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4. Die Kriminalpolizei
ОглавлениеKriminalhauptkommissar Richard Ucker blickte auf, als an seine offene Bürotür geklopft wurde. Ucker war vor neun Jahren in dieses Präsidium im Herzen Kölns versetzt worden und fühlte sich hier von Anfang an sehr wohl. Die Kollegen waren durchweg nett, die Zusammenarbeit hervorragend und die Kollegin, die er damals der Sitte abgeworben hatte, stellte sich als absoluter Glücksgriff heraus. Das kleine Büro, das er von seinem Vorgänger - der in den wohlverdienten Ruhestand gegangen war - übernommen hatte, wurde schon bald für sie beide zu klein, als er und die Kollegin Vanessa Rensen gemeinsam in ein Büro zogen. So dauerte es auch nicht lange und sie bekamen dieses Büro hier.
Ucker blickte auf die Wanduhr, als ein uniformierter Polizist an seinen Schreibtisch trat. Vanessa Rensen befand sich sicher noch in der Kantine, schließlich war es Mittagszeit. Er selbst musste noch dringend einige Papiere durchsehen und sich heute mit einem Butterbrot und dem obligatorischen Apfel begnügen. ‚An apple a day keeps the doctor away‘, sagte Ucker immer, erntete damit aber meistens nur ungläubige Gesichter.
Der Beamte nickte ihm grüßend zu: „Herr Kriminalhauptkommissar draußen wartet ein Mann, der mit jemandem über einen Tobias Kestel sprechen möchte. Ich kann mit dem Namen nichts anfangen, aber ein Kollege meinte, sie wären vielleicht der richtige Ansprechpartner.“
Ucker nickte. Kestel. Er erinnerte sich gut an den Fall, den er vor neun Jahren übernommen hatte. Dieser Tobias Kestel war ein Psychopath, der sich einen Spaß daraus gemacht hatte, kleine Kinder zu Tode zu quälen. Mit Grausen erinnerte Ucker sich an den Kellerraum mit dem Metalltisch und die vielen chirurgischen Instrumente. Und an das kleine Mädchen, das sie ganz knapp vor einem qualvollen Tod gerettet hatten. Ucker überlegte. Mia hieß sie, Mia Hensenbrugger. „Ja, das ist wohl richtig“, seufzte er. „Worum geht es denn?“ Kestel hatte man damals auf lebenslange Zeit in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Vielleicht wollte der Besucher ihm jetzt von dem Tod des Psychopathen berichten.
„Das weiß ich nicht. Der Mann heißt Meunier, Dr. Mathéo Meunier. Was er möchte, hat er nicht gesagt.“
„Na gut, bringen sie ihn zu mir. Und danach rufen sie bitte die Kollegin Vanessa Rensen an und fragen sie sie, ob sie bei dem Gespräch mit Dr. Meunier anwesend sein möchte. Ich warte dann so lange auf sie.“
Der Beamte nickte, wandte sich um und machte einen Schritt zur Tür. Dann stockte er und drehte sich erneut zu Ucker: „Und wenn sie nicht möchte?“
„Da machen sie sich mal keine Gedanken drum, Vanessa Rensen möchte mit Sicherheit!“ Die Kollegin arbeitete damals noch bei der Sitte und hatte die Aufgaben des Kommissars Achim Forner übernommen, der über die Feiertage lieber in Kurzurlaub gefahren war, als bei der Suche nach der kleinen Mia zu helfen. Ucker hatte es nach der Festnahme Kestels geschafft, dass Forner sich auf einen Posten im hintersten Bayern bewarb. Ein Abstellgleis, aber damit wurde die Planstelle für Vanessa Rensen frei.
Der Polizist betrat das Büro mit einem Mann, den Ucker auf siebzig Jahre schätzte. Der Arzt maß zwischen einem Meter fünfundsechzig und einem Meter siebzig, trug eine Halbglatze und wog gut und gerne an die hundertvierzig Kilo. Für einen Arzt musste er einer äußerst ungesunden Lebensweise frönen.
Ucker erhob sich und hielt Meunier die Hand hin. „Kriminalhauptkommissar Ucker“, stellte er sich vor, während sie sich die Hände schüttelten. Was kann ich für sie tun?“
„Dr. Mathéo Meunier“, erwiderte der Arzt. „Ich arbeite in einer psychiatrischen Privatklinik hier in Köln. Es geht um den Fall Tobias Kestel.“
Ucker nickt und wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Bitte nehmen sie doch Platz. Wir müssen uns allerdings einige Sekunden gedulden, ich warte noch auf meine Kollegin. Der Fall Kestel ist mir aber bestens bekannt, denn wir haben den Mann damals festgenommen.“
In diesem Moment stürmte Vanessa Rensen in den Raum. Die mittlerweile Dreiunddreißigjährige trug immer noch das schulterlange, schwarze Haar, das Ucker schon vor neun Jahren so faszinierte. Und sie hatte in all den Jahren kein Gramm zugelegt, was Ucker von sich leider nicht behaupten konnte. Der Hauptkommissar blickte auf eine imaginäre Armbanduhr und lächelte seine Kollegin an: „Das ging aber verdammt schnell. Ich hätte mit zwei Minuten später gerechnet.“
„Ich habe die Treppe genommen. Wenn’s um diesen Kestel geht ...“ Sie blickte den Arzt an, der mittlerweile wieder aufgestanden war. „Sie sind Dr. Meunier?“
„Ja.“ Beide schüttelten sich die Hände. Dann zog Vanessa ihren Bürostuhl heran und schob ihn an das Ende von Uckers Schreibtisch. „Möchte jemand Kaffee?“
Ucker nickte: „Eine gute Idee. Und sie Dr. Meunier? Wir haben zwar nur Kaffee aus dem Automaten, doch der schmeckt erstaunlich gut.“
Meunier lächelte: „Gerne. Für mich mit Milch und Zucker. Wenn ich jetzt hier noch meine Pfeife rauchen darf, fühle ich mich schon fast wohl.“
Während Vanessa Rensen den Raum wieder verließ, schüttelte Ucker den Kopf: „Damit kann ich leider nicht dienen.“ Er zeigte auf den Rauchmelder an der Decke. „Strenges Rauchverbot. Und obendrein sind die Dinger alle per Funk miteinander verbunden. Löst einer davon aus, ist hier im Präsidium die Hölle los, weil dann alle Rauchmelder Alarm geben. Sie werden sich mit dem Kaffee zufriedengeben müssen.“
„Ja, ja, die moderne Technik“, stöhnte Meunier gespielt gequält auf und beide lachten.
Vanessa Rensen brauchte diesmal länger, als von der Kantine im Keller bis ins Büro. Mit einem Lächeln reichte sie Meunier und Ucker die Becher und nahm schließlich auf ihrem Stuhl Platz.
„Also, Herr Dr. Meunier, worum geht es denn? Ist Kestel in ihrer Klinik verstorben?“
Dr. Meunier schüttelte den Kopf. „Nein, tot ist er nicht und es handelt sich auch nicht um die Klinik, in der ich arbeite. Tobias Kestel wurde in einer Landesklinik behandelt und ich arbeite in einer privaten. Nein, die Sache ist wesentlich brisanter und wenn sie mir erlauben, möchte ich zwecks Erklärung zunächst ein wenig ausholen.“
Ucker und seine Kollegin nickten gleichzeitig. Wenn es um diesen Kestel ging, nahmen sie sich die erforderliche Zeit. Insbesondere, wenn die Sache ‚brisant‘ sein sollte.
Dr. Meunier fuhr nach einem Schluck Kaffee fort: „Übrigens sehr gut, ihr Kaffee. Also: Einige Kollegen und ich unterhalten einen kleinen Zirkel von Gleichgesinnten, um uns fachlich auszutauschen und Neuigkeiten zu erfahren. Diese Gruppe trifft sich nunmehr seit mehr als zwanzig Jahren zweimal monatlich zu einem - na, ich nenne es mal - ‚Arbeitsessen‘. Unserem Kreis gehörte bis zu seiner Pensionierung auch Dr. Fiemrer an, dem die Behandlung, vielleicht besser ‚Betreuung‘, von Tobias Kestel unterlag. Ich zeigte damals - und heute auch noch - Interesse an dem Fall und Dr. Fiemrer und ich diskutierten oft darüber. Der Kollege war der Meinung - und der kann ich mich nur anschließen - dass eine Heilung Kestels, egal mit welcher Therapie, vollkommen ausgeschlossen sei. Tobias Kestel dürfte niemals wieder auf die Menschheit losgelassen werden.“
Dr. Meunier nahm einen weiteren Schluck Kaffee, während Ucker und Rensen ihm kurz zunickten.
„Vor einem Jahr und zwei Monaten ging der Kollege Fiemrer in den Ruhestand. Der Nachfolger, ein Dr. Barters, tauchte kurz darauf bei uns im Club als neues Mitglied auf. Dazu muss ich jetzt folgendes erklären: Die Aufnahme in unseren Zirkel erfolgt nur nach ausgiebiger Prüfung der Person und einer einstimmigen Abstimmung aller Mitglieder. Bei Barters war dies nicht der Fall. Aus irgendwelchen Gründen - ich nehme an, dass Geld im Spiel war - konnte Barters unserer Gruppe ohne Prüfung oder Abstimmung beitreten. Ich kann es nur vermuten und habe es nie gesagt, aber Barters Vater besitzt sehr viel Geld und man munkelt, dass Barters auch nur dank einer ‚Spende‘ an der Klinik den Job bekommen hat. Nach meiner unmaßgeblichen Meinung ist Dr. Barters nicht geeignet, dort zu praktizieren. Aber das nur am Rande. Wichtiger ist in diesem Zusammenhang, dass Dr. Barters die Meinung seines Vorgängers absolut nicht teilte oder teilt und der festen Ansicht ist, Tobias Kestel könnte geheilt werden.“
Hauptkommissar Ucker warf einen Blick auf seine Kollegin und stellte fest, dass die den Arzt mit bleichem Gesicht ansah. Ucker selbst spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich, denn wenn Meunier das aussprechen würde, was er jetzt vermutete, wäre es eine Ungeheuerlichkeit.
Dr. Meunier nickte: „Ich sehe ihnen an, dass sie schon vermuten, was ich ihnen zu sagen habe: Ja, laut Dr. Barters ist Tobias Kestel geheilt und - ja - Tobias Kestel befindet sich in Freiheit. Zwar momentan noch unter der Aufsicht von Barters Assistenten, einem Dr. Friesgart, doch früher oder später wird Kestel keiner Kontrolle mehr unterliegen.“
„Das kann doch nicht sein“, stöhnte Vanessa. „Wie kann so etwas passieren? Gibt es keine Prüfungen des Falls, keine unabhängigen Gutachten?“
„Dr. Barters will die ‚Heilung‘ seines Patienten benutzen, um seine fachliche Reputation zu festigen. Er plant offensichtlich, Tobias Kestel auf diversen Kongressen vorzuführen. Eine Gruppe von Ärzten und ich haben versucht, zu intervenieren und die Entlassung Kestels zu verhindern, sind aber gescheitert. Sie können mir glauben, dass ich lange mit mir gerungen habe, denn es fiel mir nicht leicht, hier bei ihnen einen Kollegen anzuschwärzen. Deswegen möchte ich sie auch bitten, die Angelegenheit verschwiegen zu behandeln. Tobias Kestel muss in die Klinik zurückkehren. Kann man ihn denn nicht ins Gefängnis stecken? Wenn er laut Dr. Barters schon als geheilt gilt?“
Uckers nickte versonnen. „Das wird vermutlich nicht so einfach sein. Ich bin kein Rechtsanwalt, aber ich vermute einmal, dass die Klinik, beziehungsweise dieser Dr. Barters sich beizeiten über die rechtlichen Belange informiert hat. Wir werden diesen Aspekt aber auf jeden Fall prüfen. Ich bin ebenfalls der Meinung, dass Kestel auf keinen Fall auf freiem Fuß bleiben darf. Ich - also wir - haben damals gesehen, was Kestel mit den kleinen Kindern gemacht hat und wie das Loch aussah, in dem er dies tat. Es war grausam.“
Ucker nahm einen Schluck und stellte den Becher hart auf seinen Tisch zurück. Er unterdrückte mühsam seine aufkommende Wut. „Wie können wir sie erreichen, Dr. Meunier? Haben sie ein Smartphone?“
„Hier“, Meunier zog einen Zettel aus der Tasche. „Ich habe das schon vorbereitet. Dort steht meine Anschrift und darunter finden sie eine Auflistung der Kollegen, die mit mir einer Meinung sind. Sollte es eine Möglichkeit geben, Tobias Kestel wieder hinter Gitter zu bringen - in eine Klinik oder ins Gefängnis - dann finden sie sie bitte.“
Ucker nickte. „Das werden wir. Darauf können sie sich verlassen, Dr. Meunier. Ich danke ihnen für die Information, auch wenn wir lieber etwas anderes über Kestel vernommen hätten. Sie werden auf jeden Fall von uns hören!“
Sie schüttelten sich die Hände und Meunier verließ das Büro. Zurück blieb sein Kaffeebecher auf dem Schreibtisch.
„Verdammte Scheiße“, gab Kriminalkommissar Ucker von sich und Vanessa Rensen nickte.
„Was können wir tun?“, fragte sie und blickte ihren Kollegen an. „Ob es eine Möglichkeit gibt, Kestel wieder zurück in die Klinik zu bekommen?“
„Vielleicht. Allerdings können wir uns jetzt nicht nur um diesen Kestel kümmern und die aktuellen Fälle vernachlässigen. Wie sieht’s denn mit dem Mord an dem Rentner aus?“
Vanessa Rensen schüttelte den Kopf: „Da stecken wir momentan in einer Sackgasse. In der kleinen Wohnung gibt es zu viele Spuren. Alles deutet darauf hin, dass der Täter der eigene Enkel ist, doch noch haben wir keine Beweise.“
„Würde es etwas bringen, den Knaben verschärft zu verhören?“
Wieder schüttelte die Hauptkommissarin den Kopf: „Bei dem Bürschchen handelt es sich um ein ziemlich abgebrühtes Exemplar Mensch. Außerdem ist der Mann rauschgiftsüchtig. Ein Motiv ist somit gegeben: Beschaffungskriminalität. Aber wir wissen nicht, ob aus der Wohnung etwas gestohlen wurde. Der Rentner lebte allein und sehr zurückgezogen. Die Familie mied ihn größtenteils.“
Ucker sah die Kollegin an: „Gut, Vanessa. Bleib auf jeden Fall an der Sache dran. Ich kümmere mich erst einmal um Kestel. Ein Bekannter von mir schuldet mir noch einen Gefallen und er hat einen Freund, der Anwalt ist. Ich werde ihn später anrufen, vielleicht kann er mit dem Anwalt sprechen, oder sogar dafür sorgen, dass ich selbst einige Fragen an ihn richten kann.“ Der Kriminalhauptkommissar überlegte einen Moment, dann meinte er: „Ja, vielleicht ist es wirklich besser, wenn ich mit dem Anwalt persönlich spreche. Mal sehen, was sich da machen lässt ...“
„Okay, dann kehre ich wieder zum Tagesgeschäft zurück.“ Vanessa rollte den Bürostuhl an ihren Schreibtisch zurück und klickte kurz darauf auf ihrer Computertastatur herum.
Richard Ucker griff zum Telefonhörer, zog dann aber die Hand zurück und blickte die Kommissarin an. „Vanessa. Eine Bitte habe ich doch noch: Wenn du etwas Zeit abzweigen kannst, dann versuche doch herauszufinden, was Tobias Kestel momentan so treibt und wo er sich aufhält. Es schadet nicht, wenn wir über ihn ein wenig informiert sind.“
„Klar Chef“, entgegnete sie. „Mach ich.“