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1. Die Anhörung

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Dr. med. Bernard Christian Barters betrachtete sich in dem kleinen Wandspiegel im Badezimmer seines Büros. Was er sah gefiel ihm: Ein Achtunddreißigjähriger mit einem gepflegten Drei-Tage-Bart, einer zurzeit äußerst angesagten, modischen Brille und dem vollen Haarschopf, der ihn bei den Frauen so begehrt machte. Der Maßanzug kleidete ihn ausgezeichnet und die sechstausend Euro waren gut angelegt. Barters fragte sich kurz, ob er mit dem Anzug nicht übertrieben hatte, doch das war sein Markenzeichen: gute und teure Kleidung. Die Lederschuhe kamen auf gut und gerne noch einmal sechshundert Euro, doch auch sie waren Maßanfertigung und er fühlte sich äußerst wohl darin. Ein guter Schneider, ein guter Schuster und natürlich ein guter Coiffeur waren schließlich mit das Wichtigste im Leben. Und gutes Essen, aber das verstand sich ja von selbst.

Barters kontrollierte den Sitz seiner Krawatte, dann blickte er auf die sündhaft teure Uhr an seinem Handgelenk. Noch zwanzig Minuten bis zu der Sitzung, die ihm dieser dämliche Franzose eingebrockt hatte. Barters verdrängte absichtlich, dass Dr. Meunier schon einen Großteil seines Lebens in Deutschland verbrachte und auch die deutsche Staatsangehörigkeit besaß. Für ihn war der Mann nur der ‚kleine dicke Franzose‘. Und der hatte es schließlich doch noch geschafft, dass eine erneute Anhörung des Patienten Tobias Kestel erfolgen sollte. Ursprünglich war auch die Anwesenheit eines neutralen Kollegen geplant gewesen, doch eine weitere ‚Spende‘ seines Vaters hatte dies in letzter Sekunde abwenden können. Barters hasste den Kollegen Meunier umso mehr und dachte jetzt schon darüber nach, wie er es ihm heimzahlen konnte. Aber zunächst galt es, die Anhörung zu seinen - und Tobias Kestels - Gunsten zu überstehen. Trotz der großzügigen Spende war sich Bernard Barters über den Ausgang der Befragung nicht mehr so sicher.

Und zu allem Überdruss hatte ihm sein Vater klargemacht, dass er nicht ewig die Karriere seines Sohnes mit ‚Spenden‘ unterstützen würde. „Bernard“, hatte er gesagt und dabei sehr ernst geblickt, „einmal muss Schluss sein. Ich habe deinen Abschluss als Arzt mit Unsummen unterstützt und dafür gesorgt, dass du eine Anstellung in der psychiatrischen Praxis bekamst. Für die ‚Spende‘ hätte ich dir fast auch eine eigene Praxis einrichten können. Und dann der Wechsel zur Klinik. Ebenfalls eine unverschämt hohe Summe. Und nun dies hier. Was liegt dir eigentlich daran, diesen Tobias Kestel wieder in Freiheit zu sehen? Bist du wirklich sicher, dass der Mann zukünftig seine Finger von kleinen Kindern lassen wird?“

„Vater“, Barters gab sich reumütig. Er wusste, dass er so am meisten bei seinem alten Herrn erreichen konnte. „Es ist meine Berufung. Ich will doch dir und der Familie Ehre machen, aber leider zeigen sich die Menschen allzu verbohrt. Tobias Kestel wurde durch meine Therapie geheilt und die Anerkennung der Fachwelt wird nicht nur mein Image, nein unser Image, steigern und in unermessliche Höhen befördern, sondern mir auch eine Menge Geld einbringen. Du wirst sehen, dass ich dir deine Auslagen doppelt und dreifach zurückzahlen kann.“

Sein Vater schüttelte den Kopf, so als wollte er sagen: ‚Na, wer’s glaubt‘ und knurrte: „Das werden wir noch sehen. Bisher hast du mich lediglich eine Menge Geld gekostet und kaum etwas erreicht. Beweise mir, dass du meine Mühen auch wert bist!“

Barters wischte einige imaginäre Stäubchen von seiner Schulter. Seine Arbeit in der Praxis war seiner Meinung nach sehr gut gewesen. Leider dachten die Kollegen dort anders und als er in die Klinik wechselte, sah Bernard Barters manch erleichtertes Gesicht. Aber auch Tränen, denn als die Sprechstundenhilfe ihn fragte, ob sie sich weiter treffen würden, schüttelte er damals nur stumm den Kopf. Dass er des Mädchens überdrüssig war und der Sex mit ihr langsam fad wurde, hatte er verschwiegen. Er wollte die Kleine ja nicht vor den Kopf stoßen und vielleicht würde er sie ja noch einmal brauchen. Jedenfalls konnte ihm niemand schlechte Arbeit vorwerfen. Zahlreiche Alkoholiker waren innerhalb kürzester Zeit von ihm geheilt worden und kamen lediglich noch regelmäßig zu ihm, um sich Tabletten verschreiben zu lassen. Besonders bewährte sich dabei in der Therapie das Mittel Fentanyl, das er als Pflaster verabreichte. Es dauerte nie lange, bis die Patienten auf ihren Alkoholkonsum verzichten konnten oder diesen wenigstens reduzierten. Eine hervorragende Therapie, die er auch bei Tobias Kestel angewendet hatte. Und der Erfolg gab ihm schließlich Recht!

Er blickte erneut auf seine Uhr, die er günstig gekauft hatte. Eine original Chopard Imperiale, die er für zweihunderttausend Euro und damit gut fünfzigtausend günstiger, als normal, erworben hatte. Der Kampf mit seinem Vater, um das Geld zu erhalten, kostete ihn allerdings einige Nerven. Schließlich durfte er sich die Uhr zu seinem dreißigsten Geburtstag kaufen und sein Vater verlor auch nie wieder ein Wort darüber.

Jetzt wurde es allerdings Zeit, sich der Auseinandersetzung mit der Klinikleitung zu stellen. Als er am Dienstag - direkt nach dem Pfingstwochenende - von der Eingabe dieses Dr. Meunier und seiner Kollegen erfahren hatte, musste er Tobias Kestel auf die neuerliche Befragung vorbereiten. Das war ihm in den letzten beiden Tagen gut gelungen und würde Kestel heute keinen Fehler machen und war die Spende seines Vaters entsprechend großzügig ausgefallen, dann dürfte Kestel schon Anfang der kommenden Woche in Freiheit sein. Schließlich war alles schon vorbereitet: Barters Assistent hatte eine kleine Wohnung gemietet, Zivilkleidung in Kestels Größe besorgt und sogar für einen Job in einem Altenheim gesorgt. Kestel konnte dort als Aushilfe arbeiten und würde ihm bei Bedarf zur Verfügung stehen.

Heute war Donnerstag und der große Zeiger seiner Uhr rückte unentwegt auf die Sechs vor. Zehn Uhr dreißig und Barters durfte auf keinen Fall unpünktlich sein.

„Guten Morgen, meine Dame und Herren“, begrüßte er die Anwesenden, während er bewusst gutgelaunt zu seinem Stuhl trat. Sie befanden sich hier in einem kleinen Besprechungsraum, in dem um einen ovalen Tisch herum mehrere Stühle gruppiert waren. Der Klinikleiter saß mit seiner Sekretärin und einem jüngeren Kollegen an der Stirnseite des Tisches, hinter der sich auch die Leinwand für Bildprojektionen befand. Allerdings würden sie sie heute nicht benötigen und daher befand sie sich noch in dem Kasten an der Decke.

Barters stellte mit Genugtuung fest, dass der für den neutralen, externen Arzt vorgesehene Stuhl leer war. Eins zu null für Vaters ‚Spende‘. Er verbeugte sich leicht in Richtung der drei Personen und nahm auf seinem Stuhl Platz. Der Klinikleiter, Dr. Osslinger, sah ihn prüfend an, sagte aber nichts. Seine Sekretärin spielte an dem Laptop herum, auf dem sie wohl das Protokoll führen würde. Dem anderen Arzt war die ganze Sache anscheinend recht peinlich, denn er betrachtete angelegentlich die Tischplatte und schien sich in der Situation auch nicht recht wohlzufühlen. Barters wusste, dass der Kollege erst seit kurzer Zeit im Klinikum war. Dessen Anwesenheit konnte er gut akzeptieren, denn der Mann würde mit Sicherheit keinerlei Aussage entgegen den Wünschen der Klinikleitung äußern. Sie alle wussten, dass dies mehr oder weniger eine Farce darstellte, die ein Dr. Meunier unnötigerweise initiiert hatte. Barters wurde sich seiner Sache zunehmend sicherer.

Osslinger sah ungehalten auf seine Uhr, die nicht annähernd der Klasse von Barters Imperiale nahekam. Allerdings wurde es allmählich Zeit, dass Barters Assistent, Dr. Holger Friesgart, mit ihrem Patienten eintraf. Barters hatte beiden zuvor mehrere Male eingebläut, unbedingt pünktlich zu sein und jetzt war es schon fünf Minuten über der Zeit. Er nahm sich vor, seinen Assistenten später gehörig zusammenzuscheißen.

Plötzlich öffnete sich die Tür und Tobias Kestel, gefolgt von Dr. Friesgart, betrat den Raum. Kestel verbeugte sich - so wie es Barters ihm eingetrichtert hatte - und blieb demütig neben der Tür stehen.

„Guten Morgen“, begrüßte sie Dr. Friesgart, der neben Kestel stand. „Bitte entschuldigen sie unsere Verspätung, aber es gab in Abteilung fünf C einen Notfall. Es ist meine Schuld, dass wir nicht früher hier sein konnten.“

Dr. Osslinger hob wohlwollend die Hand und winkte die beiden zu sich heran. Dann zeigte er auf zwei freie Stühle. „Nun, das entschuldigt sie natürlich“, nickte er. „Bitte nehmen sie Platz und lassen sie uns beginnen.“ Er nickte der Sekretärin zu, die sich ihrem Laptop widmete und auf der Tastatur herumhämmerte.

„Ich gehe davon aus, dass sie alle wissen, warum wir uns heute hier zu einer außerplanmäßigen Anhörung eingefunden haben. Ich muss auf die Beweggründe trotzdem wegen des Protokolls eingehen. Zunächst einmal stelle ich die Anwesenheit fest: Im Raum befinden sich Herr Dr. Bernard Barters, sein Assistent Herr Dr. Friesgart, ferner Dr. Reinhard Gelsmann in seiner Eigenschaft als neutraler Beobachter, Frau Sabine Vornau die Sekretärin und Schriftführerin, sowie meine Wenigkeit, Dr. Dr. med. Osslinger, der Leiter der Klinik. Und zu guter Letzt befindet sich der Patient Tobias Kestel in dem Konferenzraum.“

Osslinger machte eine kurze Pause und wartete, bis die Sekretärin alles in ihren Computer getippt hatte. Dann fuhr er fort: „Auf Anliegen des Arztes Dr. Meunier und einiger anderer Kollegen treffen wir hier heute zu einer Anhörung des Patienten Tobias Kestel in der Angelegenheit seiner durch Dr. Barters diagnostizierten Heilung und der damit einhergehenden Entlassung aus der psychiatrischen Klinik. Dr. Meunier und seine Kollegen drängen in einem durch Boten zugestellten Schreiben darauf, die geplante Entlassung zu revidieren und Herrn Tobias Kestel in der Obhut und Behandlung der Klinik zu belassen. In den angeführten Argumenten bezweifelt Dr. Meunier den Erfolg der Therapie des Herrn Dr. Barters.“

Wieder folgte eine Pause. Barters hielt seinen Blick auf die Tischplatte gesenkt, beobachtete aber aus den Augenwinkeln abwechselnd seinen Patienten Tobias Kestel, sowie den Klinikleiter. Die Frage, die ihn beschäftigte, lautete, ob Osslinger gegen die Entlassung Kestels ebenfalls Bedenken hegte. Dr. Meunier konnte durch seinen Brief zweifellos in Osslinger eine gewisse Angst in Bezug auf das zukünftige Verhalten des Patienten geweckt haben. Dr. Osslinger befand sich in einer Zwickmühle, auf deren einen Seite das gute Geld von Barters Vater und auf der anderen Seite die Unsicherheit in Bezug auf die Person Kestel steckten. Wie würde Osslinger entscheiden?

Der Klinikleiter zog einen Aktenordner, der vor ihm auf dem Tisch lag, zu sich heran und blätterte darin. „Herr Kestel“, wandte er sich an den Patienten, der sofort von seinem Stuhl aufsprang und so etwas wie eine militärische Haltung annahm. ‚Übertreibe es nicht‘, warnte Barters ihn mit den Augen, doch Kestel blickte stoisch zu Boden.

„Herr Tobias Kestel, wie geht es ihnen, wie fühlen sie sich?“

„Gut, danke Herr Klinikleiter. Ich fühle mich ruhig und zufrieden, allerdings ein wenig unterfordert. Ich möchte arbeiten, etwas schaffen und mir meinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Dank der Therapie meines wundervollen Arztes bin ich ein vollkommen neuer Mensch geworden. Den alten Tobias Kestel gibt es nicht mehr.“

Osslinger nickte mit dem Kopf und Barters atmete ein wenig auf. Sie hatten Kestels Antwort zum Glück lange genug einstudiert.

„Sehr schön, Herr Kestel.“ Dr. Osslinger wandte sich an die Sekretärin: „Bitte nehmen sie ins Protokoll auf, dass wir jetzt hier nicht alle von Dr. Barters durchgeführten Therapien und Maßnahmen erläutern wollen, sondern dem Protokoll die Therapieunterlagen anheften werden. Ich fahre nunmehr mit der Befragung fort.“

Er wandte sich wieder dem Patienten zu, lächelte und meinte: „Herr Kestel, bitte erläutern sie mir, was sie denken, wenn sie ein Kind oder eine Gruppe Kinder sehen.“

Kestel schwieg einen Moment, so als würde er über die Frage angestrengt nachdenken. Doch auch diese Thematik hatten Barters und er eingehend besprochen. „Herr Vorsitzender, ich habe selbst zwei Kinder und meine Gedanken kreisen lediglich darum, dass es den Kindern - allen Kindern - gut gehen möge und ich hoffe, meine eigenen eines Tages einmal wiedersehen zu können. Falls sie darauf ansprechen, ob ich jemals wieder diese falschen Sachen machen möchte, so kann ich mit einem klaren ‚Nein‘ antworten. Das war ein anderer Tobias Kestel. Ein kranker Mensch, der ich heute nicht mehr bin. Dr. Barters hat mich geheilt.“

Wieder nickte der Klinikchef und wieder atmete Barters ein wenig auf. Kestel musste lediglich noch ein paar Fragen weiter durchhalten. Barters Reputation in Fachkreisen rückte wieder in greifbare Nähe.

„Ich nenne ihnen jetzt einige Begriffe, auf die sie mir spontan und ohne langes Nachdenken antworten werden. Antworten sie möglichst mit nur einem Wort. Haben sie verstanden, worum es geht, Herr Kestel?“

Der Patient Tobias Kestel nickte und Dr. Barters rieb sich im Geiste die Hände. Dieses Frage- und Antwortspiel hatten sie bis zum Erbrechen geübt. Schließlich war es Teil der Therapie und eine Möglichkeit, den Geisteszustand des Patienten zu erforschen.

Kestel nickte.

„Gut, beginnen wir: Fahrrad.“

Kestel blickte unbefangen auf: „Fortbewegung.“

„Kinderspielplatz.“

„Sand.“

„Messer.“

„Brote.“

„Skalpell.“

„Ärzte.“

„Schmerzen.“

„Linderung.“

Barters hielt die Luft an. Alle Antworten entsprachen seinen Befragungen, lediglich die auf ‚Schmerzen‘ hatte Kestel bisher mit ‚Tabletten‘ beantwortet. ‚Linderung‘ war sehr mehrdeutig, zumal in allen Polizeiprotokollen stand, dass Kestel seinen jungen Opfern damals ‚Linderung‘ verschaffen wollte.

Aber Dr. Osslinger ging auf die letzte Antwort nicht ein. Vielleicht hatte er nicht richtig zugehört oder er akzeptierte die Antwort einfach nur so. Jedenfalls beendete er mit einem zufriedenen Nicken die Befragung und wandte sich wieder seiner Sekretärin zu: „Bitte vermerken sie: keine Auffälligkeiten.“

Als das leise Klappern der Tasten verklang, wandte sich der Klinikchef erneut an den immer noch stehenden Tobias Kestel: „Herr Kestel, bitte machen sie jetzt zehn Kniebeugen.“

Kestel tat wie ihm geheißen.

Barters musste sich stark zusammenreißen, um ein Lachen zu unterdrücken, während Tobias Kestel pflichtgemäß in die Knie ging. Wollte Osslinger das Ganze jetzt ins Lächerliche ziehen? Aber vielleicht war dies ja eine kleine Retourkutsche an Dr. Meunier. Etwas, das ihm zeigte, wie unsinnig sein Ansinnen gewesen war.

„Sie können sich wieder setzen, Herr Kestel.“ Dr. Osslinger wandte sich an Dr. Barters: „Herr Kollege bitte schildern sie uns, wie sich Herr Kestel auf seinen Freigängen verhalten hat.“

„Gerne Herr Direktor.“ Barters erhob sich und blickte zu dem Klinikleiter und seiner Sekretärin, die sich dienstbeflissen über den Laptop beugte. „Der Patient Tobias Kestel erhielt regelmäßig kontrollierten Freigang, um ihn an das Leben außerhalb dieser Klinik zu gewöhnen und seine Reaktionen auf fremde Menschen, insbesondere kleine Kinder, zu verifizieren. Tobias Kestel wurde von meinem Assistenten Herrn Dr. Friesgart begleitet. Dr. Friesgart hat über jeden Freigang einen detaillierten Bericht erstellt. Diese Berichte können dem Protokoll ebenfalls angehängt werden. Ich möchte mich jetzt lediglich darauf beschränken, dass Herr Tobias Kestel sich tadellos benommen hat und selbst in Augenblicken, in denen er sich unbeobachtet fühlte, keine Unregelmäßigkeiten erkennen ließ.“ Dr. Barters verbeugte sich kurz und setzte sich mit langsamen Bewegungen auf seinen Stuhl zurück.

Dr. Osslinger nickte allen Anwesenden freundlich zu. „Meine Herrschaften, wir kommen jetzt zu der Beschlussfassung. Um eine Pattsituation zu vermeiden, also ein eindeutiges Ergebnis zu bekommen - und dies frei jeglicher Beeinflussung - veranlasse ich, dass es zu einer Abstimmung kommt. Ich werde den Raum verlassen, um zu vermeiden, dass sich jemand von ihnen durch mich zu einem ihm nicht genehmen Entschluss gedrängt fühlt. Sobald ich durch die Tür dort verschwunden bin, stimmen sie, Dr. Barters, Dr. Friesgart und Dr. Gelsmann darüber ab, ob Herr Tobias Kestel weiter in der Klinik verbleiben soll oder auf freien Fuß gesetzt wird. Schreiben sie ihre Wahl auf einen Zettel, den ihnen Frau Vornau noch geben wird und reichen sie ihr den Zettel anschließend zusammengefaltet zurück. Enthaltungen werden nicht akzeptiert. Sie wissen also, worauf es ankommt, meine Herren. Ich erwarte eine zügige Entscheidung!“

Osslinger stand auf und verließ den Raum, während die Sekretärin kleine Zettel an sie verteilte. Barters grinste. ‚Du alte Drecksau‘, dachte er und musste zugeben, dass er den Klinikchef doch ein wenig bewunderte. Osslinger hatte das alles im Voraus geplant und würde so jeglicher Verantwortung entgehen. Ein Fehlverhalten Tobias Kestels könnte niemand ihm, dem Klinikchef, ankreiden. Zumindest theoretisch nicht.

Dr. Barters blickte seinen Assistenten scharf an. Der Mann würde doch jetzt keinen Fehler begehen? Dann wäre Dr. Friesgart die längste Zeit ein Teil des Teams dieser Klinik gewesen sein. Und er, Dr. Barters, wollte höchsteigen dafür sorgen, dass der Mann nur noch als Hilfskraft einen Job finden würde.

Die kleinen Zettel waren schnell ausgefüllt und der Sekretärin zurückgegeben. Dr. Barters bedeutete seinem Assistenten, den Klinikchef wieder in den Raum zu holen.

„Das ging ja flott, meine Herren“, sprach Dr. Osslinger während er die gefalteten Zettel von der Sekretärin entgegennahm. Er faltete den ersten auseinander. „Entlassen“, las er vor. Auch auf dem nächsten Stand ‚Entlassen‘ und damit stand das Abstimmungsergebnis fest. Trotzdem faltete er den letzten Zettel noch auseinander. „Weiter behandeln“, gab er den Text auf dem Blättchen wieder.

„Meine Herren, sie haben entschieden: Herr Tobias Kestel wird aus unserer Klinik als geheilt entlassen. Ich bitte Herrn Dr. Barters alles Erforderliche in die Wege zu leiten. Die Anhörung ist beendet. Meine Dame, meine Herren ich danke Ihnen. Und ihnen Herr Kestel: meinen Glückwunsch. Lassen sie die sich ihnen bietende Chance nicht verstreichen!“

Während Dr. Osslinger den Raum zufrieden lächelnd verließ, besah sich Dr. Barters die auf dem Tisch liegenden Zettel. Die Schrift, die besagte ‚weiter behandeln‘ war eindeutig nicht die seines Assistenten. Der hatte mit ‚entlassen‘ gestimmt. Barters atmete erleichtert auf. Also war ihm Gelsmann, der Neue, in den Rücken gefallen! Dr. Barters lächelte bei dem Gedanken daran, dass er schon dafür sorgen würde, dass dieser Gelsmann bald wieder aus der Klinik verschwinden würde.

Die Kestel Regression

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