Читать книгу Deutsche Schicksale 1945 - Zeitzeugen erinnern - Jürgen Ruszkowski - Страница 8
ОглавлениеRagnit bei Tilsit 1944/45
Jürgen Aschmotat (†) stammt aus einem alten ostpreußischen Bauerngeschlecht und wurde im August 1940 geboren. Sein Großvater hatte den Hof in dem Ort Ragnit bei Tilsit mit viel Fleiß und Engagement groß gemacht. Der Vater hatte Agrarwissenschaft studiert, den Hof übernommen und eine Rinder- und Trakenerzucht sowie eine riesige Schweinemast mit freiem Auslauf aufgebaut. Seine Mutter war bereits, als er zwei Jahre alt war, an Nierenversagen verstorben. Jürgen verfügt über sehr gute Erinnerungen an seine frühe Kindheit und die dramatischen Ereignisse der letzten Monate des Krieges und Zusammenbruches Deutschlands. „Mein Vater war Bauernführer der Faschisten, begeisterter Luftwaffensoldat und als Nachtjäger eingesetzt. Er war bis zuletzt stolz auf seine „Heldentaten“. Mein Großvater und ich haben ihm immer wieder klarzumachen versucht, dass seine Nazipolitik Schuld daran war, dass der Familie Hof und die Heimat verloren ging. Heute wird das elterliche Anwesen von Kirgisen bewirtschaftet, die, als ich sie vor einigen Jahren besuchte, nicht einmal wussten, dass dort früher Deutsche gelebt hatten. Als der Vater als Soldat in den Krieg zog, übernahm mein Großvater wieder den Hof. Er bereitete bereits 1944 die Flucht vor der immer näher heranrückenden Ostfront vor, rüstete vier große Planwagen für die Flucht her und stattete sie mit eingeweckten Wurst- und Fleischwaren und anderen Vorräten aus, von denen wir ein Jahr lang hätten leben können und brach auch schon rechtzeitig mit uns mit dem Pferdetreck auf, kam aber nur etwa 100 Kilometer voran, weil die SS uns an der Weiterfahrt hinderte. Man glaubte immer noch fanatisch an den Endsieg. Wir wurden unterwegs zweimal von der russischen Front überrollt. Die Bilder von den brennenden Scheunen, kokelnden Häusern, herumliegenden Leichen und roten Blutlachen im tiefen Schnee sehe ich wie gestern. Wir saßen im Keller, oben brannte der Pferdestall und ich höre heute noch die vor Todesangst schreienden Kreaturen. Für 1 ½ Tage ging die Front immer hin und her, bis wieder deutsche Soldaten auftauchten und uns zur Fortsetzung der Flucht ermunterten. Mein Großvater wurde verwundet und war fortan stark behindert, die weitere Flucht aktiv mitzugestalten. Zwei französischen Kriegsgefangenen, die mehr Angst vor den Russen hatten, als wir selber, haben wir zu verdanken, dass es uns doch noch gelang, über das Frische Haff westwärts zu entkommen. In Danzig mussten wir alles stehen und liegen lassen, kamen mit Mühe und Not noch in einen Eisenbahnzug. Mein Großvater schob uns Kinder durch ein Fenster in den völlig überfüllten Waggon und auf diesem Wege kamen wir zu Verwandten nach Berlin, wo ich die Bombenangriffe der letzten Kriegsmonate erlebte. Wir wurden zweimal ausgebombt. Mit meiner Zwillingsschwester zusammen wurde ich von den übrigen Verwandten getrennt. Später verschlug es uns nach Walsrode und Bergen-Hohne in der Südheide, wo mein Vater beim Aufbau der Bundeswehr und ihrer Einrichtungen beruflich engagiert war. Er hatte immer noch die Sehnsucht nach allem Militärischen und pflegte weiterhin Kontakte zu den "alten Kameraden". Mir sind noch die "blonden Siegfrieds" von Hitlers früherer Leibstandarte in Erinnerung, die im Hause meines Vaters verkehrten.“ – Jürgen wurde Pazifist und Weltbürger.
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