Читать книгу Deutsche Schicksale 1945 - Zeitzeugen erinnern - Jürgen Ruszkowski - Страница 10
ОглавлениеAls Kind in Stettin im Bombenkrieg und Flucht aus Pommern
Marianne Pletzer, geboren 1935, verstorben im Mai 2002 berichtet:
Mein Vater wurde sofort bei Ausbruch des Krieges eingezogen und war später in Frankreich stationiert. Als etwas Schlimmes konnte ich mir in diesen Tagen den Krieg nicht vorstellen. Als mein Vater auf Urlaub kam und herrliche Dinge aus Frankreich mitbrachte, dachten wir Kinder, es würde so weitergehen. Aber die ersten Fliegeralarme und Luftangriffe auf unsere Heimatstadt lehrten uns ganz schnell zu begreifen, dass der Krieg etwas Schreckliches, Bedrohliches war. Mein Vater war inzwischen an die Ostfront verlegt worden. Es kamen keine Päckchen mit Bohnenkaffee mehr, und auch auf Briefpost von ihm mussten wir sehr lange warten. Die Nachbarin, die oft auf uns Kinder aufpasste, erhielt schreckliche Post, so dass meine Mutter sie im Arm hielt und trösten musste. Ihr ältester Sohn war gefallen! Als dann wieder so eine schreckliche Nachricht kam, klingelte die Briefträgerin erst bei uns, damit meine Mutter mitgehen konnte, um diese erneute Schreckensnachricht zu überbringen. Der zweite Sohn war gefallen.
Für uns wurde nun der Luftschutzkeller zur zweiten Wohnung. Fast jede Nacht war Fliegeralarm. Meine Mutter schickte uns Kinder sehr früh am Abend schlafen, sie selbst blieb auf, um uns beim ersten Heulton der Sirenen zu wecken. Dann hasteten wir über unseren dunklen Hof zum Nachbargrundstück, wo der Keller als Luftschutzraum hergerichtet war. Meine Mutter schleppte unseren jüngsten Bruder, wir Größeren trugen kleine Handgepäckstücke. Im Luftschutzkeller trafen wir dann bekannte und unbekannte Nachbarn. Die größeren Kinder saßen mit weißen, verschlafenen Gesichtern neben den Müttern, die kleinen weinten vor sich hin. In den meisten Fällen kam nach einiger Zeit die Entwarnung, und wir kehrten in unsere Wohnung und unsere Betten zurück. Aber nicht immer flogen die Verbände der Alliierten über Stettin hinweg.
Immer häufiger wurde auch unsere Heimatstadt bombardiert. Im Frühjahr 1942 erlebten wir dann einen ganz schlimmen Angriff. Es begann wie so oft und nicht anders als sonst. Alarm nach 22 Uhr, der dunkle Himmel von grellen Scheinwerferfingern erhellt, die nach den Fliegern suchten. Wir hatten unseren Schutzraum noch nicht erreicht, da fielen die ersten Bomben. Die Luftschutzwartin scheuchte uns alle in den Keller, wir saßen kaum, da detonierten die ersten ganz in unserer Nähe. Wir waren alle starr vor Angst! Ich schaute immer auf die vielen Leitungen, die den Keller durchzogen, hatte ich doch in Gesprächen mitgehört, dass solche Leitungen bei Bombardierungen geplatzt waren. Es waren Wasser- und Gasleitungen. Das Licht im Keller flackerte, und wir horchten alle auf die Einschläge. Dann plötzlich ein schrecklicher Pfeifton, und das Licht erlosch. Die Kellerluft war voller Staub, und man konnte kaum atmen. Jetzt sind wir verschüttet, dachte ich voller Entsetzen. Dann leuchteten Taschenlampen auf. Man sah aber vor Staub kaum den Lichtkegel. Plötzlich bekamen wir nasse Tücher um die Ohren geklatscht, die sollten wir uns vor Mund und Nase pressen. Es herrschte Panik in dem Keller! Nach einer uns endlos vorkommenden Zeit ging das Licht wieder an, und wir erfuhren von der Luftschutzwartin, dass unser Häuserblock noch heil war. Ganz in der Nähe war eine Luftmine heruntergekommen und hatte eine ganze Tankstelle weggerissen. Es dauerte lange in dieser Nacht, bis endlich Entwarnung war. Als wir dann in unsere Wohnung zurückkamen, sah es dort verheerend aus. Kaum eine Fensterscheibe war noch heil. Die Lebensmittel waren aus dem Küchenschrank gefallen, und alles war voller Scherben. Es war für uns furchtbar.
Diese schlimme Nacht hatte zur Folge, dass meine Mutter beschloss, von nun an bei Alarm den großen Bunker am Ende unserer Straße aufzusuchen. Der kleine Bruder kam dann in die Sportkarre, mit der auch die Tasche transportiert werden konnte. Es ging nun immer im Laufschritt. Manchmal fielen in anderen Stadtteilen schon die Bomben, bis wir endlich den schützenden Bunker erreicht hatten. Bei den schweren Angriffen bebte der Koloss, dass es einem vor Angst ganz schlecht wurde. Aber im Bunker fühlten wir uns doch viel sicherer als im Keller.
Auch an meinem ersten Schultag mussten wir einen Luftschutzbunker aufsuchen. Am hellen Tage gab es selten Alarm, dafür aber fast Nacht für Nacht. Das ging natürlich sehr an unsere Gesundheit, so dass wir Kinder häufig krank waren. Vor allem die Kinderkrankheiten grassierten. Es gab auch wenig Ärzte, die meisten waren zum Militär eingezogen.
Da das Leben in Stettin wegen der Bombengefahr zu gefährlich wurde, wurden wir im Sommer 1943 nach Ducherow bei Anklam evakuiert, wo ich weiter die Schule besuchte. Tagsüber überflogen uns oft feindliche Flieger. Man hörte ihre Motoren und konnte sie in großer Höhe sehen. Mehr als einmal versteckte sich unserer Mutter mit uns Kindern in großen Strohmieten auf den Feldern. Dann wurde Anklam am hellen Vormittag ganz überraschend bombardiert, und die Aufregung und Panik drang bis in unser Dorf. Meine Mutter hatte endgültig die Nase voll und reiste mit uns Kindern zurück nach Stettin. Im Februar 1944 wurden wir erneut evakuiert, diesmal auf einen großen Bauernhof in Schulzenhagen, einem Ort zwischen Kolberg und Köslin in Hinterpommern.
Wir fühlten uns zwar zunächst fremd, aber merkten sofort, dass wir hier willkommen waren und diese Menschen uns unser Schicksal erleichtern wollten. Meine Mutter verstand sich auf Anhieb mit der Bäuerin, Frau Gödicke. Ich besuchte hier die Dorfschule. Das war ja nun etwas ganz Neues für mich: Alle acht Schuljahrgänge waren in einer Klasse versammelt! Die kleinen ABC-Schützen saßen vorne in der ersten Reihe. Ganz hinten saßen die großen Kinder. Manche der großen Jungen waren größer und stärker als unsere Lehrerin, die sich sehr streng gab und uns bei kleinsten Ungehörigkeiten mit dem Lineal auf die Finger schlug.
So langsam kehrte in Hinterpommern der Frühling ein und eine wunderschöne Zeit begann für mich. Keine Spur vom Krieg! Noch nie hatte ich mich so wohlgefühlt wie hier in Schulzenhagen. Das Leben auf dem Bauernhof war das reinste Abenteuer! Der Bauer war als Soldat eingezogen, aber es gab vier ausländische Hilfskräfte, zwei Ukrainerinnen, Maria und Sina, einen Ukrainer Willi, der das Vieh betreute, sowie den Polen Kasimir, der für die sechs Pferde zuständig war. Die Fremdarbeiter wurden durch die Bäuerin sehr gut behandelt, und man merkte auch, dass sie ihre Arbeit gerne machten. Das Leben auf dem Bauernhof war unbeschreiblich schön! Den Krieg konnte man fast vergessen, wenn nicht ab und zu Meldungen von schrecklichen Angriffen auf unsere Städte und über schwere Kämpfe an der Front gekommen wären. So erhielten wir zur schönsten Sommerzeit auch die erschütternde Nachricht, dass wir in Stettin total ausgebombt waren. Unsere Mutter fuhr nach Stettin und fand statt des Hauses nur noch einen Trümmerhaufen vor!
Nach den Sommerferien fing die Schule nicht wieder für uns an: Unsere Lehrerin war zum Kriegsdienst verpflichtet worden! Auch meine Mutter wurde zum Ausheben von Panzergräben eingezogen! Nun versorgte die Bäuerin meinen Bruder und mich mit. Abends, wenn Klaus und ich im Bett lagen und er sich an mich gekuschelt hatte und längst schlief, musste ich doch oft weinen! Mutter war weit weg von uns im Osten, Papa im Krieg und der ältere Bruder Rudi auf Rügen im nationalsozialistischen Jugendschulungslager.
Im Herbst kehrte meine Mutter endlich zu uns zurück. Uns wurde allen ganz bange, als wir von ihr hörten, die Gräben, welche sie ausgehoben hatte, sollten die russischen Panzer aufhalten. Alle Erwachsenen und auch wir Kinder waren von schrecklichen Vorstellungen geplagt. Schlimm wurde es erst, als mein Vater für ein paar Tage zu uns auf Urlaub kam. Mit eigenen Ohren hörte ich, wir er ganz eindringlich mit meiner Mutter sprach, sie solle sofort Rudi von Rügen zu uns nach Schulzenhagen holen. Und wenn die Russen in Ostpreußen durchbrächen, solle sie uns nach Stettin oder noch besser weiter westwärts in Sicherheit bringen. Mein Vater musste wieder zu seiner Einheit zurück, die auf dem Rückzug schon die Karpaten erreicht hatte. Meine Mutter fuhr Anfang November wirklich los, um Rudi zu holen und brachte ihn nach einigen Tagen tatsächlich mit nach Schulzenhagen.
Das Weihnachtsfest verlief noch relativ ruhig. Die Sylvesternacht war wohl mehr als unheimlich, denn die Oma vom Hof orakelte, nachdem sie hinausgeschaut hatte: „Da steht uns aber ein schlimmes Jahr bevor, ist doch der Himmel rot und die Wolken eilen nur so dahin!“ Man brauchte aber kein Prophet zu sein, um Schlimmes vorherzusagen: Gleich im Januar ging es los! Das Jahr 1945 begann mit den ersten Flüchtlingswellen aus Ostpreußen! Die Bäuerin fuhr nun täglich zur Bahnstation nach Hohenfelde, die Milchkanne voller heißen Malzkaffees, den Kartoffelkorb voller belegter Brote. Die Züge, die aus Ostpreußen kamen, sahen verheerend aus! Meterlange Eiszapfen hingen daran, und sie waren völlig überfüllt mit Flüchtlingen! Wenn ich mal nach Hohenfelde mitfahren durfte und das Schreckliche gesehen hatte, fand ich die ganze Nacht keinen Schlaf!
Vom südlichen Belgard und Körlin und von Osten her kreisten die Russen Kolberg ein
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Im Februar rollten dann die ersten Flüchtlingstrecks auf unseren Hof. Nun brach hier das absolute Chaos aus! Jede Nacht schliefen fremde Menschen auf der Diele. Alle mussten versorgt und betreut werden, Menschen und Vieh! Fast alle Trecks ließen morgens bei der Weiterfahrt etwas von ihrem Gepäck auf dem Hof zurück, was sie für überflüssigen und entbehrlichen Ballast hielten. Es sah aus, wie in einem Warenlager. Das Schlimmste waren die Gespräche, die wir mithörten, von Gräueltaten der Russen unter der Bevölkerung, Angriffen auf die Trecks, unterwegs gestorbenen Älteren und Kindern. Und immer wieder das Wort: Vergewaltigung. Mir war so angst und bange zumute, ich kann es nicht beschreiben! Meine Mutter half tapfer mit, um das tägliche Chaos zu bewältigen.
Da kamen plötzlich Anfang März keine Trecks mehr, dafür hörten wir in der Ferne Kanonendonner! Meine Mutter packte wieder die bekannte Tasche mit unseren letzten Habseligkeiten. Es kam etwas Bedrohliches auf uns zu! Am Morgen des 3. März kam der Ortsbauernführer auf seinem Fahrrad auf den Hof, klopfte an die Fensterscheiben, und als geöffnet wurde, brüllte er hinein: „Keiner verlässt das Dorf!“ und war wieder verschwunden.
Als erste ging Frau Schiffner, die andere Evakuierte aus Stettin, mit ihren beiden Kindern an der Hand vom Hof. Sie trug einen Rucksack. Meiner Mutter und der Bäuerin sagte sie, sie habe genug Geld und wolle versuchen, von der nahen Reichsstraße aus nach Stettin mitgenommen zu werden. Wir haben sie nie wiedergesehen, und niemand weiß, was aus den dreien geworden ist.
Gegen Mittag, der Kanonendonner kam immer näher, ließ Frau Gödicke anspannen, um meine Mutter mit uns drei Kindern zur Bahnstation nach Hohenfelde bringen zu lassen. Der Ukrainer Willi lenkte die Pferde vom Hof. Vor lauter Tränen konnte ich die Zurückbleibenden kaum erkennen, und doch prägte sich das Bild, das ich sah, für immer in meine Seele ein: Frau Gödicke stand in der Haustür, beide Kinder umarmt, die Oma mit den Händen voller Einmachgläser, die man nun auch für die Flucht einpacken wollte. Aus der Scheune zogen Sina und Maria zusammen mit dem Polen den großen Leiterwagen heraus, um ihn für den Treck zurechtzumachen. Dieses geschah im absoluten Zeitlupentempo. Nun rollten wir nach Hohenfelde. Schon von weitem sahen wir, dass der kleine Bahnhof voller Menschen war. Wir standen nun zwischen den vielen Leuten und warteten, dass endlich ein Zug käme.
Am späten Nachmittag rollte auch tatsächlich ein Güterzug, der nur aus Loren bestand, heran. Alles stürmte auf den Zug, der im Nu voller Menschen war. Meine Mutter hatte in dem Gedränge große Mühe, uns zusammenzuhalten. Dann setzte sich der Güterzug langsam in Bewegung, und gleichzeitig begann ein schlimmer Schneesturm. Meine Mutter hatte zum Glück außer dem Handgepäck einen Sack voll mit Decken und Kissen mitgenommen. Eine der Decken holten wir heraus und hielten sie wie ein Zelt über unsere Köpfe. Der Zug rollte ganz langsam bis Henkenhagen, eine Station vor Kolberg. Hier mussten wir alle runter vom Zug, es ging nicht weiter, weil sich vor Kolberg die Züge stauten, alleine 22 aus Richtung Belgard. Auch hier das gleiche Bild: Alles schwarz von Menschen im und um das Bahnhofsgebäude. In der überfüllten Bahnhofshalle fanden wir in einer Ecke ein Plätzchen, wo wir uns hinkauerten und auch tatsächlich in einen unruhigen Schlaf fielen. Dann gegen Morgen, es war noch dunkel, kam plötzlich Bewegung in all die Menschen, die am Boden lagen. Alles stand auf und stürmte hinaus. Voller Entsetzen sahen wir in der Ebene, Henkenhagen lag etwas erhöht, dass überall brennende Flecken waren! „Das sind unsere Dörfer, da, unser Dorf steht in Flammen“, so hörte man um sich herum die Leute schreien. Es war furchtbar! Ich dachte an die zurückgebliebenen armen Menschen in Schulzenhagen. Ein Grauen beschlich mich.
Im Morgengrauen wurde ein Zug nach Kolberg eingesetzt. Dort mussten wir alle das Bahnhofsgebäude verlassen. Über Tote hinweg, die in der Bahnhofshalle lagen, liefen wir hinaus zu einer in der Nähe des Bahnhofs gelegenen Gaststätte. NSV-Schwestern reichten uns warme Getränke, und meine Mutter wollte uns gerade das zweifach übereinander gezogene Zeug ausziehen, da hieß es plötzlich: Alle schnell wieder zum Bahnhof! Es fährt noch ein Zug in Richtung Westen, dann wird Kolberg zur Festung erklärt. So schnell wir konnten, eilten wir, schon unter Beschuss von See her, zum Bahnhof zurück. Dort stand tatsächlich ein Zug bereit. Aber was für ein Zug! Er bestand nur aus dachlosen Wagen, ganz vorne, gleich hinter der Lok, ein Personenwaggon. In diesen durften nur Schwangere und Mütter mit ganz kleinen Kindern einsteigen. Meine Mutter kletterte mit uns in einen der Wagen, und es dauerte nur wenige Minuten, da setzte sich der Zug in Bewegung und fuhr aus Kolberg hinaus. Der Wagen, in dem wir kauerten, war ganz voller Menschen. Man konnte sich gerade etwas hinsetzen, aber weder hinlegen oder gar umhergehen.
Nun begann eine fast endlose Fahrt. Immer wieder stand der Zug stundenlang still, es schneite auf uns herab, es fror nachts, und uns war entsetzlich kalt. In der Ecke des Waggons stand ein leerer Kinderwagen, in ihn stopfte meine Mutter unseren Bruder Klaus. Er lag zwar ganz gekrümmt darin, aber die Kissen, die wir auf die Flucht mitgenommen hatten, hielten ihn warm. Hinter einer hochgehaltenen Decke musste man auf einem Eimer sein kleines oder großes Geschäft machen. Der Inhalt des Eimers wurde einfach über die Wände nach draußen geschüttet. Es waren ganz schlimme Zustände!
Das Wenige, was wir zum Essen mitgenommen hatten, war bald all und es kam der schlimme Durst! Die größeren Jungen, die in unserem Waggon waren, kletterten manchmal hinaus, wenn der Zug wieder stundenlang stillstand. Das war sehr riskant, niemand wusste, wann es weiterging. Und doch kamen sie mit Wasser und manchmal sogar mit Milch wieder bei uns an: Wie ein Wunder war es, dass wir keinen der Jungen verloren haben. Die Kinder bekamen dann alle etwas Milch, und etwas wurde noch aufgehoben. Der Rest war dann am Morgen zu Eis gefroren, woran wir nur lutschen konnten.
Je näher wir nach Stettin kamen, desto gefährlicher wurde es für uns. Über unseren Köpfen tobten regelrechte Luftkämpfe. Tiefflieger schossen auf unseren Zug herab, und mehr als einmal hatte ich mich in diesen Tagen aufgegeben! Den Kopf gegen die Waggonwände gepresst, die Augen geschlossen, so wartete ich, dass der Tod käme. Aber manchmal täuschten wir uns auch, glaubten, wir würden angegriffen, aber die Tieffliegerangriffe und Bombenabwürfe galten der in unserer Nähe vorbeiführenden Straße. Dort staute sich das Militär auf dem Rückzug. Bei einem der Angriffe gerieten die beiden letzten Waggons unseres Zuges in Brand. Sie wurden schnell abgekoppelt. Ob es dabei Tote und Verletzte gab, war für uns nicht zu erfahren.
In der Nacht setzten die feindlichen Flieger sogenannte Christbäume über unseren Köpfen ab, Markierungen für die folgenden Angriffe. Inzwischen war im Nachbarwaggon ein alter Mann gestorben. Seine Angehörigen wollten ihn nicht zurücklassen und banden ihn mit Stricken außen an den Waggon. Es war schaurig!
Für meine Mutter stand nun fest, dass sie diesen schrecklichen Zug in Stettin verlassen musste. Sie wollte mit uns zu Tante Grete, die noch in ihrer Wohnung in Braunsfelde war.
Am siebten Tag unserer Flucht erreichten wir morgens Stettin. Langsam fuhr der Zug über die Oderbrücke. Soldaten bewachten die an der Brücke befestigten Sprengladungen. Wir standen alle bereit, um, wenn der Zug hielt, irgendwie herauszukommen. Die jungen Burschen wollten versuchen, die Verriegelung außen aufzumachen. Der Zug wurde langsam und langsamer. Wir fuhren in den Hauptbahnhof ein. Militär und SA-Leute bevölkerten den Bahnsteig. Als die den am Waggon hängenden Toten sahen, drehten sie sich mit dem Rücken zum Zug. Wir warteten, dass der Zug halten würde – da heulten die Sirenen: Fliegeralarm! Der Zug nahm wieder Fahrt auf und verließ den Bahnhof und Stettin. Nun fuhr der Zug stetig weiter. An den Ortsnamen erkannten die Erwachsenen: Es ging in Richtung Greifswald. „Dort steigen wir auf alle Fälle aus“, sagte meine Mutter, „von dort schlagen wir uns nach Rügen durch.“ Mir war inzwischen alles egal, hatte ich doch starke Schmerzen am linken Fuß, konnte die Zehen nicht mehr bewegen.
Als wir in Greifswald ankamen, war wieder Militär auf dem Bahnsteig. Keiner durfte den Zug verlassen, aber wir wurden erstmals mit warmen Getränken und belegten Broten versorgt. Dann ging die Fahrt weiter. Stunden später, es war immer noch der siebte Tag unserer Flucht, erreichten wir einen Ort mit dem Namen Grevesmühlen.
Hier wurden wir offenbar schon erwartet. Auf dem Bahnsteig standen viele Hitlerjungen in Uniform mit Handwagen bereit, um uns und unser Gepäck in eine Schule zu bringen. Mich durften sie gleich mit aufladen, konnte ich doch keinen einzigen Schritt mehr gehen.
In der Schule, in der man uns unser Lager auf Stroh angewiesen hatte, stellten wir fest, dass eine Familie aus Schulzenhagen mit dabei war, eine Frau mit ihren zwei 15- und 11jährigen Jungen. Die Frau war zusammen mit meiner Mutter zum Ausheben der Panzergräben eingesetzt gewesen. Es waren auch Evakuierte aus Stettin dabei. Nun gab es wenigstens einige bekannte Gesichter in der Fremde!
Erst einmal kümmerte man sich um meinen Fuß. Der Schuh wurde aufgeschnitten, auch die zwei Strümpfe. Darunter kam ein entsetzlicher Anblick zum Vorschein! Die Zehen waren eine aufgequollene, weiße, wabbelige Masse! Nun wurde ich schnell zu einem in der Nähe wohnenden Arzt transportiert. Als der die Zehen sah, sagte er nur ein Wort: „Amputieren!“ Das nahm meine Mutter aber nicht hin, sondern mit ungeahnter Energie nahm sie mich wieder mit zur Schule. Am selben Tag wurden wir in der Siedlung am Tannenberg zur Familie Tanger in ein Privathaus eingewiesen. Dort legte man mich erst einmal auf das Sofa der Familie in die Wohnküche. Gegen Abend kamen zwei Krankenschwestern, die auch bei Familie Tanger einquartiert waren, von ihrem Dienst im Notlazarett nach Hause. Als erstes untersuchten sie meinen Fuß und kamen mit einer großen Tube Lebertransalbe wieder, womit sie die Zehen behandelten. Nun wurde der Fuß täglich neu verbunden, und tatsächlich fühlte ich nach einiger Zeit wieder Leben in den fast abgestorbenen Zehen: Es kribbelte und juckte! Einen großen Schmerz musste ich noch ertragen, als eines Tages mit einer strammgezogenen Binde die Zehen neu eingeteilt wurden. Aber danach ging es bergauf! Anfang Mai, als sich der endgültige Zusammenbruch des Dritten Reiches ankündigte, konnte ich das erste Mal wieder nach draußen in den Garten gehen. Ein glücklicher Zufall hatte mir meine Zehen erhalten und mich vor einer lebenslangen Behinderung bewahrt!
In dem kleinen Siedlungshaus war jedes Zimmer belegt. Meine Mutter hatte für sich und drei Kinder eine kleine Kammer zugewiesen bekommen. Unter einer Dachschräge standen zwei Betten hintereinander, in denen wir zu viert schliefen. Zur Familie Tanger gehörten zwei Jungen, fünfzehneinhalb und zwölf Jahre alt. Der Ältere arbeitete bereits und erzählte nach Feierabend von den neuesten Parolen, nun werde nämlich die Wunderwaffe eingesetzt. Wir warteten jedoch vergeblich darauf. Dafür kamen nun täglich mehr Soldaten auf dem Rückzug durch Grevesmühlen und mit ihnen die Tiefflieger. Ich war gerade mit Horst Tanger im Garten, da tauchten plötzlich die Flugzeuge hinter den Baumwipfeln des nahen Waldes auf. Wir schafften es nicht mehr bis zum rettenden Haus. Flach auf der Erde liegend, warteten wir den Angriff ab. Er galt aber dem Militär auf der Straße. Anschließend rannten wir schnell in das Haus. Die anderen Bewohner saßen alle auf der Kellertreppe. Nun fielen auch noch Bomben. Das Eingemachte klirrte in den Regalen, und wir hatten mal wieder Todesangst! Aber es ging alles glimpflich ab.
Dann hörte man Gewehrgeknatter. Die Straße war menschenleer! Als wir vorsichtig aus dem Fenster schauten, wehten hier und da weiße Fahnen aus den Fenstern, es waren meist Tischtücher und Bettlaken. Es dauerte aber noch Stunden, da sahen wir plötzlich die Amerikaner. Ganz lässig saßen sie auf ihren Jeeps und schauten uns nicht unfreundlich an. Hin und wieder wurde noch geschossen, aber auch das war bald vorbei. Endlose amerikanische Militärkolonnen durchfuhren Grevesmühlen. Einige Fahrzeuge, sie wurden meist von Farbigen gesteuert, machten in den Anlagen vor dem Bahnhof halt und richteten sich dort erst mal ein.
Einige Tage später, es herrschte Anfang Mai 1945 schon eine große Hitze, marschierten endlose Kolonnen gefangener deutscher Soldaten durch Grevesmühlen. Sie waren so durstig und völlig verschwitzt, aber es war uns Anwohnern nicht erlaubt, ihnen etwas zu trinken zu geben. Am Stadtrand von Grevesmühlen wurde beim Vielbecker See ein riesiges Gefangenenlager eingerichtet. Von der Zivilbevölkerung durfte niemand in die Nähe kommen, die Amerikaner schossen sofort. Im Lager muss sich Grausames abgespielt haben, die Gefangenen lagen auf dem nackten Boden, bald hatten sie sich Erdlöcher gewühlt. Nach einiger Zeit wurden die Gefangenen weiter westwärts nach Schleswig-Holstein gebracht. Der Hang am Vielbecker See hat Jahre gebraucht, um wieder grün zu werden.
Ende Mai brach eine schreckliche Typhusepidemie aus, die den ganzen Sommer über wütete. Fast in jedem Haus waren Erkrankte. Viele Menschen erlagen dieser schlimmen Krankheit, auch junge nahe Bekannte aus der Nachbarschaft, mit denen ich gespielt hatte.
Einige Wochen später lösten britische Besatzer die Amerikaner ab und am 30. Juni 1945 ging die Schreckenskunde von Mund zu Mund: Die Russen kommen! Es wurde eine Ausgangssperre verhängt. Wir liefen im Haus von einem Fenster zum anderen und wollten sehen, was sich draußen abspielte. Das Wohnzimmer der Familie Tanger war wieder frei: Die Krankenschwestern waren plötzlich verschwunden. Dort hatten wir nun einen freien Logenplatz und konnten die Straße übersehen. Am Nachmittag tauchten dann plötzlich Pferdewagen auf, hochbeladen mit Kriegsbeute, sogar Spülklosetts waren angebunden! Die Russen marschierten nebenher. Der ganze lange Tross bewegte sich in Richtung Waldesrand. Nun war die Straße leer, und wir Kinder drückten uns an der Fensterscheibe unsere Nasen platt. Plötzlich kam ein einzelner Russe anmarschiert und steuerte genau auf unser Haus zu. Wir waren alle furchtbar erschrocken. Meine Mutter, so couragiert sie war, ging als einzige an die Haustür. Der Russe trat in den kleinen Flur, drückte meiner Mutter ein Bündel in die Hand und machte eine Bewegung, die hieß, sie solle die Wäsche waschen. Dann verschwand er wieder. Na ja, ich nehme an, die Frauen haben sich angestrengt, alles sauber zu bekommen. Am Abend des nächsten Tages kam der Russe jedenfalls wieder, um seine Sachen abzuholen. Er brachte einen Klumpen in Zeitung gewickelte Butter als Lohn mit. Wir waren alle sprachlos. Diesen Russen haben wir nie wiedergesehen. Dafür lernten wir andere Russen kennen, die uns Kinder immer nett behandelten und uns sogar manchmal Essen gaben. So lernte ich damals das russische Brot kennen, das so feucht und klebrig war, dass man es trocken essen konnte. Einige Russen konnten etwas deutsch sprechen, sie stammten meist aus der Ukraine. Sie erzählten uns von ihrem Zuhause. Manchmal weinten die ganz jungen Soldaten auch, sicher hatten sie Heimweh. Es kam auch noch vereinzelt zu Übergriffen und Vergewaltigungen an der deutschen Zivilbevölkerung, aber das waren im Juli 1945 schon Ausnahmen.
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