“, meinte sie dann leise und mit vor Zorn bebender Stimme. „Die schikaniert uns ständig. Jetzt will sie Salz haben, obwohl es nichts gibt, wofür sie das brauchen könnte. Kein Ei, nichts. Aber so ist sie nun mal. Tobias, sei so gut und bring du ihr einen Salzstreuer. Oben in dem Schrank dort findest du Pfeffer und Salz.“

„In Ordnung“, nickte Tobias. Er wusste, wo sich das Salz befand und nahm einen kleinen, gläsernen Streuer, der randvoll neben einem Pfefferstreuer stand. Dann eilte er in den Speiseraum, wo die Alte immer noch lautstark vor sich hin schimpfte. „Bitte sehr“, meinte Tobias und hielt ihr den Streuer hin. „Ihr Salz.“

Die Frau schlug ihm das Gefäß aus der Hand. „Jetzt brauch ich dat nich mehr“, grollte sie. „Jetz issest auch zu spät.“

Tobias hob den Salzstreuer auf, der zum Glück nicht zerbrochen war.

„Aber den Teller hier, den kannste mitnehmen“, fuhr ihn die Alte an und hielt den Teller mit Wurst und Käse hoch. Tobias sah, dass davon noch nichts gegessen worden war. „Nun mach schon un steh da nich so doof rum!“

Tobias steckte den Salzstreuer in die Hosentasche und griff nach dem Teller, bevor die Frau ihn auf den Boden fallen lassen konnte. Dann beeilte er sich, zurück in die Küche zu kommen.

„Und wofür hat sie das Salz gewollt?“, fragte ihn Mila, die immer noch auf dem Stuhl saß.

„Für nichts. Jetzt sei es zu spät, sagte sie“, erklärte Tobias. „Die ist wirklich schrecklich!“

Am späten Nachmittag rief Mila ihn wieder zu Hilfe, damit sie die alte Frau mit dem Dekubitus erneut zusammen auf die Seite drehen konnten. Wieder roch es in dem Zimmer penetrant nach Verwesung und Tod und Tobias atmete tief durch. Wie sehr er diesen Geruch doch liebte!

„Ja, der Gestank ist schlimm. Irgendein Trottel hat auch noch das Fenster geschlossen.“ Mila öffnete das Fenster und sog durch den Spalt die frische Luft von draußen ein. Tobias hätte ihr fast gesagt, sie solle das Fenster doch ruhig geschlossen lassen, hielt sich dann aber zurück.

Während Mila die Wunde wieder reinigte, betrachtet er das Loch am Gesäß der Frau eingehend. Schwarzes, totes Gewebe wurde von entzündetem, rötlichem Fleisch umschlossen. „Verursacht das starke Schmerzen?“, fragte er Mila.

„Unter Umständen schon“, entgegnete sie. „Hier siehst du“, sie zeigte auf das Fleisch. „Das Schwarze ist totes Gewebe, da spürt sie nichts. Aber dort, dort und dort ist alles entzündet. Da muss man vorsichtig sein, denn das kann schon furchtbare Schmerzen verursachen.“ Sie blickte Tobias mit einem kleinen Lächeln an: „Du hast wirklich Interesse an der Altenpflege, was? Ich finde, das ist ein schöner Beruf. Du kannst den Menschen helfen und erfährst viel Dankbarkeit. Nicht alle sind so, wie unsere Freundin aus dem Speisesaal. Leider sind wir ständig unterbesetzt und dadurch überlastet. Aber das haben die Politiker schon vor vielen, vielen Jahren mit ihren unbedachten Reformen verbockt.“ Sie seufzte laut. „Und wer will solch einen Job noch machen? Wochenenddienste, an freien Tagen einspringen, weil wieder einmal jemand ‚krank‘ geworden ist und dazu noch eine mehr als dürftige Bezahlung. Aber die Herren Politiker verdienen ja genug und lassen sich im Alter privat pflegen.“ Sie deckte die Wunde ab und hielt Tobias dann eine Hand hin. „Gibst du mir bitte das Pflaster?“

Tobias reichte ihr die Rolle.

„Scheiße“, meinte Mila plötzlich. „Die ist ja leer. Wer um alles in der Welt legt eine leere Rolle zurück in die Schublade? Tobias kannst du einen Moment alleine bei der Frau bleiben, ich hole schnell eine neue Rolle.“

„Kein Problem. Ich passe auf sie auf.“

Mila warf ihm noch einen aufmunternden Blick zu und verließ rasch das Zimmer.

Tobias blickte ihr hinterher, bis sich die Türe schloss. Er hatte nicht viel Zeit und mit wenigen Handgriffen zog er die Kompresse von der Wunde. Er merkte sich genau die Position, wie sie dort gelegen hatte. Dann ballte er eine Faust und steckte sie in das Loch. Die Frau stöhnte gequält auf und Tobias bewegte seine Hand hin und her. Dann fiel ihm etwas ein und er zog die Hand zurück. Rasch nahm er den Salzstreuer aus seiner Hosentasche, entfernte den Deckel und beugte sich über die Wunde. Mit einem fröhlichen Grinsen schüttete er das Salz in die Wunde, hauptsächlich auf das entzündete Fleisch. Die alte Frau stöhnte lauter, was in ein ständiges Jammern überging. Tobias steckte den Salzstreuer rasch ein und legte Verbände und Kompresse wieder an ihren Platz zurück. Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür und Mila kam herein. Als sie das Jammern hörte, kam sie rasch zum Bett. „Was ist los? Ist irgendetwas passiert, warum jammert die Frau so?“

„Keine Ahnung“, log Tobias. „Bis vor wenigen Sekunden war sie noch ruhig. Vielleicht liegt sie schon zu lange auf dem Bauch ...“

Mila verklebte die Kompresse sorgfältig. „Derjenige, der die leere Rolle in die Schublade gelegt hat, der wird von mir etwas zu hören bekommen. Das ist unverantwortlich! Komm, drehen wir die Frau wieder um.“

Tobias Kestel bekam das Wochenende frei und musste die Tage zusammen mit Dr. Friesgart in der Wohnung verbringen. Er war froh, als es endlich wieder Montag wurde und er aus der kleinen Wohnung und der Obhut des Arztes herauskam. Auf der Station erfuhr er dann, dass die alte Frau mit dem Dekubitus in der Nacht zum Samstag unter starken Schmerzen gestorben war.

„Das tut mir so leid“, beteuerte er Mila gegenüber. „Wie konnte das geschehen?“

„Sie war alt und hatte ein schwaches Herz. So ist das halt, die Leute sterben. Aber es ist traurig, denn es war eine sehr nette Frau. Als es ihr noch besser ging, half sie uns oft in der Küche und hatte für jeden ein freundliches Wort übrig. Ich habe sie sehr gemocht.“

Die Kestel Regression

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