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Die letzten Wochen in der Heimat

– auf dem Forstamt Pütt und in Christinenberg – 1945

Gerd Brehm (* 1929) berichtet:

Am 22.11.1944 kehrte ich vom Osteinsatz heim. Am nächsten Tag meldete ich mich in der Schule. Von unseren Jungen erschien keiner außer mir, nur die etwa 20 Mädchen meiner Klasse. Weil ich der jüngste war, hatte ich noch keinen Einberufungsbefehl zum Wehrertüchtigungslager oder als Flakhelfer oder Reichsarbeitsdienstmann oder als Soldat. Unser Direktor befahl uns zur Arbeit in der Druckerei der Pommerschen Zeitung in Gollnow, wo die Mädchen und ich zum Drucken von Lebensmittelmarken angelernt wurden: Arbeitszeit täglich 8 Stunden. Ca. 2 Wochen später befahl mich mein Schuldirektor zu sich und teilte mir mit, dass ich ab sofort zum Volkssturmdienst verpflichtet werde, nämlich als Ersatz für meinen Vater (* 1894, wegen einer Kriegsverletzung aus dem 1. Weltkrieg wehruntauglich), der angeblich für den Volkssturmdienst dienstlich unabkömmlich sei. Er sagte weiterhin, dass mit dem Heranrücken der Ostfront der Volkssturm aufgestellt werden müsste, und dass er der Bataillonsführer für Abteilung Gollnow-Stadt sei und mein Vater zum Bataillonsführer Gollnow-Land ernannt werden sollte.

Ab sofort mussten wir unseren neu geschaffenen Spielkellerraum unter der Küche als Volkssturmwachlokalraum hergeben. Ein Wehrmachtsunteroffizier veranstaltete für etwa 70 Jahre alte mir bekannte Bauern aus Christinenberg und mich eine 30 Minuten-Ausbildung an einer Maschinenpistole und Panzerfaust mit Probeschuss hinter unserem Wohnhaus, wobei durch den Rückstoß der Panzerfaust unsere Badezimmerscheibe zerdrückt wurde, obwohl wir beim Abschuss mindestens 80 m entfernt vom Wohnhaus standen.

Die ersten 4 Wochen tat ich Dienst im 12stündigen Wechsel in einem 8 km entfernten Schrankenwärterhäuschen an der Straße Christinenberg - Gollnow. Inzwischen wurde in der Straßenkurve bei Pütt aus riesigen stählernen Schneepflügen, die ineinander verkeilt mit Stahlseilen an beiderseits der Straße stehenden dicken Kiefern verankert wurden, eine Panzersperre mit schmaler Slalomdurchfahrt gebaut, wobei beiderseits auch noch ein 4 m breiter Panzergraben parallel zur Straße ausgehoben wurde. Etwa am 20. Januar 1945 wurde ich zum Dienst vor Pütt an diese Panzersperre abkommandiert mit zwei alten Männern pro 12-Stunden-Schicht im Tag/Nacht-Wechsel. Wir hatten den gesamten Straßenverkehr, ob Wehrmacht, ob jetzt schon pausenlos aus Ostpreußen herkommende Flüchtlingstrecks auf Partisanen zu kontrollieren. Mit Koks aus unserem Heizungskeller (unsere Zentralheizung funktionierte nie in unserer Zeit) in einem großen durchlöcherten Blechfass wärmten wir uns zwischendurch immer wieder auf. Einen Teil der Scheune mussten wir für Reichsarbeitsdienstausrüstungslagerung abgeben, den anderen für SS-Einquartierung.

Die Trecks von Flüchtlingen aus Ost- und Westpreußen, Litauen und Estland rollten pausenlos bei Tag und Nacht an unserem Haus vorbei. Weil wir einen großen Stall und eine große Scheune auf dem großen Hofgelände hatten, gab es immer wieder große Anfragen wegen Nahrungsmitteln und Milch für Flüchtlingskinder, Unterkunft und Pferdefutter.

Die Front rückte von Osten immer näher heran. Jetzt begann auch Vater schon damit, mit uns zusammen darüber nachzudenken, was wir machen sollten: flüchten oder hier bleiben. Anfang Februar 1945 entschied sich Vater für einen Bunkerbau ca. 1,3 km von Pütt entfernt im Wald am Rand eines Hügels. Von nun an bauten unser Stellmacher Köpp, der französische Kriegsgefangene Capedeville, Harm und ich aus Kiefernstammhölzern einen großen Erdbunker in G-Form in den Hügel und tarnten ihn gut. In dieser Zeit machte ich darum nur Nachtdienst.

Vorsichtshalber ließ Vater aber doch unser Auto, das im Kriege dienstlich für Vater zugelassen war, aber über ein halbes Jahr zum Benzinmarkensparen (pro Monat gab es nur 20 Liter auf Marken zugeteilt) nicht benutzt wurde, von dem Waldarbeiter Drozd mit Hilfe seiner Pferde zur Autowerkstatt Schirmer in Christinenberg ziehen. Einige Tage später holte der Chauffeur C. den Wagen voll funktionsfähig bei hohem Schnee ab und stellte ihn in die Garage. Tank und einige Blechkannen waren mit Benzin gefüllt. Einige Stunden danach - die SS-Soldaten hatten das Auto kommen sehen - beschlagnahmte ein Offizier das Auto. Vater verweigerte aber die Herausgabe des Zünd- und Lenkungsschlüssels. Harm und ich wurden auf dem Hof immer wieder mit den Worten bedroht: "Sagt Eurem Vater, dass er den Schlüssel hergibt, oder wir werfen eine Handgranate in Euer Auto!" Einige Stunden beschäftigten sich zwei Soldaten damit, die Zündung kurzzuschließen und am Lenkungsschloss mit einem dicken Hammer herumzuschlagen, aber vergebens. Der Abmarschbefehl für diese kleine SS-Einheit kam in der nächsten Nacht so plötzlich, dass sie ihr Vorhaben in keiner Weise ausführen konnten. Nun war unser Auto aber wieder defekt und musste abermals in die Werkstatt gezogen werden. Sicherheitshalber holte Capedeville es bei Nacht wieder ab.

Die Flüchtlingswelle wurde immer stärker. In jeder Nacht nahmen wir eine Forstbeamtenfamilie auf. Diese Familien kamen in den meisten Fällen ohne Männer, die entweder Soldat waren oder auf der Flucht auseinandergerissen waren. Es sprach sich unter den Flüchtlingen herum, dass ein Zurückbleiben unter den Russen lebensgefährlich werden kann bei der Gefahr der Ermordung oder Verschleppung nach Sibirien. Auch Vater und Mutter bekamen jetzt Bedenken, die Kampfhandlungen und die Besetzung durch Russen in unserem fertiggestellten Bunker überdauern zu wollen. So etwa um den 20. Februar herum hörten wir das Herannahen des Geschützdonners der Front von Osten her zum ersten Mal. Es dröhnte von Tag zu Tag immer lauter. Tieffliegerangriffe der Russen, hauptsächlich auf die endlosen wehrlosen Flüchtlingstrecks auf unserer Straße gerichtet, wurden immer häufiger. Vater und Mutter sortierten jetzt schon allmählich das Wichtigste für die Flucht. Der Stellmacher Köpp, Harm und ich zimmerten zwei Holzkisten mit verschließbaren Deckeln zusammen. Jede Kiste versahen wir mit einer vollgummibereiften Achse unserer 4-rädrigen sog. "Holländer" und mit einer wie ein Sägebügel gespannten Deichsel aus Haselnussholz. So hatten wir dann zwei provisorische Fahrradanhänger.

Am 23.2.1945 erhielt ich als 15 ¾ jähriger die Einberufung zur Wehrmacht. Ich sollte mich am 1.3. in der Kaserne in Wiek auf der Insel Rügen einfinden. Erkundigungen beim Bahnhofsvorsteher Frömming in Christinenberg ergaben aber, dass ein pünktliches Erscheinen dort wegen der durch Luftangriffe unterbrochenen Eisenbahnstrecken überhaupt nicht gewährleistet war. Ich behielt den Bescheid bis zum 1.3. zurück und schickte ihn dann per Post nach Naugard, unserer Kreisstadt, 36 km nördlich von Pütt, zurück mit dieser Begründung. Weil die Russen um diese Zeit durchschnittlich 12 km pro Tag weiter nach Westen voranrückten, erledigten sich Zwangsmaßnahmen gegen meine Nichtbefolgung des Stellungsbefehls von alleine.

Harm und ich sahen unsere besten Fahrräder noch einmal durch und machten sie fahrtüchtig mit allerbesten Teilen auch von anderen Fahrrädern und stellten sie mit den Anhängern zu unserem Auto in die Garage. In der letzten Woche vor der Flucht hatte ich Nachtdienst an der Panzersperre, somit bei Tage auch Zeit, die Fahrradanhänger und das Auto zu beladen. Nachts schlief unser Chauffeur zur Bewachung auf einer Matratze neben unseren Fluchtfahrzeugen in der von innen verriegelten Garage, denn es musste stark mit Einbruch durch in Not geratene Flüchtlinge auf der Suche nach Lebensmitteln und Futter für Pferde gerechnet werden.

Am Montag, dem 5. März 1945 mittags, hatten wir das Gefühl, dass die Russen höchstens 10 km entfernt von Pütt waren. Das Telefon ging schon nicht mehr. Der elektrische Strom war für uns schon unterbrochen. Wir wohnten ca. 1 km vom Dorfrand entfernt ganz allein im Walde. Die Eltern beauftragten mich, mit dem Fahrrad noch im Dorf auf Lebensmittelmarken soviel wie möglich einzukaufen, Geld von der Sparkasse abzuheben und beim Bürgermeister eine schriftliche Genehmigung zu holen, damit der französische Kriegsgefangene Capedeville als Chauffeur ohne Bewachung unser Auto auf der Flucht in Richtung Westen fahren darf. Ich erschreckte mich im Dorf sehr darüber, dass ich keinen Zivilisten mehr antraf, sondern nur deutsche Soldaten, die sich in den verlassenen Lebensmittelgeschäften mit Essbarem versahen. Dieses tat ich auch und stopfte beim Bäcker, Fleischer und Kaufmann alle meine Einkaufstaschen voll. Geld erhielt ich auch nicht mehr, desgleichen auch nicht die Bescheinigung. Die Dorfbewohner waren schon alle auf der Flucht und schon längst an Pütt vorbeigezogen, nachdem sie sich in die endlosen Flüchtlingstrecks einreihen mussten. Als ich in die Hauptstraße zu uns einbog, kamen gerade russische Tiefflieger über der Straße entlang, dabei immer in die Trecks hineinschießend. Zuerst schmiss ich mich samt Fahrrad in den Straßengraben, und dann benutzte ich einen Schleichpfad durch eine Schonung nach Pütt zurück.

Vater traf sofort nach meinem Eintreffen mit der Nachricht, dass unser Dorf schon unterwegs sei, die letzten Vorbereitungen. Es war also seit mindestens 3 Wochen ausgehandelt, dass Vater, Harm und ich auf Fahrrädern und Mutter mit Jörg, Kuno und dem Chauffeur in unserem Auto auf die Flucht gehen werden, wenn auch getrennt voneinander. Unsere Devise war, soviel Gepäck wie möglich zu retten. Sieben Personen hätten ja auch ins Auto gepasst, aber die Mitnahme von Gepäck wäre fortgefallen. Vater hatte zwei Landkarten fertiggemacht, eine für uns, eine für Mutter, auf welchen er die für Übernachtungen in Frage kommenden Forsthäuser rot unterstrichen hatte, verteilt über Vorpommern, Mecklenburg und Schleswig-Hostein und Niedersachsen. Auch gab er den Auftrag, dass jeder sich selbst auf jedem zu passierendem Regierungsforstamt, z. B. in Schwerin, Schleswig, Lüneburg persönlich meldet und nach dem anderen dort nachfragt. Mit Verwandten in Oberelsungen bei Kassel, bei Frankfurt/M. und in Stuttgart wegen von dort heranrückender Westfront sobald wie möglich Kontakte aufzunehmen, lautete die Verabredung.

Kurz bevor wir auf dem Pütter Hof startklar waren, erschien plötzlich der Revierförster Schröder von Unterkarlsbach, der auch im Walde wohnend, vergessen worden war, mit seinem vollbeladenen Pkw samt Ehefrau und Hund. Wir freuten uns sehr darüber, dass Mutter nun gute Gesellschaft hatte auf der Flucht, so wie er auch.

Inzwischen war es 17 Uhr geworden. Es lag ca. 10 cm Schnee, und wir hatten ca. minus 10 Grad Frost. Mit erschütterten Blicken verabschiedeten wir uns voneinander an der Grundstücksausfahrt nochmals, es war Montag, der 5. März 1945, 17 Uhr. Dieses Datum vergesse ich nie.

Auch ich ließ den Volkssturm sein wie er war. Es war mir alles egal. An der Panzersperre vor unserem Grundstück angekommen, war kein Bewacher mehr da. Vater, Harm und ich hielten noch mal eine kurze Gedenkpause darüber ab, ob wir noch etwas ganz Wichtiges nachholen müssten. Wir hatten also doch nichts vergessen, und wir reihten uns in den endlosen Flüchtlingstreck ein.

Deutsche Schicksale 1945 - Zeitzeugen erinnern

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