Читать книгу Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit - Jürgen Wächter - Страница 6

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2. Der Sinn der Angst und ihre drei Überlebensstrategien

„Der Grad der Furchtsamkeit ist ein Gradmesser der Intelligenz.“

Friedrich Nietzsche, Philosoph (1844–1900).33

„Ich glaube, dass die Erkenntnis der Wahrheit nicht in erster Linie

eine Sache der Intelligenz, sondern des Charakters ist.

Dabei ist das Wichtigste, dass man den Mut hat, nein zu sagen.“

Erich Fromm, Psychoanalytiker (1900–1980).34

Angst ist eine der zentralen Emotionen des Menschen. Daher ist auch die Psychologische Wissenschaft schon seit früher Zeit bemüht, eine Definition und eine Erklärung für ihr Auftreten zu finden. Viele dieser Bemühungen schlugen jedoch fehl und führen nicht weiter, u. a. die Versuche einer Abgrenzung zwischen den Begriffen Furcht und Angst, die Frage, ob Angst eines Objektes bedürfe, dem gegenüber die Angst entstehe, die Ableitungen von Geburts- und Todesangst oder gar Sigmund Freuds Verbindung mit sexuellen Aspekten, wie seiner Theorie vom Ödipuskomplex.35 Die Psychotherapie hat sich lange auf die krankhaften Formen der Angst konzentriert, die „normale“ Angst hat auch sie vernachlässigt.36

Die Zahl der Dinge, Ereignisse und Gedanken, vor denen wir Angst haben können, ist nahezu endlos. Wir alle kennen die Angst vor dem Tode, vor Höhe, dem Alleinsein, vor Alter, Krankheiten, Geräuschen in der Nacht, Tunneln, Fahrstühlen, Dunkelheit, Spinnen, Mäusen, Hunden, großen Plätzen, Enge, dem Zahnarzt mit seinem Bohrer. Dazu kommt Angst vor Enttäuschung, Prüfungsangst, die Angst, missverstanden oder nicht geliebt zu werden, nicht anerkannt oder verlassen zu werden, die Angst vor Ablehnung, Autorität und Arbeitslosigkeit, die Angst vor Kritik, allgemeine Zukunftsangst, die Angst vor Entscheidungen, vor Veränderung, die Angst, nicht zu genügen, etwas zu verpassen, zu scheitern oder von der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Skurril fanden wir es, als wir hörten, dass jemand Angst vor Müllcontainern hatte, aber das ist seit dem Frühjahr 2020 vorbei. Wir hätten uns schließlich auch nie vorstellen können, dass es eine Angst geben könnte, nicht genügend Toilettenpapier zu besitzen. Alles ist möglich.

Auch die körperlichen und emotionalen Reaktionen auf Angst sind vielfältig. Was geschieht nicht alles in uns, wenn wir Angst haben. Der Herzschlag wird schneller, der Blutdruck steigt, unsere Atmung verändert sich, die Muskeln verspannen sich, wir bekommen Mundtrockenheit oder Übelkeit mit Druck in der Magengegend bis hin zum Erbrechen, wir zittern, wir schwitzen und bekommen Schweißausbrüche, unsere Nerven kribbeln. Weiterhin verengen sich unsere Pupillen, unser Blick wird enger, die Stimme zittriger, wir weinen und müssen ständig zur Toilette bis hin zum quälenden Durchfall. Uns kann schwindelig und schwarz vor den Augen werden und manche fallen gar in Ohnmacht. Auch unser Denken ändert sich unter Angst und in unserem Kopf wird es völlig verrückt. Unsere Gedanken kreisen um das Problem, wiederholen es wieder und wieder, grübeln, unsere Kreativität und logisches Denken verschwinden, unser sexuelles Interesse erlahmt gedanklich und körperlich, ein Gefühl der Ausweglosigkeit und Entsetzen macht sich breit, wir sind angespannt und reizbar. Auch hektische Betriebsamkeit und Ruhelosigkeit helfen uns nicht, und wenn dies alles zu lange anhält, können wir irgendwann nicht mehr. Es kommt zu Einschlaf- und Durchschlafstörungen, zu völliger Erschöpfung, wir ziehen uns aus der Umwelt zurück, ziehen die Bettdecke über den Kopf, essen zu viel oder zu wenig, trinken Alkohol oder greifen zu Psychopharmaka. Eventuell erfolgt eine Depression. Warum das nur alles? Das sind doch Reaktionen, die wir gar nicht wollen, die uns nicht guttun. Was soll das, warum reagieren wir so?

Da die Evolution selten auf Dauer Unsinniges bestehen lässt, muss diese Vielfalt an Reaktionen irgendeinen Sinn haben. Versuchen wir einmal, tiefer hinter das Geheimnis der Angst zu schauen.

Um die Vielfalt zu verstehen und den Sinn hinter all dem zu erkennen, müssen wir erst einmal klären, wie die Angst im Laufe der Evolution entstanden ist und wofür sie eigentlich da ist. Damit können wir dann im Umkehrschluss auch analysieren, wann Angst kein guter Ratgeber ist. Und all das führt uns dabei immer wieder zu den vielen Merkwürdigkeiten der Coronazeit. Dazu werden wir die Vielfalt der Angstformen und unsere Reaktionen zu einem kohärenten System zuordnen, das es uns ermöglichen kann, Ängste verstehen und überwinden zu lernen. Und so können wir schließlich die Coronazeit überstehen und Lösungen dafür finden, wie wir aus diesem ganzen Angstgeschehen herauskommen und es erreichen können, dass so etwas nie wieder geschehen kann.

Gehen wir einmal ganz weit zurück. Unsere Vorfahren lebten über Jahrmillionen in einer nicht ungefährlichen Umwelt. Mit einer Körpergröße von nur etwas über einem Meter waren unsere Ahnen in Afrika vor drei Millionen Jahren, wir nennen sie Australopithecus, eine beliebte Beute von Löwen, Leoparden und anderen Raubtieren. In der Psychologie wird oft das Beispiel des Säbelzahntigers bemüht, der war aber gar nicht so relevant und wurde wohl sogar vom Menschen später ausgerottet. Es gab viele andere Raubtiere, die dem Menschen gefährlicher waren. Selbst als Homo habilis und Homo erectus, unsere nachfolgenden Vorfahren, an Gehirn- und Körpergröße zunahmen und das Feuer zu beherrschen gelernt hatten, war das Leben risikohaft. Mit einfachen Lanzen auf Jagd zu gehen, konnte leicht eigene Verletzungen mit sich bringen. Noch im Mittelalter kamen viele Jäger zu Tode oder zu schweren Unfällen, die versuchten, mit einem Sauspieß ein Wildschwein zu erlegen. In südlicheren Ländern kamen Gefahren durch giftige Tiere hinzu, Skorpione, Spinnen und Schlagen etwa. Das Herunterfallen von einem Baum oder Felsen mit Knochenbrüchen konnte ebenfalls den Tod bedeuten. Da machte es in der langen Evolutionsgeschichte Sinn, eine angeborene Empfindung zu besitzen, die vor solchen Gefahren warnte. Die Angst.

Ebenso machte es Sinn, angeborene Lösungsmöglichkeiten zu besitzen, um diesen Gefahren zu entkommen. Natürlich geht das durch den Verstand, doch unser Denken ist verhältnismäßig langsam. Viel schneller arbeiten unser Unterbewusstsein und unsere Reaktionen. Und Schnelligkeit kann Leben retten. Wenn wir etwa stolpern und hinfallen, liegen wir schon auf der Nase, bevor wir bewusst nachdenken können, was eigentlich geschehen ist. Glücklicherweise hat unser Körper automatisch reagiert und uns so hinfallen lassen, dass uns meist nichts passiert ist. „Fall nicht hin“, sagen wir häufig sorgenvoll zu kleinen Kindern. Aber sie fallen dennoch immer wieder und meist geschieht ihnen nichts. So üben sie diese automatischen Körperreaktionen bis zur Perfektion. Erst im Alter, wenn unsere Muskeln und Gelenke nicht mehr so beweglich sind, können sie nicht mehr so flink die automatischen Befehle des Unterbewusstseins ausführen. Dann kommt die Zeit der Knochenbrüche, insbesondere der Oberschenkelhalsbrüche. Grundsätzlich sind unsere angeborenen und automatischen Reaktionsweisen in Gefahrensituationen jedoch eine gute Sache für unser Leben und unsere Gesundheit bis ins hohe Alter.

Begeben wir uns zurück in eine Zeit, in der unsere Vorfahren noch als Steinzeitmenschen in den Savannen Afrikas lebten. Oder noch weiter zurück, als wir als kleine mäuseartige Säugetiere in einer von Dinosauriern beherrschten Welt überleben wollten. Vielleicht noch weiter zurück als kleines Tier, das einmal der Vorfahr aller Wirbeltiere werden würde. Was hatten diese Wesen nun für ein Rüstzeug, um aus Gefahrensituationen lebend davonzukommen? Was konnten sie tun? Nun, die Evolution hat uns gleich mit drei Strategien ausgestattet. Dreifach hält halt besser. Es sind Flucht, Angriff und Erstarrung.

2.1 Flucht

Wir sind ein Steinzeitmensch, vielleicht ein kleiner Homo habilis, der vor eineinhalb Millionen Jahren in der ostafrikanischen Serengeti lebte.37 Mit einem Stock und einem Faustkeil bewaffnet, ziehen wir durch die Savanne, um kleine Tiere zu erbeuten, vielleicht ein Erdferkel oder ein langsames Stachelschwein. Nebenbei sammeln wir und unsere Familienangehörigen Pflanzen und Früchte und suchen nach Aas. Da! Hinter dem Felsen bewegt sich etwas, vielleicht ein kleiner Klippschliefer, eine leckere Beute. Doch nein. Schrecken. Plötzlich und unverhofft starrt uns ein Leopard ins Gesicht, nur zwei Meter vor uns. Seine großen stechenden Augen fixieren uns. Seine starken Muskeln sind zum Sprung bereit, seine weißen großen Reißzähne leuchten uns entgegen. Höchste Gefahr. Lebensgefahr, wir sind dem Tode nahe. Jetzt muss alles ganz schnell gehen; sonst werden wir gefressen.

Was geschieht nun in uns? Angst. Panische Angst. Es gibt nichts anderes mehr als Angst. Denn nur sie kann nun unser Leben retten. Wir denken nicht, das macht unser Unterbewusstsein nun allein. Es checkt ab, ob wir die Gefahrensituation meistern können. Nein, können wir nicht, ist die Entscheidung in Bruchteilen einer Sekunde. Der Leopard ist stärker als wir. Also läuft automatisch unsere erste Bewältigungsstrategie für Angst an, die Flucht.

In Mikrosekundenschnelle drehen wir Steinzeitmensch uns um und laufen mit aller zur Verfügung stehender Kraft von dem Leoparden davon. Wir laufen schneller als jemals zuvor in unserem Leben. Denn die Angst schaltet unseren ganzen Körper auf dieses einzige Ziel der Flucht. Alle Energiereserven werden freigeschaltet. Adrenalin strömt in unsere Muskeln, sodass wir noch schneller werden. Je leichter wir sind, desto mehr Geschwindigkeit bekommen wir. Also alles raus. Heute würden wir uns in die Hose machen, aber damals liefen wir nackt umher. Das kennen wir heute noch, etwa wenn wir vor einer Prüfung noch schnell zur Toilette müssen, obwohl wir kaum etwas getrunken haben. Oder wenn sich dann plötzlich noch Durchfall einstellt. So blöd das für uns heute ist, für uns als Steinzeitmensch damals erhöhte es die Überlebenswahrscheinlichkeit. Wenn der Magen noch gefüllt ist, kann auch ein Erbrechen Sinn haben. Schlussverkauf, alles muss raus, oben und unten. Leichter werden, schneller werden.

Wer schnell läuft, darf nicht überhitzen, benötigt Kühlung. Also beginnen wir zu schwitzen, Schweiß läuft über den ganzen Körper und kühlt uns. Der Blutdruck muss steigen, ebenso der Puls, um die Muskeln mit genügend Sauerstoff versorgen zu können, den wir durch heftiges Atmen hereinhecheln. Denken hilft bei der panischen Flucht nicht, einfach weg, ist die Devise. Ach, wenn uns dies heute nur nicht bei Prüfungen geschehen würde. Angst in der Prüfung und schon kommt der Blackout und wir wissen nichts mehr von dem, was wir so intensiv gelernt hatten und genau wussten. Hier kommt es her. Denn als die Angst entstand, hatte sie den Sinn, das Überleben zu sichern, von Prüfungssituationen wusste sie noch nichts. Aber da holt sie uns dann heute leider manchmal ein.

Als Steinzeitmensch durften wir nicht eingeholt werden. Wir rennen und rennen, so schnell wie nie, so lange wie nie. Irgendwann sagte uns dann etwas im Inneren, wir sind entkommen. Der Leopard ist weg. Wir haben es geschafft, wir leben. Boah, geschafft. Er ist weg, er ist weg. ‚Ist er wirklich weg?‘, taucht als erster Gedanke des nun wieder einsetzenden Denkens auf. Ja, er ist weg. Wir sind sicher. Alles ist gut. Unser Körper entspannt, das Herz pocht noch heftig, aber nach und nach gehen Puls und Blutdruck zurück, die Muskeln erschlaffen, ein Zittern beruhigt die Nerven und wir sind völlig erschöpft und müde. Ausruhen, hinlegen, schlafen, ist unser Wunsch. Einfach erholen jetzt. Ruhe. Nach ein paar Stunden im Schatten einer Akazie kommen wir wieder auf die Beine. Wir gehen zurück zum Lager und stolz erzählen wir den Familienmitgliedern immer wieder, wie wir es geschafft haben, dieser Bestie heil zu entkommen. Nächstes Mal sind wir vorsichtiger, wenn wir etwas hinter einem Felsen rascheln hören.

Flucht kann also das Leben retten. Und diese Methode wenden wir auch heute gern an. Oft auch in Situationen, die eigentlich gar nicht so gefährlich sind. Bei Prüfungen oder Vorstellungsgesprächen ist es zum Beispiel gar nicht selten, dass manche Personen nicht erscheinen. Sie haben Angst vor der Situation bekommen und so flüchten sie vor ihr. Andere verlassen das Haus, wenn die Schwiegermutter zu Besuch kommt, oder Kinder schwänzen die Schule, weil heute der eine Lehrer oder das schlimmste Fach auf dem Stundenplan stehen. All das sind Formen des Fluchtverhaltens. Halten wir durch und stellen wir uns den Situationen, können trotzdem die körperlichen Reaktionen einsetzen. Wer kennt es nicht! Panik, innere Unruhe, Schweißausbrüche im Wartezimmer des Zahnarztes, vor der Prüfung oder neben Hooligans vor dem Fußballstadion.

Nun gibt es auch viele Menschen, die Angst vor Krankheiten haben, vor Krebs, Demenz oder ansteckenden Krankheiten, Viren und Bakterien. Bloß nicht eine Türklinke anfassen, da kann man sich ja wer weiß was holen. Und wenn doch, schnell die Hände waschen. Überall lauert Gefahr für die Gesundheit. Es kann sein, dass solche Menschen Arzt nach Arzt aufsuchen. Und obwohl die unisono beteuern, dass keine Krankheit festzustellen ist und die Patienten kerngesund sind, glauben diese es nicht. Krank sind sie tatsächlich. Nicht der Körper ist krank, sondern die Psyche. Angsterkrankung. Das ist aber nur die Steigerungsform der Angst vor Krankheit, die wir in normaler Form alle in uns haben. Diese hilft uns, vorsichtig zu sein und gesund zu leben, macht also Sinn und hilft uns beim Überleben. Leider kann man diese normale Angst manipulieren und anheizen. Verbreiten sich etwa Behauptungen über die Gefährlichkeit eines Virus oder Bakteriums und wird dies immerfort wiederholt, so steigt bei fast allen Menschen der Angstpegel. Das merken wir ganz besonders in der Coronazeit. Ein ziemlich normales Grippevirus mit dem wir schon lange Zeit leben, wird plötzlich zum Killervirus erklärt. Dabei war die Grippe 2018 viel schlimmer und hatte hohe Todesraten; in Österreich starben 2.900 und in Deutschland 25.000 Menschen daran.38 Doch da machte niemand Angst. Damals war es eine normale Wintererscheinung, die mit Bettruhe und Vitaminen und einem guten Abwehrsystem von den allermeisten Menschen bewältigt wurde, ohne dass die Angst um sich griff. Das jetzige Virus ist harmloser, es sterben weniger Menschen, aber medial wird Angst verbreitet, und die wirkt bei den meisten Menschen. So wurde die Angst vor einer Coronaerkrankung geschürt.

Schlimm ist, dass das durch die Regierungen erfolgt, weiß doch jeder, dass das Immunsystem gerade durch Angst geschwächt wird. In der kurzen Angst des Steinzeitmenschen konnte der Körper darauf verzichten, aber bei der heutigen Dauerangst hat das verheerende Folgen. Angstschüren führt dazu, dass mehr Menschen erkranken, der Krankheitsverlauf heftiger wird und mehr Menschen sterben. Und es zeigt auch, dass es bei dem ganzen Coronatheater nicht um die Gesundheit der Menschen geht. Helfen würde es, Angst zu nehmen, an eine gesunde Lebensweise mit viel Obst, Gemüse, Vitaminen und frischer Luft zu appellieren. Aber nichts von dem. Die Menschen sollen ja gerade ihre Angst behalten. Dann kann man sie besser beherrschen. Und genau das funktioniert. Angst geht um in Europa und der Welt.

Und natürlich versuchen da Menschen, der vermeintlichen Gefahr durch Flucht zu entkommen. Eine Frau, die ohne Maske einkaufen ging, schrieb: „Soeben im Supermarkt. Eine Frau sprang an der Kasse zur Seite, als ich mich ihr näherte, die pure Angst!“39

Sogar im Freien sind solche Fluchtreaktionen zu erleben: „Gerade gehe ich im Park. Da ist eine alte Frau mit Rollator und etwa fünfzehn Meter entfernt hustet einer lautstark. Da sagte sie zu ihrem Mann: ‚Nicht einatmen!‘. Im Ernst. Die machen die alten Leute völlig kirre.“40

Eine Geschichte trug sich in Mitteldeutschland zu: „Margot war immer schon unsere recht merkwürdige Helferin hier bei uns im Baugeschäft. Seit Jahren liegt sie mit allen im Streit. Nicht fortwährend. Sie braucht nämlich eigentlich Menschen, die sie zuquasseln kann. Hat sie ein Opfer gefunden, erfolgt ein ununterbrochener Monolog. Ahnungslos ging ich das Treppenhaus hinunter, da kommt Margot mir entgegen. ‚Jetzt bloß nicht zu freundlich sein‘, denke ich und befürchte sonst ihr nächstes Opfer zu sein. Aber meine Angst ist völlig unnötig. Sie blickt auf. Sieht mich ohne Maske. Erstarrt in ihrer Mimik, um dann in ein Panikgesicht zu wechseln. Dann dreht sie sich zum Treppengeländer und wendet sich von mir ab, mir ihren Rücken zeigend. ‚Margot, hast du ein Problem? Kann ich dir irgendwie helfen?‘, frage ich in aufrichtigem Ton. ‚Nein, Corooona. Steck mich nicht an‘, stürzt es aus ihr heraus und sie versteckt ihren Kopf dabei noch in ihrer Jacke, schnell die Treppe hochstolpernd. Ich bin also ein potenzieller Infektionsherd. Eine Gefahr. Klasse, die nervt mich wohl nicht weiter. Wie es der Deibel will, kommt sie mir ein paar Tage später erneut auf der Treppe zur Verladerampe entgegen. ‚Hallo Margot, schaust du mich denn heute mal freundlich an?‘, necke ich sie. Natürlich geschieht das nicht. Wieder wendet sie sich ab, steckt ihren Kopf in die Jacke und schreit: ‚Ich bin nicht unfreundlich!‘. ‚Das kommt mir aber so vor, ich finde es sehr unfreundlich, wie du dich zeigst!‘, antworte ich. Darauf schreit sie dann noch irgendwas von der Verladerampe zu mir herauf, was ich leider nicht verstehen kann, da einige Kollegen von der Warenausgabe lachend die Szene beobachtet hatten. Jetzt bin ich mir sicher. Margot wird mich wohl nicht mehr nerven. Danke Coroni.“

Für diese Frau kann man nur Mitleid haben. Wie stark muss ihre Angst sein, dass sie sogar vor ihren Kollegen wegläuft, völlig auf ihre Würde verzichtet und sich lieber zum Gespött machen lässt, als souverän mit der Herausforderung umzugehen. Die Frau ist ein Opfer der Angst. Und so ergeht es leider sehr vielen Menschen. Sie haben tatsächlich Angst vor dem Virus, obwohl sie meist im besten Alter sind und zumeist selbst schon mindestens einmal eine Grippe überstanden haben. Doch damals war es nur eine normale Grippe. Heute, so wurde ihnen beigebracht, ist es Corona und da müsse man Angst vor haben. Und so haben sie Angst, fürchterliche Angst. Allein dieses Angsterzeugen stellt eigentlich eine vorsätzliche Körperverletzung dar. Unzählige Menschen leiden darunter.

Eine Frau schrieb uns: „Das Verhalten mancher Bürger kommt schon fast zwanghaft rüber. Das erschreckt mich und mir macht das mehr Angst als das Virus. Jeder schaut nur auf sich. Ob jemand einem anderen noch hilft, wenn er auf der Straße zusammenbricht, oder aus Angst, er könnte ein Virus haben, die erste Hilfe unterlässt? Solche Gedanken finde ich viel bedrohlicher.“41

Doch es geschieht noch mehr als stilles Leiden. Viele Menschen verlassen aus Angst ihre Wohnungen nicht mehr. Der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Charité in Berlin, Professor Dr. Michael Tsokos, sagte: „Wir haben natürlich jetzt auch … als Rechtsmediziner viel weniger Covid-19-Tote, sondern vielmehr die Kollateralschäden, die wir jetzt sehen. Allein letzte Woche haben wir mehrfach Menschen obduziert, die seit dem Lockdown nie wieder aus ihrer Wohnung raus sind, die da wirklich jetzt hochgradig fäulnisverändert in Messiewohnungen lagen. Mit Gasmasken und Astronautennahrung, … die auch keiner vermisst hat. Und das sehen wir ganz viel, dass Wohnungen aufgemacht werden und da werden eben hochgradig fäulnisveränderte Leichen von Menschen gefunden, die nicht ins Krankenhaus gegangen sind, weil in ihnen als Drohszenarien, die aufgemacht wurden, eben die Angst überwog, rauszugehen.“42 Das ist so traurig und unmenschlich, dass es einem das Herz zerreißt. Dabei gäbe es doch auch eine ganz andere Bewältigungsstrategie als die Flucht vor dem Virus.

2.2 Angriff

Gehen wir wieder zurück in die Steinzeit Ostafrikas. Unser Steinzeitvorfahre hat nämlich eine weitere Strategie parat, die eigentlich das genaue Gegenteil darstellt, den Angriff. Tritt Angst auf, untersucht unser Unterbewusstsein ja, wie gesagt, in Sekundenschnelle, ob wir der Gefahr gewachsen sind oder nicht. Kommt es zu dem Ergebnis, wir sind es nicht, flüchten wir. Kommt es zur Auffassung, dass wir die Gefahr beherrschen können, greifen wir an. Unser Steinzeitvorfahre ist wieder in der Serengeti und hört ein Rascheln hinter dem Felsen, das sich als Leopard entpuppt.

Diesmal ist er aber nicht allein, sondern fünf erwachsene Jäger aus seiner Familie sind bei ihm, alle mit Lanzen bewaffnet. Höchste Gefahr, aber zusammen schaffen wir das (Entschuldigung, solche Urmenschensprüche verwenden manche noch heute). Die Steinzeitmenschen richten alle ihre Lanzen in Richtung Leopard, ihr Adrenalinspiegel steigt, ihre Muskeln spannen sich an. Sie richten sich auf, machen sich groß und gehen mutig auf den Leoparden los, von drei Seiten gleichzeitig. Dabei schreien sie ihn so laut sie können an. „Du Mistvieh. Wir zeigen es dir!“ Ihre Pupillen erweitern sich. Der Erste wirft seine Lanze, die den Leoparden verfehlt. Der Leopard faucht und reißt sein Maul auf. Wieder fliegt ein Speer, der ihn am Hinterlauf trifft. Jetzt wird er vollends wütend, greift an. Wir sehen in sein zähnebesetztes Maul, sehen seine Reißzähne vor uns, er springt uns an. Intuitiv richten wir die Lanze auf seinen Hals. Alles geht so schnell, wir stoßen zu. Treffer. Der Leopard schreit auf, Blut spritzt. Dann bricht er tot vor uns zusammen. „Jaaah, Sieg. Geschafft. Die Bestie ist besiegt.“ Wir alle jubeln vor Freude, Stolz. Wir sind die größten. Schließlich ziehen wir dem Tier sein Fell ab und hängen es uns triumphierend um. Wir sind so stark wie ein Leopard. Wir sind sogar noch stärker. Wir sind unbesiegbar.

Hier haben wir nahezu die gleiche Situation wie beim Beispiel der Flucht. Eine einzelne Sache ist aber anders und entscheidend. Nämlich unsere innere Einschätzung. Dieses Mal sagt unser Unterbewusstsein in Sekundenschnelle, dass wir dem Tier gewachsen sind. Und diese Entscheidung allein erzeugt ein ganz anderes Verhalten. Die erste Angst verschwindet, die eben beschriebenen Angstreaktionen des Körpers treten gar nicht auf. Niemand zittert oder macht sich in die Hose. Nein, statt einer Fortsetzung der Angst tritt nun die Wut ein, die sich zur Rage steigern kann. Zumindest entsteht ein hohes Selbstbewusstsein, eine subjektiv gefühlte Stärke. Statt wegzulaufen, werden die Lanzen geworfen, wird die Bestie angegriffen. Durch lautes Schreien, Sich-groß-Machen und Aggressivität wird der Feind eingeschüchtert. So machten das auch alle Armeen bei ihren Angriffen. Ein lautes „Hurrahhh“ beim Vorwärtsstürmen gab es noch im Ersten Weltkrieg an allen Fronten. Dazu lautes Trommeln, am besten noch im Takt, um alle geschlossen als starke Masse erscheinen zu lassen. Keine Zeit für Angst, denn wir sind stärker und kämpfen mutig. Lautes Trommeln wurde in der Coronazeit auch bei den Demonstrationen eingesetzt, etwa beim verbotenen Kerzenumzug um die Leipziger Innenstadt am 7. November 2020. Etwa 20.000 Menschen zogen friedlich unter „Wir-sind-das-Volk“-Rufen und lautem Getrommel trotz polizeilichen Hinderungsversuchen ihren vorgesehenen Weg.43 Mutig, geschlossen und friedlich riefen sie „Frieden-Freiheit-Demokratie“ und trotzten so erfolgreich den Versuchen der Stadtverwaltung, die Demonstration aufzulösen.44 Die Menschen zogen so, sich gegenseitig Mut machend, in Wiederholung der Demonstrationen am Ende der DDR, geschlossen mit Kerzen und Friedensfahnen ohne Angst und im Bewusstsein, sich für eine freie und moralisch edle Gesellschaft einzusetzen, ihren Weg. Auch wenn es friedlich war, die Politiker sahen es selbstverständlich als Angriff an. In psychologischer Sicht verständlich. Die Grünen forderten Konsequenzen und den Rücktritt des Innenministers, der die Verantwortung gleich an das Oberverwaltungsgericht abgab, das alles genehmigt hatte.45 Die Linke sprach von Staatsversagen und der Polizeipräsident sah sich am nächsten Tag zu einer Stellungnahme genötigt.

Die Menschen hatten ein Zeichen gesetzt, hatten gezeigt, dass sie keine Angst haben, dass sie sich nicht ängstigen lassen. Es gibt also eine Möglichkeit, aus der Angstspirale herauszukommen, den Angriff, der sogar in friedlicher Form erfolgen kann. Bevor wir später näher darauf eingehen, wie man seine Ängste auf friedliche Weise überwinden kann, wollen wir aber zuerst die dritte Reaktionsweise auf Angst sowie die sozialen Ängste betrachten. Die dritte Form haben zu Coronazeiten die meisten Menschen gewählt, die Erstarrung.

2.3 Erstarrung

Es kann gefährliche Situationen geben, wo eine Flucht nicht möglich ist und wir auch nicht die Kraft eines Angriffs haben. Wir fühlen uns zu klein und es gibt keine Fluchtmöglichkeit. Was macht unser Steinzeitvorfahre dann? Beginnen wir mit einer kleinen Geschichte über unsere beiden Wellensittiche Peti und Anthea. Sie wohnen in ihrem Käfig, der auf der Fensterbank in der Küche steht. Meist können sie sich frei im Raum bewegen und sie fliegen gern hin und her oder sitzen auf ihrem Lieblingsplatz, oben auf der Gardinenstange. Das geht natürlich nicht, wenn wir kochen, denn die Herdplatten sind viel zu heiß und gefährlich. An einem Abend saßen sie daher in ihrem Käfig, während wir Fisch in der Pfanne zubereiteten. Dabei geriet etwas Fett auf die Herdplatte und es gab eine Stichflamme, nur ein bis zwei Sekunden lang. Am Fliesenspiegel blieb etwas Ruß zurück, ansonsten verlief alles glimpflich. Alles gut also.

Aber ganz anders reagierten Peti und Anthea. Sie saßen völlig erstarrt und total verängstigt in der hinteren Ecke ihres Käfigs und wirkten wie ausgestopft. Keine Regung, kein Pieps, nur ein starrer Blick in Richtung Herdplatte. Nicht mal eine Bewegung der Augenlider war erkennbar. Die beiden Wellensittiche hatten sich offenbar erschrocken, obwohl sie in ihrem ganzen Leben noch nie ein Feuer gesehen hatten. Auch konnten sie nie selber gelernt haben, dass Feuer gefährlich sein kann. Für ihre Vorfahren in Australien, was sicher mehr als zehn Generationen zurücklag, bedeutete Feuer in Form von Buschbränden im Outback allerdings eine große Gefahr, auf die durch die großen Wellensittichschwärme mit Fortfliegen, also Flucht, reagiert wird. Insoweit macht eine Angst vor Feuer Sinn. Aber dass diese Angst so tief in ihrem Erbgut gespeichert ist, das war uns neu. Aber woher kam nun ihre Erstarrung?

Das Feuer hatte tiefste Angst ausgelöst. Angriff dagegen war nicht möglich. Also Flucht. Doch diese ging am Gitter des Käfigs nicht weiter. Sie saßen fest. Auch die Flucht funktionierte also ab da nicht mehr. Als dritte Lösung auf Gefahr trat nun der Totstellreflex ein. Peti und Anthea saßen völlig erstarrt in der hintersten Ecke des Käfigs. Wir gingen zu ihnen und erklärten ihnen liebevoll, dass alles okay sei. Keine Reaktion. Wir pfiffen ihr Lieblingslied. Auch keine Reaktion. So ging es eine ganze Stunde lang. Auch das Vorspielen eines Videos mit Wellensittichen auf dem Handy, ihr Lieblingsprogramm, führte zu keiner Reaktion. Völlige Erstarrung. Wir redeten ihnen ermutigend zu, imitierten ihre Töne des Wohlbefindens. Nichts. Erstarrung. Nach etwa eineinhalb Stunden bewegte Peti leicht sein Bein und innerhalb der nächsten halben Stunde kamen leichte Bewegungen auf, um Kontakt miteinander aufzunehmen und sich eng aneinanderzuschmiegen und sich gegenseitig zu trösten und zu kuscheln.

Was bringt so eine Erstarrung? Bei Feuer eigentlich nichts. Beim Buschfeuer wären die beiden so verbrannt. Aber im Australischen Outback gibt es ja auch keine Gitter und die Flucht wäre erfolgreich gewesen. Die Erstarrung ist eigentlich nur der letzte Versuch, wenn die beiden anderen Strategien nicht zum Zuge kommen können.

Schauen wir wieder unseren Steinzeitmenschen an, der allein durch die Savanne zieht. Wieder kommt ein Leopard. Das Unterbewusstsein checkt wieder ab. Flucht? Nein, der Steinzeitmensch ist heute zu langsam. Angriff? Nein, er ist zu schwach und seine Lanze zerbrach eben beim Erbeuten eines Savannenhasen. Geht also auch nicht. Was nun? Dritte Strategie also. Der Steinzeitmensch schleicht langsam zu einem großen Felsen, lehnt sich in eine Nische und verhält sich ganz leise. Nur nicht auffallen. Vielleicht verliert der Leopard ja das Interesse. Bloß kein Geräusch machen. Auch keine Atemgeräusche. Bloß keine Bewegung, die die Raubkatze bemerken könnte. Ruhig bleiben. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Wie soll man innerlich ruhig bleiben bei einer so direkten Gefahr. Aber es muss sein. Am besten, wir schalten alles ab, dann sind wir am ruhigsten. Und so schaltet unser Inneres tatsächlich ab. Wir erstarren, werden in eine Art Winterschlaf versetzt oder fallen ganz in Ohnmacht. Herzschlag und Atmung werden automatisch auf das absolut Nötigste heruntergefahren. Wir wirken wie tot. Und so werden wir tatsächlich am wenigsten bemerkt, zumindest eine kleine Chance besteht als letzte Lösung. Vielleicht zieht so der Leopard von dannen. Viele Tiere fressen nur frisches Fleisch. So entdeckt der Leopard uns vielleicht, hält uns aber für tot und zieht, angewidert von diesem Aas, Leine. Erst nach einer ganzen Zeit erwachen wir wieder. Aber vorsichtig. Die Gefahr könnte ja noch da sein. Vorsichtig öffnen wir die Augen. Nichts zu sehen. Dann erst leichte Bewegungen, vorsichtig weiter ausschauend. Der Leopard ist weg und so kehrt die Lebenskraft zurück. Noch schwach, ruhen wir uns wieder unter der Akazie aus, gar nicht genau wissend, was eigentlich genau geschehen ist.

Grundsätzlich bestehen die drei angeborenen Möglichkeiten, um auf eine Gefahr zu reagieren, der Angriff, die Flucht und das Erstarren. Diese drei Möglichkeiten treten nicht nur bei Vögeln, sondern auch bei allen Säugetieren auf. Sie sind also evolutionär schon sehr früh entstanden. Da es sie bis heute gibt, liegt es nahe, dass sie im evolutionären Sinn vorteilhaft sind. Hieraus können wir erklären, warum wir uns noch heute bei Angst so oder so verhalten.

Im Internet war im Herbst 2020 ein bewegendes Video zu sehen. Eine weit über 90 Jahre alte Frau, die im Krieg mehrere Personen vor den Nazischergen versteckt hatte, wurde gefragt, was die Angst mit den Menschen damals gemacht habe. Sie antwortete: „Da waren alle ganz still und haben sich zurückgezogen, wenn sie keine Kämpfernatur waren.“ Übersetzt heißt das also, wenn sie keinen Mut hatten und nicht geflüchtet waren, gingen sie in die Erstarrung. Und genauso verhalten sich die Menschen in der Coronazeit. Eine Flucht ist nicht möglich, da ja fast die ganze Welt betroffen ist, einen Angriff gegen die Regierungen trauen sie sich noch nicht zu. Die Folge ist der soziale Rückzug in die eigenen vier Wände. Dieses Verhalten wird noch dadurch unterstützt, als in den Lockdowns Gaststätten sowie Sport- und Freizeiteinrichtungen geschlossen sind. So verkriechen sich die Menschen und vermeiden auch private Kontakte über die Verbote der Coronaregelungen hinaus. So geschah es, dass eine Freundin zum 60. Geburtstag nur Absagen beschert bekam, obwohl private Geburtstagsfeiern zulässig waren. Die Menschen gehen nur noch raus, wenn sie zur Arbeit oder zu notwendigen Besorgungen raus müssen. Viele Geschäfte, in denen man früher stöberte, leiden darunter. Laufkundschaft gibt es nicht mehr und was die Leute brauchen, bestellten sie verstärkt über das Internet. Unser Postbote, immer noch gut gelaunt, schuftet heutzutage deutlich mehr als vor Corona, seine Paketanlieferungen haben sich 2020 verdoppelt. Wo früher in den Fußgängerzonen reges Leben war, schleichen jetzt ein paar vermummte Gestalten daher; wo früher die Touristen Leben brachten, sind nun die Hotels geschlossen, Kneipen und Restaurants dunkel und vor der Kleinkunstbühne und dem Kino prangen Hinweise: „Wegen Konkurs geschlossen.“ Selbst wo früher der allabendliche Stau stattfand, rauscht man während des Lockdowns ab 19 Uhr über verlassene Straßen. Und zu Hause werden dann schnell die öffentlich-rechtlichen Medien eingeschaltet, um sich die tägliche Angstauffrischung reinzuziehen. Ist das noch ein menschenwürdiges Leben?

Dieser Rückzug an allen Fronten geschieht als Reaktion auf Angst. Er ist ein alter Schutzmechanismus, der uns viele Jahrtausende das Überleben gesichert hat, als wir noch in der Natur lebten. In der modernen Gesellschaft dagegen hindert er uns am Leben. Ein Spruch unbekannter Herkunft tauchte 2020 im Internet auf: „Ich hätte nie gedacht, dass ich eine Zeit erleben würde, in der so viele Menschen so große Angst vor dem Sterben haben, dass sie bereitwillig aufhören zu leben.“

Angemerkt sei noch, dass manche Tiere die drei Möglichkeiten auch in Kombination nutzen. Erst ein Stück Weglaufen und dann irgendwo verstecken. Oder erst verstecken und nur im Notfall angreifen, wie manche Schlangen das machen. Eine Schlange ist für den Menschen eigentlich kaum gefährlich, da sie uns schon bemerkt, wenn wir noch weiter entfernt sind. Kommen wir ihrem Versteck aber zu nahe oder treten wir ahnungslos auf sie, dann beißt sie zu, geht also nach dem Erstarren in den Angriffsmodus. Anders macht es der Hase. Er versteckt sich im Gras und erst, wenn wir ihm zu nahe kommen, wechselt er auf den Fluchtmodus und rennt plötzlich los. Das erschreckt uns erst einmal und diese Schrecksekunde nutzt er, um schon mal Abstand zu bekommen. Zusätzlich hat dieser „Angsthase“ die Strategie, im Zickzack zu laufen, wodurch ein Verfolger noch mehr verwirrt wird. Eine prima Dreierkombination, um zu überleben.

Auch der Mensch kann zwischen den drei Strategien wechseln. Der Mutige, der seinen Job und seine Ersparnisse verloren hat, kapituliert vielleicht und zieht sich depressiv zurück. Wer sich zurückzieht, flüchtet vielleicht irgendwann nach Schweden oder überwindet seine Angst und wird zum tapferen Kämpfer gegen die Unterdrückung. Alle Kombinationen sind möglich.

Häufig wurde schon die Frage gestellt, welche Ängste genetisch oder epigenetisch angeboren sind. Bei unseren Vögelchen ist es sicher die Angst vor dem Feuer, bei uns Menschen ist das weniger klar, treten die einzelnen Elemente, vor denen wir Angst haben, doch bei jedem etwas anders auf. Ist Höhenangst vielleicht ein Relikt aus der Frühzeit, oder Angst vor Dunkelheit oder Geräuschen im Dunkeln? So ganz klar ist das nicht. Allerdings scheint manches Schutzverhalten evolutionär angelegt zu sein. Schauen wir uns einmal an, wie sich eine Gaststätte füllt, so sehen wir zumeist, dass erst die Tische an den Wänden besetzt werden, die in der Mitte zuletzt. Den Rücken sichern und Ausblick nach vorne haben, ist eine gute Methode, um in der Wildnis zu überleben. Intuitiv wenden wir sie immer noch an, kommen heute allerdings dann auch damit klar, wenn wir als zuletzt kommend nur noch einen Tisch in der Mitte finden. Angst scheint also eventuell auch teilweise genetisch oder epigenetisch in uns prädisponiert zu sein. Doch sie zu überwinden, können wir lernen. Aber wir können auch lernen, Ängste zu bekommen. Und das geht leider sehr leicht. Schauen wir uns zunächst an, wie Angst vor bestimmten Objekten oder Situationen durch Lernen entstehen kann.

33 NIETZSCHE 1881.

34 FROMM 1956.

35 Vgl. FREUD 1926, GOLDSTEIN 1971, KIERKEGAARD 1984, GONDECK 1990, LACAN 2010.

36 In neuester Zeit haben sich besonders der Neurobiologe Dr. Gerald Hüther und der Psychologe Prof. Dr. Rainer Mausfeld um wertvolle Beiträge zum Thema Angst verdient gemacht (HÜTHER 2018, 2020a, 2020b, MAUSFELD 2019a).

37 Zur Lebenswelt der Serengeti siehe u. a. GRZIMEK & GRZIMEK 1959.

38 A. A. 2019a, b, c, d.

39 Juliane S., Mitteilung vom 08.09.2020.

40 Mitteilung von Juliane S.

41 Mail von Madlin Handt vom 01.09.2020.

42 TSOKOS 2020.

43 Es gab tatsächlich auch Gewalt, allerdings nicht von Seiten der Demonstranten. Einige Antifa-Aktivisten versuchten zu randalieren. Am Hauptbahnhof konnte eine Gruppe beobachtet werden, die sehr schnell und effektiv von einer Polizeieinheit gestoppt wurde. Bei einem der eingesetzten Reisebusse wurden von Antifamitgliedern Scheiben eingeworfen.

44 In der Presse wurde am selben Abend noch berichtet, die Masse hätte „Sieg-Heil“ gerufen, was eine infame Lüge war.

45 A. A. 2020zzz.

Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit

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