Читать книгу Die Kestel Regression - Jürgen Ruhr - Страница 6

2. In Freiheit

Оглавление

Dr. Barters saß in seinem Büro und sah noch einmal die vor ihm liegenden Papiere durch. Alles war korrekt und unterschrieben, lediglich die Unterschriften des Patienten Tobias Kestel fehlten noch. Somit stand dessen Entlassung aus der Klinik nichts mehr im Weg. Barters blickte auf die Wanduhr über der Tür. In wenigen Minuten würde Dr. Friesgart den Patienten zu ihm bringen.

Der Klinikchef, Dr. Osslinger befand sich schon seit gestern außer Haus. Angeblich musste er dringend zu einer Sitzung und würde erst nächste Woche wieder an seinem Arbeitsplatz erscheinen. Barters bewunderte einmal mehr, wie geschickt der Chef sich aus der Affäre zog. Erst die Sache mit der Abstimmung - etwas, das es noch nie gegeben hatte - und nun die angebliche ‚Sitzung‘, die die alleinige Verantwortung von Kestels Entlassung auf ihn, Dr. Barters, verlagerte. ‚Aber was soll’s‘, dachte er. ‚Die Verantwortung liegt ohnehin bei mir und was kann schon schiefgehen?‘ Kestels Therapie war ein voller Erfolg gewesen und der ewige Pessimismus, der ihm entgegenschlug, deutete lediglich auf den Kleingeist dieser Querulanten hin.

Der Arzt ging in Gedanken die kommenden Wochen und Monate noch einmal durch. Er würde an mehreren Wochenenden mit Kestel zu verschiedenen Kongressen reisen, um dort als einer der Redner seinen durchschlagenden Therapieerfolg zu demonstrieren. Kestel hatte eigentlich bei der ganzen Sache keine große Rolle zu spielen, doch Barters erhoffte sich eine gesteigerte Aufmerksamkeit, wenn er den geheilten Patienten persönlich vorstellen konnte.

Auch seine Artikel über die Therapie Tobias Kestels würden in Kürze in verschiedenen Fachzeitschriften veröffentlicht werden. Dr. Bernard Barters war mit sich zufrieden.

Es klopfte dezent an der Tür. „Herein!“, rief der Arzt und blickte seinem Assistenten, gefolgt von Tobias Kestel entgegen.

„Ah, sie sind pünktlich. Prima, bitte setzen sie sich.“ Friesgart und Kestel setzen sich auf die zwei vor dem Schreibtisch stehenden Stühle. „Lieber Herr Kestel“, wandte Barters sich an seinen Patienten, der bald sein Ex-Patient wäre. „Heute endlich ist der große Tag gekommen. Nachdem die Entscheidung gestern eindeutig ausfiel, steht ihrer Entlassung nichts mehr im Weg.“ Er lachte leise. „Sie müssen jetzt nur noch einige Unterschriften leisten, dann sind sie wieder frei. Eine kleine Unterschrift für einen Mann und ein gewaltiger Schritt in die Freiheit.“

Er schob Tobias Kestel mehrere dicht bedruckte Seiten, sowie einen Kugelschreiber hin. „Wir haben ja alles schon besprochen, trotzdem hier noch einmal in Kurzform, was sie da unterschreiben: Diese Seite hier“, er zeigte auf ein engbeschriebenes Blatt, „betrifft Ihre Entlassung aus der Klinik. Das dort ist ein Arbeitsvertrag mit dem Altenheim, in dem sie ab Montag als Aushilfe arbeiten werden. Sie melden sich dort um halb Sieben bei einer Schwester Rosi.“ Barters hob mehrere zusammengeheftete Seiten hoch, die er Tobias Kestel bisher noch nicht hingeschoben hatte. „Und das hier ist unser spezieller Vertrag. Danach stehen sie mir an bestimmten, noch näher zu bezeichnenden, Wochenenden zur Verfügung und reisen mit mir zu Kongressen. Dort halte ich zu dem Thema Ihrer Therapie Vorträge und werde sie quasi als ‚objectum demonstrationem‘ präsentieren. Sie erhalten für ihre Mühen eine Entschädigung, deren Höhe in diesem Vertrag festgelegt ist. Aber auch das wissen sie ja schon, wir haben ja all das ausführlich besprochen. Jetzt fehlen nur noch ihre Unterschriften.“

Tobias Kestel las sich die Formulare und den Vertrag nicht erst durch, sondern unterschrieb schwungvoll. Seine Miene ließ nicht erkennen, was er dabei dachte. Dr. Barters und Dr. Friesgart beobachteten ihn genau und als Tobias Kestel dem Arzt die Schriftstücke zurückgab, lächelten sie beide.

„Danke, Herr Kestel“, strahlte Dr. Barters. „Sie haben heute Gelegenheit, ihre persönlichen Sachen zusammenzupacken. Herr Dr. Friesgart bringt sie dann morgen Vormittag zu ihrer Wohnung.“ Dr. Friesgart hatte vor zwei Wochen zusammen mit Tobias Kestel eine kleine Wohnung angemietet. Während der Freigänge nutzten sie dann die Zeit und richteten die Räume schon ein wenig wohnlich ein. Die Wohnung bestand aus einem Wohnzimmer, einer Küche, sowie einem Schlafzimmer und dem kleinen Bad. Nicht viel, aber ein Anfang. Dr. Friesgart erklärte sich - nach entsprechendem Drängen Dr. Barters - bereit, in der ersten Woche Tag und Nacht bei Kestel zu bleiben, um ihm die Wiedereingliederung in die Gesellschaft so leicht wie möglich zu machen. Nur während der Arbeitszeiten von Kestel würde er zu seinem Chef in die Klinik kommen und ihm haarklein von den Fortschritten ihren Ex-Patienten berichten. Außerdem hatte Barters ihm aufgetragen, detaillierte Berichte über Tobias Kestel zu verfassen.

Dr. Barters nickte dem jungen Assistenten zu. „Unterstützen sie bitte Herrn Kestel beim Packen. Bringen sie ihn dann morgen bitte zu seiner Wohnung und leisten sie ihm dort Gesellschaft, so wie wir es besprochen haben. Ich selbst bin am Wochenende nicht im Haus, aber sie wissen ja, was zu tun ist.“

„Selbstverständlich Herr Dr. Barters“, entgegnete Friesgart und erhob sich.

Kestel folgte seinem Beispiel, doch bevor die beiden zur Tür gingen, blickte Tobias Kestel seinen Arzt noch einmal ins Gesicht. „Ich danke ihnen, Herr Doktor. Sie wissen gar nicht, was mir das bedeutet. Sie haben eine grandiose Leistung mit ihrer Therapie vollbracht.“

Barters nickte. „Eine Leistung, die auch immer nur mit der Zusammenarbeit und des Verständnisses der Patienten möglich ist. Sie finden bei mir, beziehungsweise Herrn Dr. Friesgart, immer ein offenes Ohr. Scheuen sie sich nicht, uns im Zweifelsfall anzusprechen. Und außerdem werden wir uns ...“, Barters blätterte in seinem Kalender, dann blickt er wieder zu Tobias Kestel auf, „in zwei Wochen, also am fünften Mai, wiedersehen. An dem Wochenende halte ich nämlich meinen ersten Vortrag bei einem Kongress in Ostende und wir reisen Samstag dort hin. Ostende liegt übrigens in Belgien, an der Nordseeküste. Einmal frische Seeluft schnuppern, Herr Kestel. Das ist doch was.“

„Danke Herr Doktor. Für alles. Ich stehe ihnen gerne zur Verfügung.“ Kestel wandte sich ab und wollte zur Tür gehen, als Dr. Friesgart seinen Chef fragend anblickte: „Herr Dr. Barters, darf ich fragen, ob sie bezüglich meiner Person schon eine Entscheidung getroffen haben? Wird es mir gestattet sein, ebenfalls an dem Kongress teilnehmen zu dürfen? Ich möchte zu bedenken geben, dass ich ja nicht unerheblich in die Sache involviert bin.“

„Nun, Herr Dr. Friesgart“, Barters spielte mit dem Kugelschreiber zwischen seinen Fingern herum und klopfte dann damit leicht auf die Schreibtischplatte. „Noch habe ich keine Entscheidung getroffen. Zu gegebener Zeit werde ich sie aber über meinen Entschluss unterrichten.“ Er nickte seinem Assistenten noch einmal aufmunternd zu und widmete sich dann den von Kestel unterschriebenen Papieren.

Dr. Friesgart und Tobias Kestel verließen leise den Raum und schlossen ebenso leise die Tür hinter sich.

Dr. Barters hatte in der Tat schon darüber nachgedacht, seinen Assistenten zu den Kongressen mitzunehmen. Doch bisher war er zu keinem Entschluss gelangt. Einerseits würde ihn die Anwesenheit Dr. Friesgarts davon entlasten, Tobias Kestel ständig um sich zu haben, andererseits aber bedeutete die Anwesenheit des Kollegen auch eine Menge Mehrkosten. Hotelzimmer, Essen und - wenn sie nicht gerade mit seinem Auto fahren konnten - auch noch Reisekosten. Dass Friesgart nicht mit einer Vergütung irgendwelcher Höhe rechnen dürfte, hatte Dr. Barters ihm schon frühzeitig klargemacht.

Er nahm ein leeres Blatt zur Hand. Diese Entscheidung würde er auf klassische Art und Weise lösen, indem er alle Vor- und Nachteile akribisch notieren würde. Mit dem Kugelschreiber zog er eine senkrechte Linie in der Mitte der Seite. Dann notierte er links ‚Vorteile‘ und rechts ‚Nachteile‘.

Fünfzehn Minuten später stand auf der linken Blattseite lediglich ‚Kestel betreuen‘ und dahinter auch noch ein dickes Fragezeichen, denn Tobias Kestel könnte doch auch ohne Aufsicht bleiben. Er war ja schließlich kein Patient von ihm mehr, sondern ein freier Mann. Aber Friesgart hatte ihm bisher immer ohne zu zögern und ohne dumme Fragen zu stellen zur Seite gestanden. Und damit das auch so bliebe, musste er ihm hin und wieder schon ein kleines Bonbon zuwerfen. Eine Belohnung für die geleisteten Dienste. Barters schrieb auf der ‚Vorteilen‘ Seite ‚Belohnung an Friesgart‘ hin. Der Mann war nur ein mittelmäßiger Arzt - nein, nicht mittelmäßig, überlegte Barters, Friesgart war schlechter als mittelmäßig - aber dafür ein loyaler Mitarbeiter. Nicht so, wie dieser junge Schnösel Gelsmann.

Der Gedanke an seine Bewertung der Leistungen Dr. Friesgart wanderte in seinem Gehirn hin und her und bot ihm schließlich die Lösung seines Problems: Was Dr. Friesgart brauchte, das waren Lehrgänge. Eine Erweiterung seines Wissens. Und was käme da besser in Frage, als der Besuch von Fachkongressen? Natürlich auf Kosten der Klinik, denn hier ging es ja um die Weiterbildung eines Arztes mit unbestreitbarem Nutzen für die Psychiatrie. Er, als Vorgesetzter seines Assistenten, müsste lediglich den oder die Anträge entsprechend formulieren. Wer sollte dem jungen Arzt dann eigentlich die so dringend erforderlichen Fortbildungen verwehren? Dr. Barters machte sich auf seinem Zettel ein paar Notizen und rieb sich vergnügt die Hände.

Dr. Friesgart lehnte sich in dem bequemen Bürosessel zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Sein Blick schweifte durch das große Büro. Hier war alles nur vom Feinsten, Dr. Barters hatte sich bei der Einrichtung nicht lumpen lassen. Aber das zahlte ja ohnehin alles die Klinik. Eines Tages würde er, Dr. Friesgart, hier auf diesem Sessel sitzen. Und zwar nicht nur, wenn der Chef in Urlaub war oder wie jetzt das Wochenende zu Hause genoss. Er warf einen kurzen Blick auf die Wanduhr. Noch blieb ihm ein wenig Zeit, bis er mit diesem Tobias Kestel zu dessen neuer Wohnung fahren musste. Der Mann ging ihm gehörig auf die Nerven und Friesgart graute schon vor den kommenden Tagen, wenn er den Aufpasser spielen sollte. Aber auch die Zeit würde vergehen und sein Ziel waren dieser Chefsessel und dieses Büro. Was bedeuteten da schon einige Tage, die er mit diesem Kestel verbringen musste?

Aber zunächst beschäftigte ihn hauptsächlich die Frage, ob Barters ihn nun zu den Kongressen mitnehmen würde, oder nicht. Vorsichtig, um ja nichts auf dem Schreibtisch zu verändern, blätterte er in dem Terminkalender. Die ersten Kongresstermine waren schon eingetragen, jedoch fehlte irgendein Hinweis darauf, ob er dabei sein würde. Er blätterte wieder zurück und sorgte dafür, dass der Kalender wieder exakt wie zuvor dalag. Dr. Friesgart zog an der obersten Schreibtischschublade, die bewegte sich allerdings keinen Millimeter. Abgeschlossen. Auch die anderen Schubladen ließen sich nicht öffnen. Friesgart seufzte laut auf. Hier würde er nicht weiterkommen. Dann fiel sein Blick auf Tobias Kestels Unterlagen. Lustlos blätterte er sie durch, ohne Hoffnung etwas Relevantes zu finden. Doch diesmal war ihm das Glück holt. Unter den Seiten fand er Barters handgeschriebenen Zettel mit den zwei Spalten. Friesgart grinste. Hatte der Alte sich ja doch schon Gedanken gemacht! Allerdings befanden sich unter der Überschrift ‚Nachteile‘ mehrere Eintragungen, wogegen bei ‚Vorteilen‘ nur der durchgestrichene Satz stand.

Und dann entdeckte Dr. Friesgart die Notiz, ihn auf Klinikkosten zu den Kongressen mitzunehmen. Barters hatte sogar ein Wort mehrere Male unterstrichen und mit drei Ausrufezeichen versehen: ‚Fahrtkostenerstattung!!!‘. Der alte Fuchs wollte sich offensichtlich einen Teil der Kosten von der Klinik zurückholen.

Dr. Friesgart war es egal. Hauptsache er konnte dabei sein! So ein Kongress ließ sich immer mit einem netten Kurzurlaub verbinden, wenn man es verstand, die Situation auszunutzen. Mit ein wenig Geschick fiel es niemanden auf, wenn er diese uninteressanten Vorträge schwänzen und anderen Interessen nachgehen würde. Er musste lediglich zusehen, nicht zu weit vorne zu sitzen. Und wer wusste denn schon, welche Gelegenheiten sich noch ergeben würden? Da waren die Kolleginnen nicht besser als die Männer: Kaum von zu Hause fort und ohne störenden Anhang suchten auch sie amouröse Abenteuer.

Und dieser Tobias Kestel würde schon auf sich selbst aufpassen können. Schließlich war der Mann geheilt, was sollte also schon passieren?

Ein Blick auf die Uhr sagte Dr. Friesgart, dass er schon seit zehn Minuten bei Kestel sein sollte. Hastig, aber sorgfältig, legte er die Papiere wieder auf den Schreibtisch. Nichts würde Dr. Barters verraten, dass er hier gewesen war. Dann erhob er sich wohlgelaunt und begab sich zu Tobias Kestel.

„Herr Doktor, ich dachte schon, sie hätten mich vergessen“, begrüßte ihn Tobias Kestel, der fertig angezogen neben einem kleinen Koffer stand. Friesgart konnte sich gut vorstellen, dass der Mann ungeduldig auf ihn gewartet hatte.

„Keine Sorge, ich habe sie nicht vergessen. Ich musste nur noch ein paar dringende Dinge erledigen. Sind sie fertig, können wir gehen?“

„Ja, Herr Doktor.“ Kestel nahm seinen Koffer auf und folgte dem Arzt durch die Klinikgänge in die Freiheit.

Dr. Friesgart beobachtete den Mann auf dem Beifahrersitz aus den Augenwinkeln. Sie hatten ihr Ziel, Tobias Kestels kleine Wohnung, fast erreicht und fuhren in langsamem Tempo gerade an einem Kinderspielplatz vorbei, auf dem zahlreiche Jungen und Mädchen ausgelassen tobten. Doch Kestel schien sich für das Treiben dort nicht zu interessieren. Er blickte stoisch durch die Windschutzscheibe und sein Gesicht zeigte keine Regung. ‚Prima‘, dachte Friesgart, ‚das kann doch nur ein positives Zeichen sein‘. Sie brauchten für die kurze Strecke von der Klinik nach Köln Chorweiler wegen des Verkehrs nahezu zwanzig Minuten und Kestel hatte während der Fahrt bisher noch kein Wort gesprochen. Aber das kannte Friesgart schon, ihr Patient war noch nie besonders gesprächig gewesen. Sie ließen den Spielplatz hinter sich und der Arzt bog in die Straße, in der Kestel ab heute wohnen würde, ab. Bei den Häusern handelte es sich um eine ganze Ansammlung von Hochhäusern, die auch schon bessere Zeiten erlebt hatten. Kestels Wohnung befand sich in der sechsten Etage, doch es gab zum Glück einen Aufzug. Die Gegend gehörte nicht zu einer der Bevorzugteren, wer hier wohnte konnte sich nichts anderes leisten oder lebte auf Staatskosten. Ein erster Eindruck, der sich auch bestätigt hatte, ließ Friesgart erkennen, dass hier vorwiegend Ausländer lebten. Oder Deutsche mit Migrationshintergrund, was für Friesgart aber dasselbe darstellte. Doch die Mietkosten waren nicht sehr hoch und Tobias Kestel würde sie aus seinen Einkünften im Altersheim bezahlen können.

Dr. Friesgart hatte Glück und er fand auf Anhieb einen Parkplatz. „So, da sind wir Herr Kestel“, bemerkte er überflüssigerweise, löste seinen Sicherheitsgurt und stieg aus dem Wagen. Ein paar Jugendliche spielten ein Stück weiter auf der Straße Fußball und nutzten eine Hauswand als Tor. Immer wenn der schwere Lederball gegen die Wand flog, gab es ein dumpfes Geräusch, das an das Schlagen einer Trommel erinnerte. Friesgart hoffte nur, dass sein Wagen nicht beschädigt oder zerkratzt wurde. Dies war keine Gegend, in der er sich wohlfühlte.

Tobias Kestel nahm sein Gepäck aus dem Kofferraum und wandte sich der Eingangstür zu. Sie besaßen beide einen Schlüssel zu dem Haus und der Wohnung. Sobald seine Aufgabe hier erfüllt sein würde, bekäme Kestel seinen Schlüssel ebenfalls. Damit wäre Friesgart die Bürde dieser Betreuung los. Der Arzt freute sich schon auf den Tag, wenn es soweit war.

Sie fuhren schweigend mit einem Aufzug, in dem es penetrant nach Urin stank, bis in die sechste Etage. Jedes Mal, wenn er hier gewesen war - ob mit Kestel zusammen oder alleine - hatte der Aufzug gestunken. Und jedes Mal wunderte Friesgart sich, unter welchen Bedingungen die Menschen leben konnten. Oder leben mussten.

Es begegnete ihnen niemand und mit weiterhin reglosem Gesichtsausdruck schloss Kestel die Wohnungstür auf. Sie traten in die Räume und der Arzt öffnete als erstes eines der Fenster im Wohnzimmer. Das monotone Klatschen des Balls gegen die Wand drang lautstark zu ihnen herauf. Doch die Luft in der Wohnung roch muffig und abgestanden, so dass er das Fenster nicht einfach wieder schließen konnte. Tobias Kestel hatte mittlerweile seine Jacke abgelegt und es sich auf einem Ohrensessel bequem gemacht. Sie waren übereingekommen, dass er Friesgart die Couch überlassen und mit dem Sessel vorliebnehmen würde, zumal der Arzt ja auch auf dieser Couch die Nächte zubringen musste. Kestel saß in seinem Sessel und starrte reglos die Wand an. So hatte er in der Klinik stundenlang, ja teilweise auch den ganzen Tag über, dagesessen und sich nur dann geregt, wenn er oder Dr. Barters ihm Fragen stellten. Friesgart führte diese Antriebslosigkeit auf die Opiumpflaster zurück, die Dr. Barters dem Patienten regelmäßig verabreichte. Einige der Wirkungen von Fentanyl waren neben einer euphorisierenden auch schmerzstillende und sedierende. Dr. Friesgart zuckte unbewusst mit den Schultern. Was soll’s, Kestel war schließlich Dr. Barters Patient und es war dessen Therapie.

Friesgart sehnte sich nach seiner Wohnung zurück, die selbstverständlich in einer wesentlich besseren Wohngegend lag und auch nicht so beengt war. Aber nicht jeder konnte sich vier Zimmer auf einhundertundzwanzig Quadratmetern leisten. Und wenn es mit seiner Karriere weiter aufwärts ging, dann würde er sich ein großes Haus auf einem großen Grundstück vor den Toren Kölns bauen. Einen Bungalow vielleicht. Ungefähr so, wie Dr. Barters.

Der Arzt ging in die Küche und befüllte die Kaffeemaschine. Es würden langweilige, lange Tage werden. Und Nächte, dessen war er sich bewusst.

Die Kestel Regression

Подняться наверх