Читать книгу Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit - Jürgen Wächter - Страница 8
Оглавление4. Die vier Grundformen der sozialen Ängste
„Faulheit und Feigheit sind die Ursachen,
warum ein so großer Teil der Menschen,
nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen,
dennoch gern zeitlebens unmündig bleiben und warum es anderen so leicht wird,
sich zu deren Vormündern aufzuwerfen.
Es ist so bequem, unmündig zu sein.“
Immanuel Kant, deutscher Philosoph (1724–1804).
„Es gibt Augenblicke, in denen in unserem Leben Widrigkeiten auftauchen,
die wir nicht verhindern können. Doch alles hat seinen Grund.
Erst nachträglich begreifen wir, warum es sie gegeben hat.“
Paulo Coelho, brasilianischer Schriftsteller und Philosoph (*1947).
Unser Unterbewusstsein bewertet Menschen in weniger als einer Sekunde als angenehm oder unangenehm. Erst wenn wir länger in Kontakt stehen, folgt eine differenziertere Sicht. Allerdings nicht immer. Denn viele Menschen laufen stets mit einer Art Mundschutz herum, schon lange vor Corona. Sie bauen eine Maske um sich auf, sagen nicht, was sie denken, und verhalten sich so, dass ihr wahres Innere möglichst nicht nach außen gelangt. Für sie ist die Maske gar nicht so eine Belastung. Sie sind es gewohnt, ihr Ich nicht zu zeigen. Da ist eine Stoffmaske nur eine andere Form ihrer psychischen Maske, die sie sowieso fast nie ablegen. Unter ihnen können sie sich nun besonders gut verstecken. Das Ich dieser Menschen ist noch nicht zur Entfaltung gekommen, sie sind weder in der Liebe zu sich noch zu anderen angelangt.
So eine psychologische Maske kostet allerdings fortwährend Energie, Energie, die in Krisenzeiten nicht mehr zur Verfügung steht. Unter unseren Freunden, Bekannten und Nachbarn verhalten sich in Coronazeiten daher manche plötzlich anders, als wir es erwartet hätten. Manche zeigen ungeahnte Stärke, doch viele reagieren mit Angstsymptomen, alle wirken echter. Nun zeigt sich, wer sie wirklich sind. Selbstbewusste Menschen mit eigener Ich-Stärke oder in Ängsten verfangene Individuen, die den nächsten Schritt ihrer geistigen Entwicklung noch nicht schaffen. Altbundeskanzler Helmut Schmidt sagte schon: „In der Krise beweist sich der Charakter.“ Recht hatte er.
Charakter ist eine sehr stabile Eigenschaft des Menschen. Erforscht wird er in der Persönlichkeitspsychologie. Schon der griechische Arzt Hippokrates sprach im 4. Jahrhundert v. Chr. von den vier Persönlichkeitstypen, dem aufbrausenden Choleriker, dem langsamen Phlegmatiker, dem besorgt pessimistischen Melancholiker und dem eher sorglosen Sanguiniker. Diese Typen leben heute noch fort, etwa in den Persönlichkeitsdimensionen des deutsch-britischen Psychologen Hans Jürgen Eysenck.69 In der Psychologie gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Ansätzen, Persönlichkeiten gliedern und ermitteln zu können. C. G. Jung sah acht Persönlichkeitstypen, die er jeweils noch nach extra- und introvertiert aufteilte, das Modell von Myers-Briggs nimmt vier Persönlichkeitsdimensionen an, die miteinander kombiniert werden können, und das Big-Five-Modell unterscheidet nach den Aspekten Neurotizismus, Extravertiertheit, Offenheit, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit.70
Der Psychoanalytiker Fritz Riemann veröffentlichte 1961 sein bahnbrechendes Werk „Grundformen der Angst“.71 Vier Formen sind danach so dominant, dass sie vier typische Persönlichkeiten hervorbringen. Riemann schrieb: „So vielfältig … das Phänomen Angst bei verschiedenen Menschen ist, … geht es bei genauerem Hinsehen doch immer wieder um Varianten ganz bestimmter Ängste, die ich deshalb als ‚Grundformen der Angst‘ bezeichnen und beschreiben möchte. Alle überhaupt möglichen Ängste haben mit diesen Grundformen der Angst zu tun.“72 Tatsächlich geht es bei diesen vier Formen eher um die sozialen Ängste.
Schauen wir uns diese vier Riemannschen Grundformen im Folgenden einmal an; es sind die Zwanghafte Persönlichkeit, die Histrionische, die Depressive und die Schizoide Persönlichkeit, wobei jeweils zwei in einem gewissen Gegensatz zueinander stehen.
Die vier Persönlichkeiten nach Riemann
4.1 Die Zwanghafte Persönlichkeit
„Gehorsam heißt die Tugend, um die der Niedre sich bewerben darf.“
Friedrich von Schiller (1759–1805).73
„Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt,
und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.“
Immanuel Kant.
Die Zwanghafte Persönlichkeit ist für Deutschland geradezu typisch. Dieser biedere Ordnungsmensch möchte Stabilität und Verlässlichkeit, Regeln und Normen, Gesetz und Befehl. Anordnungen gehorcht er peinlichst genau. „Er versucht, das Leben in Schemata und Regeln zu zwingen“74, liebt pedantische Ordentlichkeit, ist pünktlich und versteht, nirgends anzuecken.
„Der zwanghafte Mensch kann es schwer annehmen, dass es im Bereich des Lebendigen keine Absolutheit, keine unveränderlichen Prinzipien gibt, dass Lebendiges nicht völlig vorausberechenbar festgelegt werden kann. Er glaubt, alles in ein System einfangen zu können, um es lückenlos übersehen und beherrschen zu können.“75 So hat er Angst vor Wandlung, vor Unvorhergesehenem und Veränderung. Er hat die Neigung, „alles beim Alten zu belassen“76, und will „immer das Gleiche, schon Bekannte und Vertraute“.77 „Diese Menschen haben immer die Angst, dass alles sofort unsicher, ja chaotisch würde, wenn sie auch nur ein wenig lockerer ließen, dem Andersartigen sich öffneten und nur etwas nachgäben oder sich einmal spontan überließen, ohne die immerwährende Selbst- und Fremdkontrolle.“78 Sie haben Angst vor der Selbstverantwortung, dem Wagnis, der Spontanität. So weichen sie neuen Erfahrungen aus, sind wenig geöffnet und zeigen ein starres Festhalten an Überkommenen, u. a. auf Gebieten beruflicher, „familiärer, gesellschaftlicher, moralischer, politischer, wissenschaftlicher und religiöser Art“.79
„Das Grundproblem zwanghafter Menschen können wir also in ihrem überwertigen Sicherheitsbedürfnis erkennen. Vorsicht, Voraussicht, zielbewusste Planung auf lange Sicht, überhaupt die Einstellung auf Dauer, hängen damit zusammen. Von der Seite der Angst her gesehen, können wir ihr Problem beschreiben als Angst vor dem Risiko, vor Wandlung und Vergänglichkeit.“80 „Je mehr wir also das Alte festzuhalten versuchen, umso mehr müssen wir die Angst vor der Vergänglichkeit empfinden.“81 Dies ist der Mensch, der in der Krise schnell seinen Vorrat an Nudeln, Mehl und Toilettenpapier auffüllt, damit alles so weitergeht wie bisher.
Leergekaufte Bestände an Toilettenpapier im März 2020
Eine Frau schrieb: „Mein Spruch beim Bäcker, nachdem die Verkäuferin mindestens fünfmal gesagt hat, dass sie ja nur Vorschriften befolgen würde, war: ‚Wie bei den Nazis, da haben auch immer alle nur Vorschriften befolgt.‘ Die Tusse meinte dann zur Polizei, ich hätte sie als Nazi bezeichnet. Habe das richtig gestellt und der Polizei gesagt, dass ich das sogar jederzeit wiederholen würde und dass das für sie im Übrigen gleichermaßen gelte. Sie schauten peinlich weg und gingen dann.“82
„Der zwangshafte Mensch hat Schwierigkeiten mit seinen Aggressionen und Affekten. Er hat es früh lernen müssen, sich zu kontrollieren und zu beherrschen; spontane Reaktionen sind … angstbesetzt.“83 Die Affekte der Zwanghaften Persönlichkeit sind daher abgedrosselt.84 „Bei ihm wird der Verzicht auf die Affekte meist über die Ideologisierung der Selbstbeherrschung und Selbstzucht vollzogen: Affekte zu äußern, ist dann ein Zeichen von Sich-gehen-lassen, von Sich-nicht-in-der-Hand-haben, ein Verhalten, das unter seiner Würde ist.“85 „Für die Aggression Zwanghafter ist es … charakteristisch, dass sie sich an Normen, Regeln und Prinzipien hält; sie geschieht bevorzugt ‚im Namen von …‘ und pflegt eng mit dem Machttrieb gekoppelt zu sein. Dadurch kann man ihnen die Aggression oft schwer nachweisen, und sie bekommt gleichsam etwas Überpersönliches, Anonymes, wohinter sich die persönliche Lust an der Aggression verbirgt.“86 Zwangshafte Menschen finden sich daher bevorzugt in Berufen, die Macht „im Namen der Ordnung, der Zucht, des Gesetzes, der Autorität“ ermöglichen, z. B. bei Politikern, Militärs, Polizei, Beamten, Richtern, Staatsanwälten und Lehrern.87 Dort halten sie sich streng an die Buchstaben des Gesetzes und können als pflichtbewusster, pedantischer Beamter zum „unmenschlichen Paragraphenmenschen“ werden.88
Sie leben durch Überkorrektheit ihre Aggressionen aus und tarnen ihr Verhalten vor sich selbst damit, dass sie ja nur konsequent etwas Richtiges, einen Wert vertreten.89 Gleichzeitig haben sie das gute Gewissen, damit etwas Notwendiges zu tun.90 Eine Dame reagierte auf eine aggressive Verkäuferin konsequent: „An der Kasse eines Supermarktes. Ich hatte ca. 50 % des Wagens schon geleert, als mich die Kassiererin aufforderte, eine Maske aufzuziehen. Ich sagte nein, ich habe ein Attest und bin befreit. Da meinte die Dame, das interessiert nicht, dann darf ich nicht einkaufen. Daraufhin habe ich die Waren und den Einkaufskorb so stehen gelassen und mich mit den Worten:‚Dann eben nicht‘ entfernt.“91
Eine etwas mildere Variante der … „legitimierten“ Aggression ist die übermäßige Korrektheit, die, neben der Unterdrückung der Aggression, wohl die häufigste Form zwanghafter Aggressionsäußerung ist – ohne dass dem Zwanghaften hierbei die Aggression bewusst zu sein pflegt.92 „Wenn alles so bleibt, wie es ist: Die Gegenstände auf dem Schreibtisch in geheiligter Ordnung; die Meinung über etwas in unverrückbarer Gültigkeit; ein moralisches Urteil in paragraphenhafter Starre; eine Theorie in unangreifbarer Behauptung; ein Glaube in unerschütterlicher Absolutheit – dann scheint die Zeit stillzustehen. Alles ist dann voraussehbar, die Welt ändert sich nicht mehr, und das Leben bringt nur mehr die Wiederholung des Gleichen und schon Bekannten – dann ist aus lebendig pulsierendem Rhythmus gleichförmig-stereotyper Takt geworden.“93 Um ja nichts falsch zu machen, zaudern, zögern und zweifeln diese Menschen, wie wir es in den letzten Jahren insbesondere in den Verwaltungen erleben müssen, die sich immer mehr vor Verantwortung drücken und die, statt Entscheidungen zu treffen, sich in monatelangem Prüfen und Paragraphenjonglieren verstecken. Na, und in der Politik kennen wir es ja auch schon viele Jahre.
Die zwanghafte Persönlichkeit zeigt das „Kulturgut des Untertanengeistes“.94 Prof. Dr.-Ing. Jürgen Althoff stellte fest: „Der deutsche Untertan lebt und sehnt sich nach staatlicher Bevormundung. Rationalität und Fakten stören nur und sind ‚irgendwie räächts‘, und wer will sich das schon nachsagen lassen …!“95 Als treuer Untergebener ist der Zwanghafte ein Liebling jeder Regierungsmacht. Er stabilisiert ja das bestehende System. So auch in Coronazeiten. Am liebsten noch mit einem unterwürfigen „Jawoll, Frau Bundeskanzlerin, jawoll, Herr Bundeskanzler!“.
Zwanghafte Menschen können sich „schwer damit abfinden, dass etwas oder jemand sich ihrer Macht entzieht, ihrem Willen nicht untersteht. Sie möchten alle und alles dazu zwingen, so zu sein, wie es ihrer Meinung nach sein sollte“.96 Und wehe, andere halten sich nicht an die Regeln, da kann er sich schnell zum Denunzianten entwickeln, der seine Nachbarn und Kollegen verpfeift. Ein Denunziant fühlt sich im moralischen Recht, wenn er einen anderen bei Behörden meldet oder in der Öffentlichkeit anprangert. Dadurch, dass er einen vermeintlichen Verstoß aufdeckt, meint er, selbst moralisch besser zu sein, da er ja die Regeln befolgt. Ja er sieht dieses Vorgehen sogar oft als seine Pflicht als gehorsamer Bürger an. So kann er sowohl seine eigenen Hass- und Machtgefühle ausleben und gleichzeitig gut dastehen. Häufig erhofft er sich dabei auch eigene Vorteile, z. B. bei der Regierung als loyal zu gelten und zu zeigen, dass er auf Linie mit den Machthabern ist. Dies senkt seine Angst, womöglich selbst ein Opfer von totalitären Maßnahmen zu werden. Darum war das Denunziantentum besonders im NS-Staat und der DDR so weit verbreitet. Jeanette Neuendorf schrieb korrekt: „Bewusst oder unbewusst wird sein Handeln jedoch im Kern von Angst bestimmt.“97
In der Coronazeit blüht das Denunziantentum förmlich auf. Nachbarn werden bei den Behörden gemeldet, weil sie mit Bekannten zusammen auf der Terrasse Kaffee trinken oder sie auf dem Parkplatz keine Maske tragen. In Bielefeld setzte jemand Ende Februar 2021 die Polizei in Bewegung, weil die Partei Die Basis ihren von den Ordnungsbehörden genehmigten Parteitag abhielt.98 Ein Bürger schrieb: „In meinem Heimatort wurde nun wegen eines Kindergeburtstages von Kindern im Kindergartenalter der Spielplatz bis auf Weiteres gesperrt. Anwohner hatten die Mütter mit ihren Kindern verpfiffen. Ich bin empört über die Anwohner, den Bürgermeister und das Ordnungsamt und nicht zuletzt auch über Personen aus meiner eigenen Familie, die es mit ‚Wer nicht hören will, muss fühlen!‘ kommentierten. Was passiert nur mit uns.“99 Die Liste des Denunziantentums würde für 2020 und 2021 wohl viele Bücher füllen; wir wollen es dabei belassen. Es heißt nicht umsonst „Der größte Schuft im Land, ist und bleibt der Denunziant!“ Nur, er selbst merkt das nicht. Zum Glück werden nicht alle Zwangshaften Persönlichkeiten dazu, aber hier liegt das Potenzial dazu.
4.2 Die Histrionische Persönlichkeit
„Mit der Furcht fängt die Sklaverei an,
aber auch mit Zutrauen und Sorglosigkeit.“
Johann Gottfried Seume, Schriftsteller und Dichter (1763–1810).
Als genaues Gegenteil des Spießbürgers möchte die Histrionische Persönlichkeit Wandlung und Veränderung und ist immer auf der Suche nach dem Neuen. Sie ist spontan und ihre Interessen wechseln wie die Jahreszeiten. Jeder neue Hype ist willkommen. Mit vollem Engagement kämpft sie gegen den Hunger in der Welt, will dann stattdessen das Klima retten, bis sich danach alles um Corona dreht. Denn sie hat Angst vor Ordnung und Stetigkeit, hat „Angst vor dem Endgültigen, Unausweichlichen, vor der Notwendigkeit“.100 Histrionische Persönlichkeiten streben ausgesprochen nach Veränderung und Freiheit und bejahen alles Neue, sind „risikofreudig; ihnen ist die Zukunft, die mit ihren Möglichkeiten offen vor ihnen liegt, die große Chance. Dementsprechend fürchten sie nun alle Einschränkungen, Traditionen und festlegende Gesetzmäßigkeiten, die gerade die Werte für den zwanghaften Menschen sind.“101 Die histrionische Persönlichkeit lebt eigentlich in einer Pseudorealität; sie „ist die innere Spiegelung ihres Ausweichens vor der Realität in ‚Rollen‘“.102
Eine Nachbarin von uns ist so eine Histrionische Persönlichkeit. Eine liebenswerte Person, immer fröhlich, freundlich, aktiv, spontan und flink, hilfsbereit und begeisterungsfroh. Was hat sie nicht alles schon gemacht. Früher war sie viel wandern, dann bergsteigen, danach Drachen fliegen und im Moment ist es Fallschirmspringen. Sie ist fortwährend auf irgendwelchen Kursen, mal zur ägyptischen Küche, mal zur gewaltfreien Kommunikation, dann über die sexuelle Erfahrung beim Gruppenspeeddating. Hauptsache, es gibt dabei keine Regeln, die sind ihr ein Graus. Sozial ist sie voll engagiert. 2015 unterstützte sie eine eingewanderte Familie aus dem Libanon, war dann bei Fridays for Future, dann bei Greenpeace auf einem Schiff gegen den Walfang und demonstrierte 2019 gegen den Feinstaub. Alles vielleicht ehrenhaft gemeint, doch nach drei Monaten spätestens verliert sie das Interesse und macht was Neues. Erst supergroßes Engagement, aber es wird ihr schnell langweilig, sie gibt ihr Thema auf und widmet sich dem nächsten. In ihren Liebesbeziehungen ist es nicht anders. Sie kennt Gott und die Welt, erfährt auf den Straßen eine nicht endende Folge von Begrüßungen und die Nachbarschaft hat irgendwann aufgehört, die Zahl ihrer Freunde und Liebhaber mitzuzählen. Mit keinem lief es länger als ein halbes Jahr. Trotzdem erscheint sie immer glücklich. Doch eigentlich hat sie nur Angst vor Stabilität und Stetigkeit. Das würde ihre Freiheit einschränken, würde sie als gefangen empfinden. Was sie nicht merkt, ist, dass hier eine Angst übertrieben wird. Sie weiß nicht einmal, dass sie von einer Angst beherrscht wird. Aber sie ist genauso wie die Zwangshafte Persönlichkeit von ihr gefangen, nur eben auf der anderen Seite des Spektrums zwischen der Angst vor Veränderung und der Angst vor Verharrung.
So extrem ist es bei den meisten Histrionischen Personen nicht, aber schaut man sich ihre Biographien an, so entdeckt man doch eine große Vielseitigkeit an Interessen, Tätigkeiten, Arbeitsbereichen und Erfahrungen.
Regeln werden von diesen Menschen umgangen, wo immer es geht. Sie müssen Sinn machen, sonst hält man sich nicht an sie. Feste Arbeitszeiten? Nein. Verkehrsschilder? Lassen sich weit interpretieren. Gesellschaftliche Konventionen? Ebenso. Natürlich werden auch die Coronaregeln locker gesehen. Eine Frau schrieb spaßig: „Ich prognostiziere mal, dass in diesem Jahr die Leute erheblich zunehmen werden und erheblich mehr rauchen werden, weil das ihre Ausreden sind, wenn sie mal ihre Masken runterfummeln wollen. Ich sehe in der Stadt, da wo Maskenpflicht herrscht, dauernd Leute essend und rauchend durch die Straßen rennen. Das ist wirklich auffällig, sehr lustig.“103
Die Histrionische Persönlichkeit findet immer wieder Auswege, um aus den Regeln ausbrechen zu können. Die folgende Geschichte beschreibt, wie man den Maskenzwang umgehen konnte: „Seitdem das bei uns mit dem Maskenzwang losging, habe ich keine Lust mehr, in Läden zu gehen. Mittlerweile kenne ich bei mir im Ort die Geschäfte, wo ich ohne Maske einkaufen kann, ohne von irgendwelchen Bediensteten angepöbelt zu werden. Aber am schlimmsten ist es in den Supermärkten. Nicht nur, dass die Beschäftigten da meist strikte Anweisung haben, jeden Maskenlosen anzugiften. Allein diese vielen gesichtslosen Wesen mit ihren Masken, denen die Dummheit damit ins Gesicht geschrieben ist, dieses Zeigen von Unterwürfigkeit und fehlenden Stolzes, schlagen mir tief aufs Gemüt. Einkäufe beschränke ich daher auf das absolut Unabkömmliche, das über das Internet nicht bis an die Haustür lieferbar ist. Früher habe ich gerne die kleinen Läden im Ort unterstützt, aber anmeckern lasse ich mich dafür nicht. Was mir jedoch fehlt, ist mal ab und an ein kleiner Bummel durch Läden, mal hier und da schauen und sich inspirieren lassen. Da ich nur eine Autostunde von der niederländischen Grenze entfernt wohne, kam ich auf die Idee, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. In den Niederlanden erfolgt die medizinische Beratung der Politik durch das Outbreak Management Team (RIVM). Dieses vertrat stets die Meinung, dass Masken nicht notwendig sind, wenn die Abstandsregel von 1,5 Metern eingehalten wird.104 Daher gab es dort keine Maskenpflicht. Zack auf die Autobahn, und schwupps war ich in Oldenzaal, dem ersten Städtchen hinter der Grenze. Wo ich hinkam, herrschte reges Treiben, die Menschen waren fröhlich und freundlich, redeten miteinander, begrüßten sich mit Handschlag und waren frei und zufrieden. So schlenderte ich über den Markt, kaufte dies und das, schaute mir die Basilika an, trank ein kopje koffie in einem Café und freute mich über den leckeren Kuchen. Meine geringen Kenntnisse des Niederländischen in Verbindung mit Plattdeutsch reichten völlig aus, zumal die meisten Niederländer auch sehr gut Deutsch sprechen. Endlich hatte ich in Läden mal wieder nette Gespräche. In Deutschland wird man in manchen Läden ja schief angesehen, wenn man zu viel Mühe macht. Hier aber galt der Kunde noch als König. Ich erzählte über meine guten Erfahrungen und meine beste Freundin fragte mich, ob wir da nicht mal zusammen hinfahren könnten. Klar, sehr gerne. So ging’s morgens am 30. September 2020 los und bald sahen wir uns den kleinen Ort De Lutte an. Dort gibt es mehrere schöne Restaurants und Cafés und einen Klompenwinkel, eine kleine Werkstatt, wo Holzschuhe gefertigt werden. Da alles so nett war, beschlossen wir, bis zum nächsten Tag zu bleiben. Nach einem ausgiebigen Frühstück fielen uns ein paar Leute auf, die Masken trugen. Waren das Deutsche, die hier ihren Unterwerfungszwang nicht ablegen konnten? Nee, sie sprachen Niederländisch. Merkwürdig, gestern gab es so etwas noch nicht. Wachgerüttelt wurden wir dann, als wir Mittag essen wollten. In einem Pannekoekenhuis sah es sehr leer aus und ein Gast lief uns entgegen, schnell davon wegeilend. Wir betraten eine Terrasse und eine ältliche Dame schnauzte uns an. ‚Sind Sie gesund?‘ ‚Bitte was?‘ ‚Ob Sie gesund sind, sonst kommen Sie hier nicht rein‘, blökte sie unfreundlichst weiter. Wir waren sichtlich geschockt. So etwas hatten wir in den Niederlanden noch nie erlebt. Die Alte wirkte wie eine Gefängnis-Aufseherin, aber nicht wie die sonst freundlichen Niederländer. Nach weiteren frechen Anordnungen der Frau drehten wir uns um und erklärten ihr, wir würden nun da essen, wo man freundlicher zu uns sei. Sie meinte, was andere Gaststätten machen, interessiere sie nicht, bei ihr herrsche ab heute Ordnung. Das ‚ab heute‘ ließ einen schlimmen Verdacht aufkommen und so kauften wir den Telegraf, eine der größten niederländischen Tageszeitungen. Dort wurde die böse Vorahnung wahr. Nach Druck von der zweiten Kammer hatte das Kabinett in den Niederlanden mit Wirkung vom 01.10.2020 den dringenden Rat (dringende advies) ausgegeben, von nun an im ganzen Land in öffentlichen Innenräumen Masken zu tragen. Allerdings wolle Premier Mark Rutte von einer Pflicht nichts wissen.105 Jetzt gingen also auch die Niederlande diesen Weg des Irrsinns mit. Wir wurden traurig. Aber im Restaurant vom Vortag war man wieder nett und wir aßen zu Mittag. Mitte Oktober wurden die Coronaregeln in den Niederlanden deutlich verschärft, indem nun doch eine Maskenpflicht sowie eine vierwöchige Schließung aller Kneipen, Cafés und Restaurants vorgesehen wurde.106 So zerstört man ein Paradies. Aber wir werden uns etwas Neues einfallen lassen.“ Ab Juli 2021 kehrte in den Niederlanden dann wieder die Normalität ein und maskenfreies Einkaufen war wieder möglich; und kein Niederländer lief mehr mit diesen Dingern rum.
So haben die Histrionischen Menschen Kreativität für jede Lebenslage. Mögen sie von den Zwanghaften Menschen schief angesehen werden und als skurril betrachtet werden, in Notzeiten sind es oft die Histrionischen Menschen, die auf neue Ideen kommen, die Lösungen für Probleme finden, die andere nie entdecken würden, die so quer denken, dass ihnen große Entdeckungen und Erfindungen gelingen.
Für Regierungen ist die Histrionische Persönlichkeit ungefährlich, solange man ihr immer wieder ein neues Thema präsentiert. Viele Pressevertreter lieben sie heutzutage, da sie Schlagzeilen liefert. Aber diese Ungefährlichkeit und Innovationsfreude kann sehr plötzlich ins Gegenteil umschlagen. Springt die Persönlichkeit auf den Widerstand gegen die Regierungen zur richtigen Zeit auf, können sie spontan dafür sorgen, dass die kritische Protestmasse entsteht, die die Regierungen durch Aktionen wegfegen kann, an die die vorherigen Demonstranten überhaupt nie gedacht haben. Diese Menschen stehen für das Neue. Ihre Ideen braucht es nach dem großen Weltsystemwechsel, wenn es darum geht, eine neue Gesellschaft und ein neues Politik- und Wirtschaftssystem aufzubauen.
4.3 Die Depressive Persönlichkeit
„Setze dich deiner tiefsten Angst aus.
Danach hat die Angst keine Macht mehr über dich
und die Angst vor Freiheit schrumpft und verschwindet. Du bist frei.“
Jim Morrison, amerikanischer Rockmusiker (1943–1971).
„A Meinung ham, dahinter steh’n.“
Liedtitel von Andreas Gabalier (*1984)
und Xavier Naidoo (*1971), Musiker.
Der Mensch mit Depressiver Persönlichkeit bildet wohl neben der Zwanghaften Persönlichkeit die größte Gruppe in den deutschsprachigen Ländern. Alles in ihm, „was an Wünschen, Impulsen, Affekten und Trieben in ihm ist“, wagt nicht zu leben.107 Menschen mit dieser Persönlichkeit haben ein geringes Selbstwertgefühl und meist eine sehr unzureichend ausgeprägte Ich-Stärke. Von Ich-Schwäche muss man bei ihnen wohl eher reden. Sie haben es noch nicht geschafft, ihre innere Persönlichkeit zu entwickeln, selbst wenn sie dies manchmal nach außen mit einer vorgespielten Maske von Scheinheiligkeit und großem Gebaren zu verdecken versuchen. Der typische Gutmensch gehört in diese Gruppe, also der Mensch, der versucht, nach außen moralisch und sozial dazustehen, dabei aber die Mitmenschen, die nicht auf seiner Linie sind, ausgrenzt und anprangert. Eine wirklich stabile, in sich ruhende Persönlichkeit ist die depressive Form also nicht. Sie hat vielmehr starke Angst, diesen Entwicklungsschritt zu wagen.
Um trotzdem mit dem Leben zurechtkommen zu können, sind diese Menschen sehr beziehungsorientiert und typische Gruppenmenschen. Denn in der Gruppe finden sie den Halt, den sie sich selbst nicht geben können. Dieses Eintauchen in die Masse kann die Angst vor der Individuation aufheben. „Der depressive Mensch ist dieser Angst besonders ausgesetzt. Bei ihm kann schon ein Sich-von-anderen-Unterscheiden, ein anderes Denken oder Fühlen die Verlustangst konstellieren, weil er es als Entfernung und Entfremdung erlebt. Deshalb versucht er, alles ihn von anderen Unterscheidende aufzugeben.“108 So tut er, was die anderen auch tun, und fühlt sich in der Gruppe, in der Masse der sich gleich Verhaltenden, aufgefangen und beschützt. Der Einzelne gibt seine Individualität auf und wird zum „Trabant eines anderen“109, nämlich der Gruppenlinie.
Die Depressive Persönlichkeit braucht somit die Gruppe, in der alle gleich ticken und in der sie sich sicher aufgehoben fühlt. Und „wenn nun ein Mensch einen anderen so dringend braucht, wird er danach streben, die trennende Distanz zwischen sich und ihm so weit wie möglich aufzuheben. Ihn quält die trennende Kluft zwischen Ich und Du.“110 So macht man das, was die Gruppe macht, hat man die Meinung, die die Gruppe hat, und übernimmt die in der Gruppe herrschenden Regeln und Werte. In der Coronazeit braucht man sich noch mehr und so tauscht man sich via Handy intensiv darüber aus, wie die beste Coronamaske zu nähen ist, und imitiert gerne vielgelikte Stoffkunstwerke. Natürlich hilft man allen anderen in der Gruppe, tauscht Kochrezepte, hilft beim Kirchenbasar und erweckt den Anschein, immer lieb und nett zu sein. Denn „für die erstrebte Harmonie und ungetrübte Nähe muss der Depressive nun seinerseits ‚gut‘ sein und befleißigt sich daher aller altruistischen Tugenden: Bescheidenheit, Verzichtsbereitschaft, Friedfertigkeit“, bis hin zu überwertiger Bescheidenheit, „Überanpassung und Unterordnung bis zur Selbstaufgabe, im Extrem bis zu masochistisch-hörigen Verhaltensweisen. All das lässt sich auf den gemeinsamen Nenner bringen: Durch das Aufgeben eigener Wünsche, durch den Verzicht auf das Eigen-Sein die Verlustangst, die Angst vor der Einsamkeit, zu bannen und sich der deshalb gefürchteten Individuation zu entziehen“.111 „Widerspruch gegen die Herde ist so viel wie Trennung von ihr und wird darum angstvoll vermieden.“112
All das, bloß um dazuzugehören, nicht auf sich allein zurückgeworfen zu werden. Denn „bei den depressiven Persönlichkeiten ist die Verlustangst die dominierende, in ihren verschiedenen Ausformungen als Angst vor isolierender Distanz, vor Trennung, Ungeborgenheit und Einsamkeit, vor dem Verlassenwerden.“113 „Je weniger wir gelernt haben, unser Eigen-Sein, unsere Selbstständigkeit zu entwickeln, umso mehr brauchen wir andere. So stellt sich die Verlustangst heraus als die Kehrseite der Ich-Schwäche.“114
Wunderbar ist für ein totalitäres Regime, dass die Depressive Persönlichkeit sehr friedlich ist und niemals wagt, zu protestieren. Denn „wie kann er aggressiv sein, sich behaupten und sich durchsetzen, wenn er voller Verlustangst ist, sich als abhängig erlebt und so auf Liebe angewiesen ist?“115 Nun, der depressive Typ kann gar „nicht gesund aggressiv sein“.116 „Das geringe Selbstwertgefühl Depressiver hat eine wichtige Wurzel in ihrer nicht gewagten, nicht gekonnten Aggressivität.“117 Denn Aggressivität könnte schließlich seine sichere Position in der Gruppe gefährden. „Was kann man aber mit seinen Aggressionen machen, wenn sie einem so gefährlich erscheinen? Eine Möglichkeit ist es, auszuweichen. Das lässt sich vielleicht dadurch erreichen, dass man eine Ideologie der Friedfertigkeit entwickelt. Dann nimmt man Gelegenheiten zur Aggression und diese selbst nicht mehr wahr, in und außer sich … Je mehr man im Rahmen einer solchen Ideologie sich zurücknimmt, sich kränken lässt, ohne sich zu wehren, sich eigene Affekte nicht erlaubt, umso mehr muss man zum Ausgleich dieser Haltungen kompensieren durch das Gefühl moralischer Überlegenheit – ohne dass man indessen erkennt, dass das auch eine – sublime – Form der Aggression ist. Diese Haltung lässt sich steigern bis zur Dulderrolle, die bis zum seelischen, moralischen und sexuellen Masochismus führen kann.“118
In einer Situation wird die Depressive Persönlichkeit jedoch gleichwohl aggressiv, und das kann sich eine Regierung ebenfalls zunutze machen. Aggressivität erscheint, wenn ein Gruppenmitglied aus der Reihe schert, sich nicht mehr der Gruppenmeinung fügt, ja sogar wagt, Kritik zu äußern und einen eigenen Weg zu gehen. Dann wird das ganze Repertoire der Empörung, der Denunziation, des Schlechtredens und der Infamie aufgemacht. Entweder der Einzelne fügt sich dann in ganzer Reue oder, wenn er den Schritt zu einer wachsenden Ich-Stärke gemacht hat, verlässt er stolz und selbstbewusst diese Gruppe, aus der er sich psychisch und seelisch herausentwickelt hat. Stolz können die Menschen sein, die dies schaffen, egal ob sie den Ausstieg bei Scientology, ihrer Kirchengruppe oder der schon lange entfremdeten Alten-Freunde-Gruppe geschafft haben. Und neue Menschen lernen sie allemal kennen, nämlich die, die es ebenso geschafft haben oder auf der Reise sind, auf eine andere Bewusstseinsstufe zu gelangen.
Da die depressive Persönlichkeit große Angst vor Selbstwerdung und Isolation hat, lässt sie sich bequem lenken, so wie es der Schäferhund mit seiner Herde macht. Sie ist das, wovon jede Regierung nur träumen kann, solange man nur Angst erzeugt, aber zugleich eine gemeinsame Rettung verkündet, so wie Corona und die Impfung. Man muss diese Menschen gar nicht viel lenken, sie fügen sich von selber. Das ist es, wenn Bauer schreibt: „Möglichkeiten zur Selbstbestimmung werden uns nicht nur genommen, wir nehmen sie uns auch selbst. Weit mehr als erforderlich, unterwerfen wir uns dem Druck des Konformismus und der Anpassung an die vermuteten Erwartungen anderer.“119 So stehen dann alle Schafe Schlange vor den Coronaimpfzentren.
Die depressive Form ereilt nicht nur einzelne Menschen, sondern kann ganze Gesellschaften erfassen. Nach Rassenunruhen kam es vor, dass wildfremde Menschen, die nie einem anderen etwas Böses getan hatten, sich vor dunkelhäutige Menschen zu Boden warfen und ihre Füße küssten. In Deutschland entschuldigen sich Personen für die Nazigräuel, die geschahen, als sie noch gar nicht geboren waren. In den USA schämen sich Weiße ihrer Hautfarbe und reißen Kolumbusdenkmäler ein und in England schämen sich Menschen ihres einstigen Empires, das schon Jahrzehnte nicht mehr besteht.
Dies alles geschieht aus einer Ich-Schwäche, gekoppelt mit Schuldgefühlen, Selbsthass und der Angst, nicht dazuzugehören, und drückt sich in Scham aus. „Scham ist der emotionale Begriff für den Verstoß gegen die bejahten Erwartungen der Mitmenschen“.120 Und davor hat die Depressive Persönlichkeit die größte Furcht.
In der Coronazeit sind diese Menschen daher artige Individuen, die tun, was man ihnen sagt. Und wie der Zwangshafte Mensch neigen sie zur Denunziation, wenn jemand aus der Gruppe ausschert. Was wollen Regierungen mehr als viele von solchen noch nicht aufgewachten Untertanen.
Selbst wenn man den Coronamaßnahmen kritisch gegenübersteht und der Depressive Persönlichkeitsanteil gering ist, fühlt es sich komisch an, wenn man anders ist als die anderen Menschen. Eine Frau schrieb dementsprechend: „Mir passiert es auch öfter, dass ich in einen Laden gehe und erst dann merke, dass ich die Maske im Auto vergessen habe, bspw. wenn ich nur schnell eine kleine Besorgung machen möchte. Mir fällt es dann auf, weil mich alle im Laden anschauen wie eine Aussätzige. Komisches Gefühl.“121 Das lässt sich auf Dauer nur aushalten, wenn die Persönlichkeit weit entwickelt ist.
4.4 Die Schizoide Persönlichkeit
„Alles mag man fürchten, nur nicht, was man bekämpft.“
Bettina von Arnim, Schriftstellerin (1785–1859).
„Die Zukunft gehört denen,
die an die Wahrhaftigkeit ihrer Träume glauben.“
Eleanor Roosevelt, amerikanische Politikerin (1884–1962).
Wilhelm Reich, Verfasser des Werkes „Massenpsychologie des Faschismus“, schrieb 1933: „Die menschliche Struktur ist vom Widerspruch zwischen Freiheitssehnsucht und Freiheitsangst beseelt.“122 So ist die Schizoide Persönlichkeit konträr zur Depressiven Persönlichkeit und möchte eigenständig und autark leben, ohne von einer Gruppe gesteuert zu werden. Sie ist ein ausgesprochener Individualist und ist sich selbst genug. Freiheit und Unabhängigkeit sind das höchste Gut. Vor dem Aufgehen in der Masse besteht eine große Angst, es käme für sie dem psychologischen Tod gleich. Sie sind sich ihres Individuums bewusst und vertrauen auf sich selber. Ihrer Ich-Stärke sind sie sich teilweise bewusst. Sich von anderen Menschen oder einer Gruppe etwas vorschreiben zu lassen, kommt für sie überhaupt nicht infrage, sie bestimmen selber. Lange Diskussionen oder die Einschaltung von Betriebsräten, Interessenvertretern oder Elterninitiativen mit viel Gelaber sind für sie reine Zeitverschwendung, wie Gruppenarbeiten in der Schule. Wenn eine Aufgabe ansteht, wird sie auch ohne dies alles allein gelöst. Bedeutet dem Depressiven Nähe Sicherheit und Geborgenheit, so dem Schizoiden Bedrohung und Einschränkung seiner Autarkie; bedeutet dem Depressiven Distanz Bedrohung und Alleingelassenwerden so dem Schizoiden Sicherheit und Unabhängigkeit.123
Aus Film und Fernsehen kennen wir diesen Menschentyp als heroischen Freiheitskämpfer wie in „Braveheart“ (1995) und „Der Patriot“ (2000), beide mit Mel Gibson, „300“ von Zack Snyder (2006), „El Cid“ mit Charlton Heston (1961), „Andreas Hofer“ mit Tobias Moretti (2002) oder als Kämpfer für Wahrheit und Wissenschaft wie in „Agora – Die Säulen des Himmels“ mit Rachel Weisz (2009).
Die Schizoide Persönlichkeit ist der Mensch, dem, wie Fechtner schreibt, nur die Wahl bleibt „zwischen waldgängerischer Kontemplation oder Radikalisierung zum Systemfeind“.124 In gesellschaftlichen Krisenzeiten reagieren die Menschen dieser Persönlichkeit zuerst in zwei unterschiedlichen Weisen. Die einen flüchten erst einmal vor der Realität und verdrängen die Probleme. Sie kümmern sich um ihren eigenen Kram, gehen lieber wandern und posten Fotos von Blümchen und süßen Kätzchen; so lange, bis sie die Realität einholt. Dann entwickeln sie sich auch sehr leicht zum zweiten Typ und bei ihnen wächst die Wut. Sie werden in Krisen als Erste gegen die Verursacher vorgehen, protestieren und demonstrieren.
Die Schizoide Persönlichkeit findet sich in der Coronazeit vorwiegend in den Widerstandsgruppen. Sie trauen den öffentlich-rechtlichen Medien nicht mehr, sondern beschaffen sich selber die grundlegenden Informationen und bilden sich selbst ihre Meinung. Die Zahl der Internetgruppen, in denen sie sich vernetzen, wächst und wächst und ihre differenzierten Intelligenzen verbinden sie mehr und mehr zu einem kohärenten Netz der Zukunft. Vor ihnen haben totalitäre Systeme daher Angst. Aber letztendlich können sie sie nicht aufhalten. Ein König ließ einmal, so eine Geschichte, alle potenziellen Nachfolger umbringen, damit er möglichst lange auf dem Thron bleiben könne. Er fragte, seinen Hofnarren, wen er noch umbringen müsse, um sicher zu sein. Dieser antwortete: „Du kannst alle umbringen, nur deinen Nachfolger nicht!“
Als Menschen der Tat sind die Schizoiden Personen für bestehende Systeme tatsächlich die größte Gefahr. Die Maxime der freien Friesen „Lever dood as Slav!“, ist auch die ihre. Daher versuchen Regierungen, ihrer durch Demonstrationsverbote, Meinungsunterdrückung und Verunglimpfung Herr zu werden. Das gelingt eine Zeit, steigert aber die Wut immer mehr, bis es schließlich zu hoffentlich friedlichen Revolutionen kommen kann.
Angstfreiheit besteht übrigens genau auf der Mitte der vier Grundängste (siehe Bild Seite 65). Riemann schreibt, es wäre „als ein Zeichen von seelischer Gesundheit anzusehen, wenn jemand die vier Grundimpulse in lebendiger Ausgewogenheit zu leben vermöchte – was zugleich bedeutete, dass er sich auch mit den vier Grundformen der Angst auseinandergesetzt hat“.125 Dies sind dann stabile Menschen mit Verstand und Charakterstärke, auf die ein demokratisches Staatswesen angewiesen ist. Autoritäre Staaten schüren Ängste, damit die Menschen ihre stabile Mitte nicht finden, um die Menschen lenken zu können. Demokratien erhalten sich dagegen genau durch diese selbstbewussten, von Liebe, Moral, Mitgefühl und Vernunft gesteuerten mutigen Menschen. Wir werden auf diese Krieger des Lichts in Kapitel 9 besonders zu sprechen kommen.
Welche Persönlichkeiten offenbaren sich nun in einem selbst allgemein und jetzt besonders deutlich in der Coronazeit? Wahrscheinlich von allen vier etwas. Oder ist eine Angst dominant? Dann keine Angst bitte. Jeder Mensch hat es in der Hand, sich zu entwickeln (Kapitel 10). Durch selbstständiges Nachdenken und den Entschluss, sich seinen Ängsten zu stellen, werden die wahren Helden geboren.
69 EYSENCK 1975, 2005; EYSENCK & EYSENCK 1987.
70 ALLPORT & ODBERT 1936; JUNG 1921; HASSELMANN & SCHMOLKE sehen sieben archetypische Urängste.
71 RIEMANN 1961.
72 RIEMANN 2019: 11.
73 SCHILLER 1800.
74 RIEMANN 2019: 126.
75 RIEMANN 2019: 126.
76 RIEMANN 2019: 122.
77 RIEMANN 2019: 123.
78 RIEMANN 2019: 127.
79 RIEMANN 2019: 125.
80 RIEMANN 2019: 123-124.
81 RIEMANN 2019: 125.
82 Mitteilung von Juliane S.
83 RIEMANN 2019: 142.
84 RIEMANN 2019: 143.
85 RIEMANN 2019: 142–143.
86 RIEMANN 2019: 144.
87 RIEMANN 2019: 145.
88 RIEMANN 2019: 175.
89 RIEMANN 2019: 144.
90 RIEMANN 2019: 143.
91 Mail von Heidi Salomon vom 05.09.2020.
92 RIEMANN 2019: 144.
93 RIEMANN 2019: 131.
94 MIES 2020a: 18.
95 ALTHOFF 2020a.
96 RIEMANN 2019: 126.
97 NEUENDORF 2017.
98 A. A. 2021h.
99 Mitgeteilt von Josef Rieger.
100 RIEMANN 2019: 179.
101 RIEMANN 2019: 179–180.
102 RIEMANN 2019: 221.
103 Mitteilung von Juliane S.
104 NEDERHOF 2020.
105 PARLAMENTAIRE REDACTIE 2020.
106 ÜNAL 2020
107 RIEMANN 2019: 73.
108 RIEMANN 2019: 71.
109 RIEMANN 2019: 70.
110 RIEMANN 2019: 69.
111 RIEMANN 2019: 72.
112 FREUD 2020: 63.
113 RIEMANN 2019: 70.
114 RIEMANN 2019: 71.
115 RIEMANN 2019: 81.
116 RIEMANN 2019: 73.
117 RIEMANN 2019: 85.
118 RIEMANN 2019: 82.
119 BAUER 2015: 11.
120 HELL 2018: 145.
121 Mail von Madlin Handt vom 01.09.2020.
122 REICH 2020: 286.
123 RIEMANN 2019: 70.
124 FECHTNER 2020.
125 RIEMANN 2019: 19.