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Mit Pferd und Wagen von Ostpreußen bis Lübeck


Stationen einer Flucht

Abdruck mit Genehmigung durch Helmut Ramm.

Nach Aufzeichnungen seiner Tante, Frau Helene Krause, geb. Liedtke, die er für eine Internetseite zusammengestellt hat.

Die Flucht aus Romitten im Kreis Preußisch Eylau in Ostpreußen

vom 26. Januar 1945 bis 29. März 1945

Frau Krause hatte diese Aufzeichnungen in einem kleinen Heft während der Flucht und kurz danach gemacht.

Mit meinem Mann, Otto Krause, besaß ich in Romitten einen Bauernhof von 28 ha. Wir hatten neben dem Vieh vier Arbeitspferde, denen wir mit verdanken, dass wir mit unseren Wagen bis Lübeck gekommen sind.

Das erste Mal habe ich im September 1944 an eine Flucht gedacht, weil abends in aller Stille der Geschützdonner der Artillerie in der Ferne zu hören war. Die Front war im Herbst 1944 schon z. T. an die ostpreußische Grenze herangekommen. Eine Flucht zu diesem frühen Zeitpunkt war jedoch verboten, weil laut Bestimmungen derjenige Bauer Haus und Hof verlöre, welcher ohne Genehmigung der Behörden fliehen würde.

Im Oktober 1944 habe ich als Vorbereitung auf eine bevorstehende Flucht 5 Betten in Säcke gesteckt, incl. Unterbetten. Mein Mann war zu diesem Zeitpunkt (ab 25.7.1944) als Soldat in Pommern. Im Oktober 1944 kamen bereits Flüchtlinge aus dem östlichen Ostpreußen gen Westen gezogen, weil sie dort schon die Front erreicht hatte. Diese Flüchtlinge mussten wir Bauern aufnehmen. Ich habe eine Bäuerin (Frau Tiney) zugeteilt bekommen mit 10jähriger Tochter und Schwiegervater. Die Verpflegung dieser drei Menschen ging über Lebensmittelkarten und durch mitgebrachte Lebensmittel. Sie kamen mit ihrem Pferdefuhrwerk. Im Oktober 1944 bekam jeder Bauer in Romitten (es waren ca. 10 Bauern in Romitten) ein Fuhrwerk mit Flüchtlingen zur Aufnahme und Gewährung von Unterkunft zugeteilt.

Der Geschützdonner war an manchen Tagen, je nach Windrichtung, gut zu hören und ließ uns nichts Gutes ahnen. Von Oktober 1944 an habe ich wegen des Geschützdonners keine innere Ruhe mehr gefunden, und die Angst wurde immer mehr. Ich habe mir zu diesem Zeitpunkt auch schon den möglichen Fluchtweg gen Westen aufgezeichnet, obwohl wir später wegen der Russen einen ganz anderen Fluchtweg nehmen mussten. Unsere Ernte an Kartoffeln und Rüben war eingefahren und die Herbstbestellung der Felder war auch schon beendet, d. h. Roggen und Weizen waren eingesät.

Und nun harrten wir der Dinge, die da kommen würden. Die Front kam immer näher, kam aber an der Grenze zu stehen. Im November konnten wir dann keinen Geschützdonner aus der Ferne hören. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Mit unseren 3 Flüchtlingen sind wir sehr gut ausgekommen. Es waren liebe Leute.

Im Dezember 1944 kam mein Mann von der Front zum Genesungsurlaub nach Hause. Er war im Herbst am Rücken verwundet worden und war vom 12.12. bis 27.12.1944 zu Hause. Weihnachten haben wir schon über die vermutlich bevorstehende Flucht gesprochen. Informationen darüber, wie weit der Russe vor Ostpreußen stand, haben wir von keiner Seite, auch nicht über Radio, erhalten.

Das Leben ging jetzt noch normal bis zum 13. Januar 1945 weiter. An diesem Tage brach die russische Offensive los. Jetzt stieg die Angst bei uns, fliehen zu müssen, und wir haben uns weiter auf eine bevorstehende Flucht vorbereitet.

Janek, unser 35 Jahre alter polnischer Kriegsgefangener, der bei uns arbeitete, machte zwei Kastenwagen, die sonst für Rüben- und Dungfahren genutzt wurden, fahrbereit. Der von der Partei eingesetzte Ortsgruppenführer teilte jetzt auf jedem Hof ein, wer auf der Flucht mit wem fahren sollte. Das bedeutete, dass jeder Bauer mit Fluchtwagen eine gewisse Anzahl von Dorfbewohnern ohne Fluchtwagen mitnehmen musste. Der Ortsgruppenführer hat jetzt alle Dorfbewohner aufgefordert, Vorbereitungen für eine bevorstehende Flucht zu treffen. Der Fluchttermin selbst stehe noch nicht fest; er würde noch mitgeteilt. Wer jetzt bereits ohne Erlaubnis auf eigene Faust fliehen würde, so wurde gedroht, dem würde der Hof enteignet.

Tante Lene schildert jetzt die eigentliche Flucht, die sie in einem kleinen Heft aufgezeichnet hatte:

Freitag, 26. Januar 1945:

Die letzten Tage hören wir den Kanonendonner. Die Front kommt immer näher. In der letzten Nacht ist der Feind in Uderwangen eingedrungen und stößt in Richtung Abschwangen vor. Noch 6 km von unserem Heimatdorf Romitten entfernt. Nachmittags um halb fünf Uhr (16:30 Uhr) verlassen wir in geschlossenem Treck unsere Heimat. Durch tiefen Schnee geht unser Weg in Richtung Westen. Wir haben beide Wagen mit unserer Habe und Futter für die Pferde beladen. Zwei Polen sind die Fahrer: Janek, unser polnischer Kriegsgefangener und ein weiterer jüngerer Pole, der bei uns arbeitete.

Es fällt mir sehr schwer, mit meinem Sohn Werner (geb. 31.12.1940) wegzufahren und alles zu verlassen, was uns lieb und wert war. Wir fahren auf die verstopften Straßen und sind dem Winter und dem Elend preisgegeben. Mein Mann ist Soldat und weit von uns weg.

Sonnabend, 27. Januar 1945:

Nach kalter, durchfahrener Nacht auf den verstopften Straßen, machen wir morgens in Kilgis vor Kreuzburg Rast. Die Pferde sind hungrig und müde. Wir sind durchgefroren und sehen, wo wir uns heißen Kaffee kochen können. Alles ist von Flüchtlingen und Soldaten überfüllt. Zur Nacht finden wir in einem kleinen Dachstübchen, auf dem Fußboden, ein Nachtlager.

Sonntag, 28. Januar 1945:

Bei klirrender Kälte von fast 30 Grad fahren wir morgens um 5 Uhr weiter in Richtung Kreuzburg, Zinten. Gegen Abend kommen wir in Klaussitten an. Alles ist überfüllt von Flüchtlingen und Soldaten. Unser Brot ist zu Stein gefroren. Werni weint vor Hunger und Kälte. Wir melken die Kühe und auf dem Futterdamm, bei den Kühen, richten wir uns ein Nachtlager her. Die Polen versorgen die Pferde, die in der Scheune ein Plätzchen gefunden haben. Wir bleiben die ganze Woche hier und sehen die verstopften Straßen. Es ist kein Platz, dass wir uns in den endlosen Treck wieder einreihen können. Es ist viel Schnee gefallen.

Am Donnerstag, dem 1. Februar 1945, setzt Tauwetter ein.

Sonnabend, 3. Februar 1945:

Wir haben bis heute früh in Klaussitten (Kreis Heiligenbeil) gerastet. Der Feind kommt näher. Die Bewohner von Klaussitten fuhren schon am Donnerstag fort. Bei Sturm und Regen fahren wir über Zinten nach Heiligenbeil. Die russischen Flieger beschießen die Straße. Wir haben viel Angst ausgestanden. Wir erreichen Heiligenbeil. Die Polizei zwingt uns, weitere Flüchtlinge mitzunehmen. Wir kommen zum Abend an Fischerkaten vorbei. Die Pferde stehen an einem Strohberg im Wasser. Wir schlafen auf einem Speicher. Werni und ich fallen die Stufen herunter, haben uns aber nichts gebrochen. Wir erkranken beide an einem ruhrähnlichen Durchfall.

Sonntag, 4. Februar 1945:

Wir fahren weiter zum Frischen Haff. Die Wege sind verstopft, es geht nur langsam weiter. Im Wald machen wir Rast, kochen etwas Warmes und übernachten. Wir schlafen auf dem Wagen. 150 m von uns fallen nachts Bomben.

Montag, 5. Februar 1945:

Wir sehen das Eis des Frischen Haffs bei Leißunen und die feindlichen Flieger beschießen die Treckwagen auf dem Eis im Tiefflug. Die Polizei leitet uns nach Alt-Passarge, 8 km südlich. Die Verstopfung der Straße ist zu groß.

Dienstag, 6. Februar 1945:

Wir fahren auf Moordämmen langsam dem Haff zu. Alle Wege sind verstopft. Alles strömt dem Haff zu. Die Pferde sind unruhig, sie frieren. Wir schlafen auf dem Wagen, wir haben keinen warmen Trunk mehr und leiden an schwerem Durchfall und Fieber. Das Wetter ist milde.

Mittwoch, 7. Februar 1945:

Morgens um 8 Uhr fahren wir auf das Eis des Haffs. Uns allen ist sehr bange. Wir sehen eingebrochene Wagen aus dem Eis ragen. Tote Pferde, von Beschuss und Bomben getroffen, liegen verstreut auf dem Eis. Weiter liegen tote Soldaten und Zivilisten auf dem Eis. Wagen waren getroffen, alles lag herum: Ein Bild des Elends und des Grauens. Es befinden sich lange breite Spalten im Eis, die wir überqueren müssen. Die Eisschollen senken sich vor den Wagenrädern, die Pferde treten in den entstehenden Spalt und springen wieder heraus. Über uns Tiefflieger und Beschuss. Wie durch ein Wunder kommen wir aus dieser Not bis zur Nehrung.

„In wie viel Not hat doch der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.“

Unser Blick geht über das Haff zurück, da steht Frauenburg in Flammen. Der Russe schießt mit seiner Artillerie auf die Nehrung. Es gibt Tote und Verwundete. Bei strömendem Regen übernachten wir unter freiem Himmel. Menschen und Pferde leiden unsagbar.

Meine Tante erzählte mir ergänzend hierzu:

Diese Überfahrt auf dem Eis war grauenhaft. Links und rechts von der auf dem Eis abgesteckten Fahrtroute lagen weggeworfene Sachen, erschossene Pferde, ganze Wagen, die durch die Eisdecke gebrochen waren, wo nur noch die Köpfe der toten Pferde aus dem Eis ragten. Auch die durch die Angriffe der Tiefflieger erschossenen Flüchtlinge lagen neben der Fahrtroute - ein Grauen, das sich heute kein Mensch mehr vorstellen kann.

Das Eis des Frischen Haffs war teilweise durch die große Belastung unter die Wasseroberfläche gedrückt worden, und ein Spalt trennte uns von dem am Ufer festgefrorenen Eis, das etwa 40 cm höher lag. Hinter diesem schmalen Eisrand war eine steile Böschung. Diese trennte uns von dem rettenden Weg nach Westen. Ich nahm alle Kraft zusammen, schickte ein Stoßgebet zum Himmel, schlug auf die Pferde ein, und vorwärts ging es. Die Pferde brauchten weiter keinen Ansporn mehr. Als wenn sie geahnt hätten, dass es auch für sie auf Leben und Tod ging, übersprangen sie den offenen Eisspalt, legten sich in die Sielen und erklommen mit dem schweren Wagen die Böschung und erreichten so die Frische Nehrung und damit den Weg nach Westen. Von nun an ging es, nur mit geringen Pausen in Richtung Weichsel, die wir am 12. Februar erreichten. Es schneite und regnete. Nachts um 24 Uhr überquert der Treck mit einer Fähre die Weichsel. Aber die sowjetischen Truppen wurden durch diesen Fluss nicht lange aufgehalten. Oft bestand der Abstand zu den vorstoßenden Panzerspitzen nur wenige hundert Meter, und oft fuhren die Panzer parallel zum Flüchtlingstreck in wenigen Kilometern Abstand.

Zurück zum Tagebuch:

Donnerstag, 8. Februar 1945:

Wir wollen weiter, aber die Straße auf der Nehrung ist total verstopft. Von Danzig kommen viele Soldaten und wir müssen anhalten. Wir nächtigen unter freiem Himmel auf einem freien Platz. Wir kochen Kaffee vom Schneewasser mit grünem Reisig. Jeder sieht zu, wie und wo er etwas kochen kann.

Freitag, 9. Februar 1945:

Wir fahren über die Dünen am Ostseestrand entlang. Die Pferde sind durchgefroren und das Futter geht langsam zu Ende. Die Wagenräder mahlen im Seesand. Die armen tragenden Tiere sind bedauernswert, aber man kann ihnen nicht helfen, nur immer vorwärts! Es ist außer dem Ort Kahlberg keine menschliche Behausung in Sicht. Wir sind wie in der Wüste. Viele haben kein Brot mehr. Die Not bricht an. Wir sind 101 Personen auf 13 Wagen.

Sonnabend, 10. Februar 1945:

Wir haben kurz vor Abend das erste westpreußische Dorf Steegen-Stuthof erreicht. Die Leute sind sehr abstoßend zu uns und nehmen uns nicht auf. Sie schicken uns von einem Ort zum andern, bis wir endlich nachts gegen 11 Uhr Unterkunft in einem Kuhstall zugewiesen bekommen. Der Bauer dieses Hofes beschimpft uns. In seine Dunggrube kippt mein Wagen und bleibt so bis zum nächsten Morgen liegen. Nachbarwagen werden bestohlen. Wir merken, dass wir nicht mehr in Ostpreußen sind.

Sonntag, 11. Februar 1945:

Wir werden von dem Bauern vom Hof getrieben und fahren den ganzen Tag. Zum Abend kommen wir zu einem Bauern in ein gutes Quartier. Auch unsere Pferde kommen in der Scheune unter und können endlich eine Nacht ruhen.

Montag, 12. Februar 1945:

Morgens geht es weiter. Die Straßen sind verstopft, und es schneit und regnet. Die Pferde sind unruhig und frieren. Nachts um 12 Uhr sind wir an der Weichsel, es ist dunkle Nacht. Eine Fähre setzt den endlosen Flüchtlingsstrom ans westliche Ufer über. Wir fahren eine kurze Strecke durch tiefen Morast und nächtigen unter freiem Himmel.

Dienstag, 13. Februar 1945:

Wir fahren weiter: Danzig - Praust, Danzig - Ohra. Wir kommen bis Rottmannsdorf und schlafen in einem Schafstall bei den Schafen. Es regnet und stürmt. Die Pferde sind in einer Scheune. Wir empfangen pro Pferd drei bis vier Pfund (1,5 bis 2 kg) Hafer täglich.

Mittwoch, 14. Februar 1945:

Es ist bald Mittag. Wir müssen weiter. Abends kommen wir in ein Dorf, wo wir in der Schule Unterkunft finden. Die Pferde sehen von all den Strapazen schon abgemagert aus.

Donnerstag, 15. Februar 1945:

Wir fahren weiter. Abends wird unser Treck auf zwei Dörfer verteilt. Die Leute (Kaschuben) sprechen unter sich polnisch (vermutlich kaschubisch) und sind sehr abweisend zu uns.

Freitag, 16. Februar 1945:

Wir werden auf Umwege abgeleitet. Die gute Straße ist für die Wehrmacht reserviert. Wir fahren schlechte, bergige und glatte Wege. Die Pferde fallen auf die Knie, sie schaffen die Wagen kaum, aber es geht immer weiter. Zur Nacht sind wir auf einem Gut. Am Morgen graut uns schon vor dem Abend, weil wir nicht wissen, wo wir wieder landen werden.

Sonnabend, 17. Februar 1945:

Wir verlassen Westpreußen und erreichen das erste Dorf in Pommern. Die Wagen werden auf der Straße ausgespannt und die Pferde kommen in einer Scheune unter. Die Menschen sind freundlicher zu uns. Ich komme mit meinem Sohn Werni bei der Inspektorenfamilie unter. Das erste Mal haben wir nach vier Wochen Gelegenheit, uns zu waschen. Wir haben uns sonst nur mit Schnee Hände und Gesicht gewaschen.

Sonntag, 18. Februar 1945:

Wir müssen weiter und kommen zum Abend nach der SS-Siedlung Ruhnow. Wir haben die ersten Läuse. Arthur und Irene Kirstein kommen ins Krankenhaus Stolp. Piorrs Stute verwirft und wir bleiben über Montag (den 19. Februar) hier. Ich bade mich und Werni, damit wir die Läuse los sind.

Dienstag, 20. Februar 1945:

Wir fahren wieder den ganzen Tag und kommen abends auf ein Gut. Ich schlafe mit Werni im Maschinenhaus der Schnapsbrennerei. Frau Zahlmann ist krank an Ruhr.

Mittwoch, 21. Februar 1945:

Wir passieren die Stadt Stolp. Frau Zahlmann kommt ins Krankenhaus. Gegen Abend kommen wir in das Dorf Überlauf. Wir finden bei einem Bäcker mit unseren Pferden Unterkunft, bei guten Leuten.

Donnerstag, 22. Februar 1945:

Es geht morgens wieder weiter. Die Pferde sind so überanstrengt, sie brauchen Ruhe, aber wir müssen täglich weiter. Wir nächtigen in einer Schule. Die Pferde sind notdürftig untergebracht. Außer den 3 Pfund Hafer erhalten sie nur Stroh. Die armen Tiere tun mir leid.

Sonnabend, 24. Februar 1945:

Wir passieren die Stadt Rügenwalde und fahren bis Dammshagen, einem Bauerndorf. Ich bin bei Bauer Loose im Quartier. Die Pferde sind gut untergebracht.

Sonntag, 25. Februar 1945:

Es ist Mittag und wir wollen in Dammshagen Sonntag halten, aber der Bürgermeister schickt uns weiter. Bei strömendem Regen müssen wir raus. Nachts 11 Uhr werden wir in Abtshagen aufgenommen. Ich bin bei Bauer Schwarz. Die Pferde sind nur in einem offenen Schauer untergebracht, die armen Tiere frieren. Die Leute sind gut zu uns und behalten uns bis Dienstag.

Dienstag, 27. Februar 1945:

Mittags fahren wir weiter, die Straßen sind verstopft. Nachts 11 Uhr sind wir in der Stadt Köslin. Wir fahren auf einem Platz nebeneinander auf. Die armen Pferde stehen draußen in tiefem Dreck. Werni kann vor Durst nicht einschlafen.

Mittwoch, 28. Februar 1945:

Wir verlassen Köslin, die Straße ist sehr von Trecks verstopft. Es heißt die Russen sind durchgebrochen. Die pommersche Bevölkerung flieht mit uns. Wir nächtigen auf der Straße.

Donnerstag, 1. März 1945:

Wir fahren weiter. Es geht nur langsam voran. Ein großer Schneesturm überfällt uns. Die Pferde taumeln, so wirft der Sturm sie zur Seite. Die Pferde kommen abends in einer Scheune unter. Wir schlafen 1½ km entfernt in einer Schule und bekommen von der NSV (Nationalsozialistische Volksfürsorge) eine warme Suppe.

Freitag, 2. März 1945:

Morgens geht es weiter. Immer das alte Lied, wir fahren und fahren. Mittags sind wir in Kolberg, empfangen Hafer für unsere armen, abgemagerten Pferde. Wir finden kein Quartier und übernachten, wie so oft, auf der Straße.

Sonnabend, 3. März 1945:

Es ist sonniges Frühlinswetter. Wir kommen gegen Abend in das Dorf und Gut Dorphagen.

Sonntag, 4. März 1945:

Nachts haben unsere beiden Stuten verfohlt (Fehlgeburt). Die Fohlen sind tot und die Mutterstuten sehr abgekämpft. In dieser Nacht kommt auch für Dorphagen der Räumungsbefehl und wir müssen diese abgekämpften, todkranken Tiere anspannen und fortfahren. Wir fahren die ganze Nacht ohne Pause. Die Stuten sind vor dem Zusammenbrechen. Doch wir müssen fahren und fahren. Gegen Mittag stockt der endlose Treck. Wir sind im Dorf Wustermitz. Die Einwohner sollen fliehen. Sie verkaufen an uns Hafer und Hühner. Nachmittags 2 Uhr stehen die Russen ½ km vor uns mit 5 Panzern auf der Straße. Unser Schreck und die Angst sind unbeschreiblich. Wir kehren mit unseren 13 Romitter Wagen um und fahren einen Waldweg entlang, Richtung Westen. Wir haben Glück, aus der Umklammerung herauszukommen und fahren nachts um 11 Uhr über die Dievenowbrücke in Wollin (der östliche Mündungsfluss der Oder vom Stettiner Haff in die Ostsee). Noch 3 km fahren wir, und dann können wir endlich Rast machen mit unseren todkranken Stuten. Sie müssen am Wagen stehen. Es ist kein Quartier zu finden.

Ergänzend erzählte mir Tante Lene:

Hier vor der Dievenowbrücke stauten sich die Flüchtlingszüge, die auf mehreren Wegen gekommen waren. Jeder versuchte die Spur, die zu der Brücke führte, zu erreichen. Ich scherte aus unserem Zug mit meinem Nachbarn Klein zusammen aus, durchfuhr einen Graben und erreichte parallel zu der Straße auf einem Weg die Anfahrt zu der Dievenowbrücke. Es war die Nacht vom 4. auf den 5. März 1945, als wir auf die Brücke fuhren und die Glocke vom nahen Kirchturm schlug genau 23 Uhr, als wir auf der Dievenowbrücke waren.

Die Oder mit ihren Mündungsläufen war der letzte große zu überquerende Fluss auf dem Weg nach Lübeck.

Wieder das Tagebuch:

Dienstag, 6. März 1945:

Nach einer Nacht unter freiem Himmel müssen wir weiter. Die Russen beschießen die Stadt Wollin. Wir befinden uns jetzt auf der Insel Wollin. Wir fahren weiter bis zum Dorf Kodram. Die Pferde kommen notdürftig unter. Ich schlafe mit Werni bei einer Bäuerin auf dem Fußboden. Morgens um 10 Uhr wird die Dievenowbrücke zwischen Hagen und Wollin gesprengt, über die wir noch entkommen sind. Wir fahren wieder weiter. Über die Insel streicht ein kalter Frostwind. Die beiden Stuten haben 40,5 Grad Fieber, sie sind weiterhin vor dem Zusammenbrechen. Ich fahre zu einem Bauern im Dorf Kolzow und bleibe bis Freitag Mittag, damit sich die Pferde etwas erholen.


Freitag, 9. März 1945:

Es ist Nachmittag. Die kranken Stuten werden wieder angespannt. Wir fahren bis in den Wald und bleiben über Nacht dort.

Sonnabend, 10. März 1945:

Wir halten im Wald. Die kranken Stuten müssen wieder vor dem Wagen stehen. Sie fressen wenig. Wir kochen im Wald und hausen wie die Zigeuner.

Sonntag, 11. März 1945:

Frau Winkelmann ist nachts gestorben. Sie wird in eine Decke gewickelt und im Badeort Waren an der Kirche beerdigt. Die Männer von unserem Treck schlachten eine Kuh. Auf 100 Personen wird das Fleisch verteilt.

Montag, 12. März 1945:

Wir fahren aus dem Wald auf die Straße nach Swinemünde. Morgens um 10 Uhr ist ein großer Luftangriff auf Swinemünde. Wir sind 10 km entfernt. Es fallen schwere Bomben. Die Erde bebt, es ist die Hölle los. 22.000 Menschen, zum größten Teil Flüchtlinge, sollen hier den Tod gefunden haben.

Dienstag, 13. März 1945:

Wir sind in Liebeseele. Die Straße ist verstopft. Klein und Schwarz, die unsern Treck anführen, sind sich nicht mehr einig, wohin gefahren werden soll. Der Treck teilt sich.

Mittwoch, 14. März 1945:

Wir sind einige Kilometer vorgerückt und nächtigen wieder auf der Straße. Die Stuten sind noch krank und magern zusehends ab. Wir kochen im Straßengraben. Auf der Insel Wollin gibt es bald keine Lebensmittel mehr. Überall wo wir fahren, säumen tote Pferde die Straße. Die armen Tiere die den großen Strapazen erlegen sind, ein Bild des Jammers.

Donnerstag, 15. März 1945:

Wir nähern uns Swinemünde und halten am Bahnhof Pritter. Das Futter für die Pferde ist knapp. Wir haben kein Brot. Der Durchfall hält jetzt sechs Wochen an. Ich fühle mich krank und schwach. Die Krätze lässt uns nachts nicht schlafen. Von den Läusen bin ich weiter verschont geblieben. Wir sind jetzt sieben Wochen auf der Straße. Das Zigeunerleben ist schwer.

Freitag, 16. März 1945:

Wir fahren auf Swinemünde zu und sehen die Verheerungen der schweren Bomben. Man spricht von 50-Zentnerbomben. Ein Bild der Zerstörung und des Grauens. Die Straßen säumen zertrümmerte Treckwagen und die zerstreute Habe und tote Pferde liegen herum. Von diesem Angriff liegen die toten Opfer, (es sollen 22.000 sein) am Bahndamm, Flüchtlinge und Soldaten. Überall große Bombenkrater, Tod und Verderben, ein unbeschreiblicher Anblick. Wie durch ein Wunder sind wir davon bewahrt geblieben. Um 10 Uhr nähern wir uns dem Hafen Swinemünde. Die große Bahnfähre bringt uns ans westliche Ufer der Swine. Wir alle entfernen uns schnell von der Stätte des Grauens, aus Angst, die Bomber könnten wiederkommen. Am Abend sind wir auf einem großen Platz angekommen und nächtigen unter freiem Himmel. Über uns fliegen die Bomber der Alliierten und laden ihre Last in Berlin ab. Wir haben Angst.

Sonnabend, 17. März 1945:

Wir fahren weiter. Mittags machen wir Rast. Frau Schwarz wird in einer Rot-Kreuz-Baracke von einem Sohn entbunden. Nach zwei Stunden werden Mutter und Kind wieder aufgeladen. Am Abend müssen wir wieder am Straßenrand nächtigen.

Sonntag, 18. März 1945:

Es geht morgens wieder weiter. Das Wetter ist frühlingshaft. Wir fahren über Anklam bis an den Fliegerhorst (Tuto?/Tirto?). Bei Bauer Schön finden wir ein Quartier, das erste Quartier seit dem 4. März. Werner ist erkältet, hustet und fiebert.

Montag, 19. März 1945:

Wir bleiben heute in Anklam. Den Pferden werden die Hufeisen angezogen und die Wagenreifen nachgesehen. Wir hatten 3 Wochen immer draußen übernachtet. Nach 3 Wochen haben sich die Pferde das erste Mal in einer Scheune hingelegt.

Die Pferde waren alle beschlagen und hatten Stollen, um die eisglatten Straßen bewältigen zu können. Später auf der Flucht war es schwer, neue Stollen zu bekommen, um sie auszuwechseln. Auf glatten Straßen konnten die Pferde, ohne diese Stollen, nicht richtig ziehen. Fast alle Bauern hatten hier vorgesorgt und Ersatzstollen mitgenommen.

Dienstag, 20. März 1945:

Wir fahren weiter, aber haben keine große Eile mehr. Die Front ist schon hinter uns. Wir hören nicht mehr die Geschütze. Wir sind im Mecklenburger Land. Wir fahren aber jeden Tag weiter westwärts. Wir müssen weiter, weil der Treck ohne Ende ist. Das Wetter ist frühlingshaft schön.

Sonntag, 25. März 1945:

Wir sind auf einem Bauernhof bei Ludwigslust. Die Bauersleute sind sehr unfreundlich zu uns. Wir übernachten hier auf dem Wagen.

Montag, 26. März 1945:

Wir fahren weiter über Ludwigslust nach Schwerin, wo wir wieder übernachten.

Dienstag, 27. März 1945:

Weiter geht die Fahrt von Schwerin nach Gadebusch, wo wir wieder übernachten.

Mittwoch, 28. März 1945:

Von Gadebusch brechen wir in der Frühe auf, um in Richtung Ratzeburg zu fahren. Dort kommen wir um die Mittagszeit an. Vor dem Dom, auf einem großen Platz, kochten wir Mittag und fahren dann weiter bis Groß Grönau, wo wir wieder übernachten.

Donnerstag, 29. März 1945:

Von Groß Grönau fahren wir in Richtung Lübeck weiter. Als wir schon in St. Hubertus ein Stück in Richtung Lübeck weitergefahren waren, wurden wir wieder umdirigiert und nach Westen in den kleinen Ort Wulfsdorf umgeleitet. Hier in Wulfsdorf werden wir Flüchtlinge, (ca. 10 Wagen mit ca. 50 Personen) auf die einzelnen Bauernhöfe verteilt. - So endet die neunwöchige Flucht aus Ostpreußen.

Meine Tante fügte ergänzend hinzu:

In Mecklenburg verließ uns der junge Pole, der den 2. Wagen gefahren hatte, um in seine Heimat Polen zurückzukehren. Von hier bis Wulfsdorf habe ich den zweiten Wagen gefahren.

Die ganze Flucht ging über ca. 1.000 km vom 26. Januar 1945 bis zur Ankunft in Wulfsdorf bei Lübeck in Schleswig-Holstein am 29. März 1945. Kein Mensch kann sich heute diese Strapazen für Mensch und Tier vorstellen, ging doch die Flucht oft nur wenige Kilometer vor der Front her durch halb Deutschland und immer die Russen im Nacken.

In Wulfsdorf wurden die Pferde bei Bauern untergestellt. Da alle Flüchtlinge die Futterkosten nicht bezahlen konnten, mussten sie nach und nach verkauft werden. Der Erlös war nicht groß, weil ein Überangebot an Pferden aus Ostpreußen bestand.

Ohne zu ahnen, dass mein Mann hier in Lübeck im Lazarett lag, war ich nach der Flucht hier untergekommen. Durch den Suchdienst des Roten Kreuzes fand die Familie wieder zusammen.

Im November 1953 wurden mein Mann und ich mit unseren Söhnen Werner und Dieter von Wulfsdorf bei Lübeck nach Lünen umgesiedelt. Unser weiteres Leben spielte sich jetzt hier ab. Wir konnten in unsere alte ostpreußische Heimat nicht mehr zurückkehren. Alles was blieb, war die Erinnerung.

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Deutsche Schicksale 1945 - Zeitzeugen erinnern

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