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3. Angst ohne den Leoparden

„Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen,

der wird am Ende beides verlieren.“

Benjamin Franklin,

amerikanischer Wissenschaftler und Staatsmann (1706–1790).

„Die Freiheit ist das einzige Gut, das sich nur abnutzt,

wenn man es nicht benutzt.“

Voltaire, französischer Philosoph (1694–1788).

Wird ein Kind geboren, hat es erst einmal vor vielen Dingen keine Angst. Trifft ein einjähriges kleines Mädchen etwa auf eine Maus, so findet es diese interessant und spielt mit ihr. Warum auch nicht. Ein kleines Mäuschen ist harmlos und süß und weich und kuschelig. So vergnügt man sich miteinander. Nach einer ganzen Weile kommt die Mama hinzu, sieht die Maus und schreit laut auf. „Iiihhh, eine Maus!“ Sie schnappt das Kind entsetzt und erregt und nimmt es rettend auf den Arm. Das Kind wundert sich, spürt aber die Emotionen der Mutter. Es war alles so schön, aber Mama ist so ängstlich. „Ist dir auch nichts geschehen, mein Kind?“ „Nee“, denkt das Kind und spürt, dass es wohl etwas nicht richtig gemacht hat. Mama hat schließlich immer recht. Wenn sie mich so beschützt, war etwas nicht in Ordnung. Und Mama hatte Angst. So werden fortan „Maus“ und „Angst“ miteinander im Kind verknüpft. Vielleicht erklärt die Mutter noch, dass Mäuse beißen können, oder stellt eine Falle auf oder eine ähnliche Situation wiederholt sich. Am Ende speichert das Kind ab: Maus = Gefahr. Und diese Konditionierung kann lebenslang erhalten bleiben. Eine Bekannte hat selbst mit 82 Jahren noch Angst vor Mäusen und diese Angst hatte sie selbstverständlich so oder ähnlich an ihre Tochter weitergegeben, die einmal panikartig aufschrie, als im Garten ein kleines Mäuschen über ihren Fuß gelaufen war. Für mich eine lustige Situation, für sie ein großer Schrecken. Gelernte Angst.

So wie vor Mäusen können wir lernen, vor allem Möglichen Angst zu bekommen, vor Spinnen, Ratten, Schlangen, Zahnärzten, Weihnachtsbäumen oder auch vor Müllcontainern oder Coronaviren. Ängste, die sich auf spezielle Objekte beziehen, nennen wir Phobien. Alle Dinge sind möglich, angstbesetzt zu werden. Aber nicht nur Dinge, auch für alle denkbaren Situationen kann Angst gelernt werden, sowohl von anderen Menschen als auch durch eigenes Erleben.

Wird ein kleiner Junge von einem Pferd getreten, kann er lebenslang eine Abneigung gegen diese Tiere haben, vielleicht als Erwachsener sogar, ohne noch zu wissen, dass er einmal getreten wurde. Ein Pferdebild im Augenwinkel kann zum Trigger werden und aus ihm unerklärlichen Gründen taucht Angst auf. Ein heftiges Anschreien eines Kindes von einer blonden Frau kann dazu führen, dass der Erwachsene später nur auf brünette oder schwarzhaarige Frauen steht. Wird die Mutter bei Gewitter ängstlich, weil sie das an den Bombenhagel im Weltkrieg erinnerte, übernehmen Kinder das möglichweise und meiden Gewitter selber und geben das vielleicht sogar an ihre Kinder weiter, sodass ein Angstverhalten über Generationen fortgesetzt werden kann. Sagt der kriegsbeeinflusste Vater ständig, dass es nur zu Hause sicher ist und in der Welt draußen ungeahnte Gefahren lauern, bekommen wir vielleicht eine Agoraphobie, also eine Angst, uns allein zu weit vom eigenen Heim zu entfernen. Wir können dann z. B. nicht allein in den Urlaub fahren.

Die Zahl der Ängste, die wir erlernen können, ist somit unbegrenzt. Und jeder Mensch hat andere Ängste in unterschiedlicher Stärke. Was dem einen Angst macht, macht dem anderen keine. So genießt die eine Frau die weiten Blicke vom Aussichtsturm, während ihrer Wanderbegleiterin so ein Turm die Angst hochschnellen lässt. Darauf klettern? Niemals. So wartet sie derweil lieber unten.

Wirklich ganz frei von Ängsten sind wohl nur die allerwenigsten. Wir allein erfahren unterschiedlichste Prägungen in der Kindheit, erlernen Muster, wie wir handeln sollten, übernehmen Bewertungen von Situationen von anderen, machen Erfahrungen und verinnerlichen Ängste der Eltern.

Diese jeweiligen Ängste hindern uns, uns frei ausleben zu können. Sie schränken uns ein, indem wir manche Dinge nicht tun, weil da diese Angst ist. Wir vermeiden solche Situationen. Der schwedische Drehbuchautor Ingmar Bergmann sagte einmal: „Es gibt keine Grenzen, weder für Gedanken, noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt.“

Was ist nun aber überhaupt Angst? Bisher haben wir noch keine Definition versucht. Und solche Definitionen sind in der Literatur auch sehr unterschiedlich. Es ist einfach ein Gefühl, sagen die einen, und die anderen definieren sie über die körperlichen Reaktionen heraus. Das ist beides nicht gerade die Spitze der Erkenntnis. Wir selbst wissen sofort, wenn wir Angst haben. Aber eine Definition fällt da schon schwer. Ist es einfach nur das Gefühl für Gefahrensituationen? Immerhin definiert der berühmte „Ofenstein“, das Lehrbuch der angehenden Psychotherapeuten: Angst ist ein zum Überleben wichtiger natürlicher Affekt der Wirbeltiere, der eintritt, wenn die körperliche, seelische oder moralische Unversehrtheit gefährdet ist.46 Aber die kleine Maus oder der Aussichtsturm sind ja keine wirklichen Gefahren für uns.

Wir gehen davon aus, dass Angst immer dann entsteht, wenn die betroffene Person subjektiv mit einem möglichen Verlust konfrontiert wird.47 Als vorläufige Definition können wir das erst mal für einen Augenblick so stehen lassen. Doch wessen können wir nun aber alles verlustig gehen?

Wir hatten schon gesehen, dass der eine vor Dingen Angst hat und die andere vor den gleichen Dingen nicht. Sogar auf den Leoparden reagierten die Steinzeitmenschen ja, wie wir gesehen haben, unterschiedlich. Angst ist also immer sehr persönlich, subjektiv. Es liegt an unserem eigenen Denken, ob wir in der kleinen Maus ein Kuscheltier oder eine fürchterliche Gefahr sehen. Somit entstehen Ängste durch unser Denken. Denken wir, dass wir alles beherrschen, kommt keine Angst auf. So geht der Dompteur frei und selbstbewusst in den Tigerkäfig und die Tiger führen ihre Zirkusdressur vor. Ginge dort jemand hinein, der sich den Tieren nicht gewachsen fühlt, bricht Angst aus. Und die würden die Tiger auch bemerken und losfauchen, wenn nicht Schlimmeres tun. Unser Denken ist das Entscheidende, ob wir Angst bekommen, zumindest, ob wir nach einem Schrecken in Angst bleiben oder wir uns wieder fangen und souverän reagieren.

In uns läuft jedes Mal eine Kette von Geschehnissen ab:

1. Wir geraten in eine bestimmte Situation.

Diese Situation muss nicht im Außen liegen. Es reicht, wenn wir uns etwas vorstellen, z. B. den Zahnarztbesuch nächste Woche. Dieser Gedanke reicht völlig aus, um Angst aufkommen zu lassen, denn unser Gehirn kann nicht unterscheiden, ob etwas gerade stattfindet oder wir nur gerade an eine Situation denken. Anders als die Tiere, können wir so vor Ereignissen der Vergangenheit oder der Zukunft Angst bekommen, Tiere leben dagegen immer im Hier und Jetzt.48 Die gedachten Situationen können wir immer schlimmer denken und so die Angst förmlich emporpushen. „Angst malt den Teufel an die Wand“, heißt es daher.

2. Wir bewerten die Situation danach, ob wir sie bewältigen können oder nicht. Und dies machen wir nicht unbedingt mit logischem Denken, sondern oft sehr subjektiv, emotional und intuitiv.

3. Das entsprechende Gefühl kommt auf. Angst (oder vielleicht Wut, Langeweile, Uninteressiertheit, Freude oder andere Empfindungen).

4. Wir reagieren auf Angst mit den drei Möglichkeiten der Flucht, des Angriffs oder der Erstarrung. Wenn wir es schon gelernt haben, können wir aber auch souverän bleiben und dann mit dem Großhirn entscheiden, wie es weitergeht.

5. Eine oder mehrere der drei Angstreaktionen können zu einem dauerhaften Verhalten werden.

Nun ist die Gefahr, heute einem Leoparden Aug in Aug gegenüberzustehen, recht unwahrscheinlich. Auch andere Raubtiere gibt es zumindest in Europa kaum noch. Und wenn, sind sie, vernunftmäßig gedacht, nicht gefährlich. Aber was ist schon vernünftig. Erscheint doch einmal ein Tier, dann springen die Ängste sofort wieder schreckhaft an. Als 2006 der Bär Bruno von Südtirol nach Bayern wanderte, kam es dort zu einer Panik und man ließ Bärenfänger aus Finnland kommen, weil Bruno ein paar Schafe und Hühner gegessen hatte. Bruno hatten keinem Menschen etwas getan, wieso auch, das hatte er ja bisher in Südtirol und Tirol auch nicht. Ministerpräsident Stoiber malte jedoch den Teufel an die Wand: „Stellen Sie sich mal vor, die Leute wären raus und wären jetzt dem Bären praktisch begegnet!“, sagte er, als Bruno ein Huhn auf einem Bauernhof verspeist hatte.49 Umweltminister Schnappauf machte Bruno ebenfalls zur Gefahr und so wurde das arme Tier schließlich an der Kümpflalm erschossen und steht heute ausgestopft in Schloss Nymphenburg. Er war ein Opfer der menschlichen Angst geworden.

Ein ähnliches Theater gibt es immer wieder bei der Einwanderung von Wölfen in die einzelnen deutschen Bundesländer. Seit Jahren sind sie in Sachsen heimisch, fügen sich in die ökologischen Kreisläufe ein und es gibt keine Probleme. Aber in jedem Bundesland, in das sie sich ausbreiten, springt die Angst an. 2008 zog ein einsames Tier durch das Münsterland und eine Bekannte traute sich nicht mehr aus dem Haus. Selbst ansonsten sich mutig gebende gestandene Männer forderten den Abschuss, der zum Glück nicht erfolgte, weil der Wolf zurück nach Niedersachsen marschierte. Heutzutage gibt es in den Kreisen Wolfsbeauftragte und es bedarf großer Informationsbemühungen, um die Harmlosigkeit dieser Tiere deutlich zu machen. Doch die Angst bleibt in vielen Menschen. Schließlich hat man als Kind diese Angst doch im Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf gelernt.50

Auch andere Naturgefahren bestehen heute kaum noch. Hohe Felsen sind meist durch Schilder, Schutzzäune und Sicherungsmaßnahmen ungefährlich geworden und bei Dunkelheit können wir einfach auf den Lichtschalter drücken. Da bräuchte es ja eigentlich die Angst gar nicht mehr, wäre sie lediglich eine Emotion für akute Lebensgefahr. Es muss also mehr dahinterstecken.

Der Psychologe Abraham Harold Maslow stellte 1943, gestützt auf die Erkenntnis, dass Bedürfnisse insgesamt die Grundlage der menschlichen Motivation darstellen, seine Theory of human motivation auf.51 Berühmt geworden ist er dabei besonders mit seiner Bedürfnispyramide, einem Stufenmodell der menschlichen Motivation. Er geht davon aus, dass es fünf Stufen unterschiedlicher menschlicher Bedürfnisse gibt. Auf der untersten Stufe die physiologischen Grundbedürfnisse (Nahrung, Wasser, Wärme etc.), auf der zweiten die Sicherheitsbedürfnisse (Schutz, Stabilität etc.), auf der dritten dann die sozialen Bedürfnisse, wie Zugehörigkeit, Liebe, soziale Anerkennung etc. Stufe vier umfasst die Individualbedürfnisse (Freiheit, Unabhängigkeit, Erfolg, Selbstbewusstsein, Respekt, Prestige, ästhetische und Wissensbedürfnisse etc.) und schließlich findet sich auf der obersten Stufe die Selbstverwirklichung.

Maslow ging davon aus, dass eine Stufe nur erreicht werden kann, wenn sämtliche Bedürfnisse der jeweils darunter liegenden Stufe befriedigt sind. Dies ist bis zu einem gewissen Grad einleuchtend. Stellen wir uns einen armen Slumbewohner in Kalkutta vor, der jeden Tag darum kämpfen muss, überhaupt etwas zu essen zu haben. Er wird allein damit beschäftigt sein, seine Grundbedürfnisse irgendwie zu decken, um zu überleben. Der Gedanke, sich selbstverwirklichen zu wollen, ist so weit von ihm entfernt, dass er ihn wohl überhaupt nicht kennt. Traurig, dass Menschen auf unserem reichen Planeten noch heute auf dieser Stufe feststecken müssen.


Bedürfnispyramide nach Maslow

Natürlich kann man Maslows Stufen der Bedürfnispyramide kritisieren. Sind es tatsächlich nur fünf oder mehr Stufen? Welches Bedürfnis gehört wo hin? Wir brauchen uns damit nicht im Einzelnen zu beschäftigen.52 Es reicht die Kernaussage, dass unsere Bedürfnisse hierarchisch aufeinander aufbauen und wir bemüht sind, diese Stufen so weit wie möglich nach oben zu erklimmen. Da mag es auch Unterschiede zwischen einzelnen Menschen geben. Der einen ist der Schutz besonders wichtig, dem anderen die Freiheit. Wir kommen darauf zurück, wenn wir uns mit den Grundformen der sozialen Ängste beschäftigen. Grundsätzlich wollen wir alle nach oben. „Ein Mann will nach oben“ war eine erfolgreiche Fernsehserie mit Mathieu Carrière und Ursela Monn aus dem Jahr 1978, die dies anschaulich werden lässt.53

Solange wir der Auffassung sind, dass es bergauf geht, geht es uns gut. Wir sind zuversichtlich, wir sind aktiv, motiviert, wir setzen uns ein, arbeiten, schaffen und werken aus freien Stücken. Intrinsische Motivation, also Motivation von innen heraus, nennt das die Fachwelt. Dabei geht es gar nicht darum, auf welcher Stufe wir als Ausgangspunkt stehen, solange es bergan geht. Deutschland und Österreich in den 50er und 60er-Jahren war so eine Gesellschaft des Aufstiegs. Nach den Schrecken des Krieges und dem völligen ökonomischen und materiellen Zusammenbruch durch Krieg, Tod, Bombardierung und Vertreibung, wollten die Menschen wieder nach oben. Überlebende räumten den Schutt weg, Arbeiter bauten ihre Fabriken wieder auf, Politiker schufen zwei neue deutsche Staaten und jeder fasste an und strebte aufwärts. So entstand in Westdeutschland das „Deutsche Wirtschaftswunder“ und Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard schrieb sein berühmtes Buch „Wohlstand für Alle“, seine Idee einer Sozialen Marktwirtschaft.54 Ich erinnere mich noch, welcher Jubel es war, als in der Familie der erste Farbfernseher gekauft wurde, die Kohleöfen durch eine Heizung ersetzt wurden, eines Tages ein Telefon im Haus war und wir zum ersten Mal mit einem Flugzeug nach Italien in den Urlaub flogen. Alles ging aufwärts, nach vorne. Angst gab es eigentlich nur vor den Russen und ihren Atomraketen, aber die hatten ja auch Angst vor uns. In Anlehnung an einen Adeligen zur Zeit der Französischen Revolution konnte man sagen: „Wer die Welt vor 89 nicht gekannt hat, weiß nicht, was Leben ist.“ Dann kam Gorbatschow und die Grenzen öffneten sich. Nun kam der Aufschwung auch in Mitteldeutschland. Endlich wieder vereint. Und auch dort nun das Gefühl: Es geht aufwärts. Alles war gut. Insgesamt war es eine angstfreie und zukunftsmutige Zeit. So sollte es jetzt gemeinsam weitergehen. Prima.

Hat man alles, entsteht natürlich auch die Möglichkeit, dass man das Errungene wieder verliert. Bleibt unser Wohlstand? Gibt es vielleicht Gefahren? Kann es immer weiter aufwärts gehen? Der Planet ist doch endlich, wie der Club of Rome schon 1972 festgestellt hatte.55 Ist das Wirtschaftswachstum irgendwann endlich? Zweifel kamen auf. Das kann doch nicht immer so weitergehen. Und die Umweltauswirkungen sahen wir auch. „Rettet den Wald“ von Horst Stern56, „Rettet das Meer“57, „Rettet …“ wurden bekannte Buchtitel. In den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts kippte der Optimismus zunehmend in sein Gegenteil. Angst kam auf, Angst, auf der Bedürfnispyramide wieder hinabzusteigen. Und Angst lähmt, sagt der Volksmund zu Recht. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hatte 1992 noch vom Ende der Geschichte geschrieben, womit er meinte, nach der Auflösung des OstWest-Konfliktes käme nun eine Zeit des Friedens und des Wohlstandes.58 Kaum jemand merkte es, aber langsam und stetig änderte sich alles, die Geschichte ging doch weiter.

Wenn nun im Denken die Auffassung, dass es bergauf geht, immer schwächer wird und auch ein Bewahren des Errungenen nicht mehr sicher erscheint, wird es kritisch. Wir können etwas verlieren, was wir schon erworben hatten, wir können auf den Stufen unserer Bedürfnisbefriedigung wieder herunterfallen. Allein der Gedanke daran macht uns Angst. Und genau diese Gedanken beschäftigen viele Menschen in den letzten Jahren. Der erste große Schock kam mit der Agenda 2010, einem Konzept zur Neuorganisation des Arbeits- und Sozialsystems in Deutschland durch Bundeskanzler Gerhard Schröder und die SPD in den Jahren 2003–2005, auf das Beschäftigte und Arbeitslose mit höchsten Verlustängsten reagierten und das die SPD ihre Stellung als Volkspartei kostete, mit Stimmenverlusten, von denen sie sich bis heute nicht erholen konnte.59 Weiter ging es mit den Problemen in der Wirtschaft, am Arbeitsmarkt und in der Finanzwelt. Immer mehr Menschen empfanden, dass die besten Zeiten vorbei waren und es eher wohl weiter abwärts gehen würde. Entsprechend stieg die Angst vor eigenem Abstieg.

Haben wir eben vorerst die Angst definiert als subjektives Empfinden möglichen Verlustes, so können wir dies nun präzisieren: Angst ist das subjektive Gefühl der Möglichkeit eines Verlustes von erreichten Positionen auf der Skala der Bedürfnisbefriedigung. Schauen wir uns einmal an, was das in der Coronazeit bedeutet:

1. Grundbedürfnisse

Den Regierungen kann nur daran liegen, die Grundbedürfnisse zu gewährleisten. Essen, Trinken, Wohnen, Wärme etc. stehen den Bürgern in vollem Umfang zur Verfügung und werden auch Bedürftigen durch Sozialleistungen gewährleistet. Und da tuen sie auch gut dran. Denn die Geschichte zeigt, dass die Nichtgewährleistung von Grundbedürfnissen die Menschen in die Rebellion treibt. Sind die Grundbedürfnisse nicht mehr voll gedeckt, haben die Menschen nichts weiter zu verlieren. Also kann und muss man den Aufstand wagen.60 So gingen der Französischen Revolution von 1789 und der Revolution 1848 Hungerkrisen voraus, ausgelöst damals durch Ernteeinbußen aufgrund vulkanischer Eruptionen mit Fallout größerem Umfangs und Minimierung der solaren Einstrahlung.61

Angst, dass die Befriedigung der Grundbedürfnisse einmal nicht mehr so sicher sein könnte, besteht trotzdem. Vor dem ersten Lockdown, und abgeschwächt auch beim zweiten, kam es zu einem panikartigen Kauf von lange haltbaren Überlebensmitteln wie Nudeln, Reis, Mehl, Hefe und Konserven. Die Regale in manchen Supermärkten waren über viele Tage völlig leer. Ebenso geschah es skurriler Weise mit Toilettenpapier, das lange nicht erhältlich war und danach dann erst nur zu exorbitanten Preisen. Es ging der Witz um: „Die Italiener decken sich mit Rotwein ein, die Franzosen mit Kondomen und die Deutschen mit Toilettenpapier.“ Jeder halt mit dem, was man in der Not braucht. Die Lage hatte sich bald wieder entspannt, gab jedoch einen Vorgeschmack, was bei einem Zusammenbruch der Wirtschaft oder längeren Lockdowns geschehen kann, und dass eine Angst vor einer Nichtbefriedigung der Grundbedürfnisse latent vorhanden ist.

Gleichwohl sind derzeit unsere Grundbedürfnisse, rein sachlich betrachtet, völlig gedeckt. Doch nein! Was ist denn mit der Gesundheit und dem Leben? Maslow führt beide in seiner Bedürfnispyramide nicht auf, als wenn es da kein Bedürfnis gäbe. Man kann sich tatsächlich streiten, ob Leben und Gesundheit eine Stufe in der Bedürfnispyramide darstellen oder ob sie der Sinn sind, wofür es die Bedürfnisse überhaupt gibt. Aber das ist eine rein philosophische Betrachtung ohne wirkliche Notwendigkeit. Fakt ist jedoch, dass Leben und Gesundheit unsere allertiefsten Sehnsüchte darstellen. Die Angst vor dem Tod ist die größte und basalste Angst, die der Mensch haben kann. Und wenn eine Krankheit zum Tode führen kann, ist sie angstbesetzt. Unter den reinen Grundbedürfnissen steht somit eine Sehnsucht nach einem gesunden Leben ohne Todesgefahr.

Genau diese basale Ur-Angst wird in Coronazeiten geschürt. Kein Wunder, dass die Menschen fluchtartig vor anderen weglaufen und sich in ihren vier Wänden erstarrt zurückziehen. Wie man die Angst vor dem Tod überwinden kann, schauen wir uns in Kapitel 10 an.

2. Sicherheitsbedürfnisse

Stabilität ist in der Coronazeit nicht mehr vorhanden. Jeden Tag gibt es neue Schreckensmeldungen, neue Gefahren, neue Regelungen, die beachtet werden sollen. Wie es weitergeht, ist unklar. Vieles, was seit Langem Bestand hat, kann nun wanken und stürzen. Ja, Instabilität ist derzeit das Kernmoment des weltweiten Politik- und Gesellschaftssystems. Dies ist ein typisches Phänomen, wenn ein solches System kollabiert und ein neues System im Entstehen ist. Man nennt dies einen Phasenübergang zwischen zwei stabilen Zuständen. Und solche Phasenübergänge sind immer chaotisch und unberechenbar. In ihnen geschieht nichts mehr nach Vernunft und vieles erfolgt plötzlich, unerwartet und unvorhersehbar. Instabilität vernichtet so das Alte und schafft etwas Neues. Und da stecken wir mittendrin. Näheres zum Systemwechsel werden wir uns in Kapitel 11 ansehen.

Sicherheit geht an allen Fronten verloren. Wird der Job morgen noch bestehen oder folgt Arbeitslosigkeit? Sterbe ich an Corona? Muss ich bald in Konkurs gehen? Kann ich mich im Supermarkt anstecken? Was wird, wenn ich mich infiziere? Bricht das Weltfinanzsystem zusammen? Sterbe ich an der Impfung? Kann ich mein Haus weiter abbezahlen? Und was ist mit meinem Ersparten und meiner Rente, mit Bekannten und Verwandten? Werde ich eingesperrt, wenn ich dagegen demonstriere? Sicherheit geht während eines Phasenübergangs stark verloren. Am sichersten ist es noch, sich zu Hause mit der Familie einzuigeln. Aber gibt es da nicht schon Gerüchte, dass die Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt werden soll?

Insgesamt ist das Grundbedürfnis auf Sicherheit erheblich tangiert. So wenig Sicherheit hatten wir seit 1945 nicht mehr. Das macht erhebliche Angst.

3. Soziale Bedürfnisse

Die sozialen Bedürfnisse sind in der Coronazeit ganz erheblich eingeschränkt worden. Öffentliche Veranstaltungen wurden verboten, ebenso wie Kinos, Gaststätten, Fitnessstudios, Stadtfeste, Weihnachtsmärkte und alles, wo sich sonst die Menschen treffen, um eine schöne Zeit miteinander zu verbringen.

Aber nicht nur das. Alte Menschen werden in Altenheimen und Krankenhäusern völlig isoliert, sodass sie leiden und am Alleinsein verzweifeln. Ein Herr schrieb dazu: „Besuch im Altenheim. Zwanzig Minuten auf Distanz unter Aufsicht, unter ständigen Belehrungen. Abstand halten (das schon panisch wiederholte Mantra des Personals), Zettel ausfüllen. Fragen nach meinem Gesundheitszustand, Fragen, ob Auslandsreisen stattfanden. Ob man müde, erkältet, fiebrig ist u. s. w., man bekommt einen Platz zugewiesen und dann wird der Angehörige hereingeführt. Als ich aufstand, wurde ich angeranzt: ‚Bleiben Sie doch sitzen!‘ Meine Angehörige, die immer fit war, die klar im Kopf war, erkannte ich kaum wieder. Es schnürte mir komplett die Kehle zu. Die Dame ist blass, hat massig abgenommen und ist komplett durcheinander. Der Besuch war wie eine Vorstellung im Knast. Nach zwanzig Minuten musste ich wieder gehen, meine Angehörige wurde widerstandslos ‚abgeführt‘. Es ist unmenschlich, was man mit den Alten macht. Der ‚Schutz‘ ist mehr Drangsal, Entmündigung und Angstmache, Isolation. Das muss aufhören.“62

Ebenso traurig ist es, wenn Väter bei der Geburt ihrer Kinder nicht anwesend sein dürfen oder Kinder nur noch mit einem Freund spielen sollen, wie es die deutsche Bundeskanzlerin forderte. Merkels Idee stieß allgemein auf große Entrüstung.63 Kinderärzte und Kinderschutzbund haben dies als „überflüssig und schädlich“ zurückgewiesen. Hein Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes, sagte: „Da werden Kinder gezwungen, sich zwischen Freunden zu entscheiden. Es wird tränenreiche Zurückweisungen geben. Das ist unbarmherzig.“64

Selbst private Treffen werden erheblich eingeschränkt, sodass maximale Personenzahlen meist aus nur zwei Haushalten vorgeschrieben werden. Mit all diesen Maßnahmen werden die Menschen vereinzelt. Ihr Bedürfnis nach sozialer Nähe und sozialem Austausch wird völlig missachtet und hintertrieben. Vereinzelt man Menschen, lassen sie sich besser lenken und vernetzen sich nicht so leicht zur Rebellion.

4. Individualbedürfnisse

Die Individualbedürfnisse nach Freiheit und Unabhängigkeit sind ebenfalls ganz erheblich eingeschränkt. Reisen ist in vielen Fällen nicht mehr möglich, das Verlassen des Landes und eine Rückkehr werden erheblich erschwert. Ausgangssperren werden angeordnet und Demonstrationen verboten. Den Menschen wird seitens der Regierungen kein Respekt mehr gewährt, ihre Würde genommen und sie wie Gefangene behandelt. Bürger adé, nun sind es Untertanen, die zu gehorchen haben, und es meist auch tun. Ein CDU-Politiker forderte, bei Veranstaltungen nur noch geimpfte Leute einzulassen, sobald ausreichend Menschen geimpft sind.65 In manchen Kreisen gilt bei erhöhten Inzidenzwerten neben nächtlicher Ausgangssperre eine Aufenthaltspflicht in einen 15-Kilometerradius um den Haushalt. Die Freiheit wird somit immer weiter eingeschränkt.

5. Selbstverwirklichung

Da die Menschen mit den vier unteren Stufen der Bedürfnispyramide beschäftigt sind, ist ein tiefes Erleben des Bedürfnisses nach Selbstverwirklichung derzeit kaum möglich.

Insgesamt werden die Bedürfnisse nicht mehr befriedigt. Die ehemals freien Bürger dürfen lediglich noch arbeiten und ihre überlebensnotwendigen Grundbedürfnisse decken. Auf allen Stufen haben sie deutliche Verluste. Das allein führt zu Angst. Und man kann auf diesen Stufen noch mehr verlieren, was noch mehr Angst erzeugt. So werden die Menschen in ihr Erstarrungsverhalten gebracht und weitgehend dort gehalten. So sind sie ruhig und lehnen sich nicht auf. Grundbedürfnisse decken, alle anderen wegnehmen, ist eine Strategie, die immer wieder in der Geschichte funktioniert hat. Das ist weniger als im Alten Rom, wo es neben dem Brot wenigstens noch die Spiele gab.

Insgesamt zeigt sich so die traurige Logik, warum im Moment so viele Menschen in Angst und Erstarrung versinken. Das alles geschieht nicht aus Gründen der Vernunft, sondern allein durch die Angst. Ein Herr schrieb uns drei Erlebnisse:

„Heute habe ich jemanden gefragt, warum er eine Maske aufsetzt und damit ins Gasthaus geht. Er wusste keine Antwort, aber nach langer Überlegung sagte er, weil es so verlangt werde. Tragisch, dass gerade junge Leute keine Eigenverantwortung kennen und nicht in der Lage sind, für sich selber zu denken. So kann man sich leicht vorstellen, was passiert, wenn morgen jemand sagt, Sie müssen ab sofort auf allen vieren und Maske zur Arbeit gehen. Wäre es nicht an der Zeit, dass Erwachsene und Erfahrene solche Menschen aufklären und ihnen ein wenig helfen?“66

„War beim Einkaufen ohne Maske. Fährt mich der Verkäufer an: ‚Junger Mann, haben Sie eine Maske?‘ ‚Haben Sie eine, die schützt?‘, frage ich zurück. ‚Spielt keine Rolle, es ist Pflicht.‘ Was willst du da doch sagen?“67

„Unfassbare Situation! Meine Arbeitskollegen wurden angewiesen, eine Mund-Nasen-Bedeckung und Handschuhe anzuziehen, um ein KFZ in die Werkstatt zu fahren, weil sich die Besitzerin in Quarantäne befindet. Die Vorgehensweise wurde aus reiner Vorsicht aufgrund des Infektionsgeschehens begründet. Habe heute unseren Chef daraufhin konfrontiert und gefragt: 1. Was hat das Fahrzeug mit der in Quarantäne befindlichen Person zu tun? 2. Warum befindet sich die Person in Quarantäne? 3. Bitte um Erklärung und Bedeutung des PCR-Testes. Antwort: ‚Keine Ahnung!‘ So viel dazu.“68

Wir haben definiert: „Angst ist das subjektive Gefühl der Möglichkeit eines Verlustes von erreichten Positionen auf der Skala der Bedürfnisbefriedigung.“ Diese Verluste sind derzeit auf fast allen Stufen der Bedürfnisse zu verzeichnen oder zu erwarten. Da ist es doch kein Wunder, dass die Menschen von Angst ergriffen werden.

Doch wir haben jedoch längst noch nicht sämtliche Aspekte der Angst betrachtet. Zunächst tritt noch ein weiterer wichtiger Aspekt hinzu, nämlich die sozialen Ängste. Und die haben einige Besonderheiten.

46 Vgl. OFENSTEIN 2014: 21.

47 MÜLLER 2020.

48 Bei einigen Tierarten, wie Delphinen, Elefanten, Menschenaffen etc. könnte es möglich sein, dass sie Vergangenheit und Zukunft erkennen.

49 A. A. 2020zzzq.

50 GRIMM & GRIMM 1812.

51 MASLOW 1943, 1954.

52 Siehe dazu TAORMINA & GAO 2013; WAHBA & BRIDWELL 1976.

53 BALLMANN 1978.

54 ERHARD 1957.

55 MEADOWS et al. 1972.

56 STERN 1979.

57 MAYER 1990.

58 FUKUYAMA 1992b.

59 HEGELICH et al. 2011; KINDLER et al. 2004; HÜTHER & SCHARNAGEL 2005.

60 Das erfolgt dann nicht, wenn die Grundbedürfnisse so dermaßen schlecht gedeckt sind, dass man nur noch damit beschäftigt ist, nach Essen zu suchen, wie es beispielweise in manchen Entwicklungsländern der Fall ist.

61 BOER & SANDERS 2004.

62 Mitgeteilt von Josef Rieger.

63 MÜLLER 2020.

64 A. A. 2020zzzn.

65 A. A. 2020zzzp.

66 Mitteilung von Josef Rieger, Heilbronn.

67 Mitteilung von Josef Rieger, Heilbronn.

68 Mitteilung von Josef Rieger, Heilbronn.

Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit

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