Читать книгу Emily Kleins Katastrophenjahre - Jürgen Zahn - Страница 5
Paul, Vicky und andere Chaoten
ОглавлениеIch weiß nicht, ob ihr schon einmal die Gespräche von Schülerinnen auf der Mädchentoilette mitbekommen habt. Erst einmal lungern dort nur die Älteren herum, arbeiten mit Lippenstift und Eyeliner und richten sich damit her, als ob sie gleich an einer Casting-Show teilnehmen wollten.
Und dann dieses ewige Gesülze:„Findest du, dass meine Brust zu klein ist?“ – „Nein! Aber ist mein Hintern nicht zu groß?“ „Vielleicht, aber bestimmt sind meine Beine zu behaart.“
„Dann musst du dich mal rasieren!“ „Wie denn?“ „Dafür gibt`s doch Ladyshave!“ „Wie heißt der Rasierer?“
„Mist, schon wieder ein Pickel! Gerade jetzt, wo ich doch heute mit Nick ein Date habe! - Was soll ich nur tun?“
So viel hilflose Eitelkeit war mir auf den Darm geschlagen, doch ich konnte mein Geschäft, für das ich die Toilette eigentlich aufgesucht hatte, nicht verrichten.
Denn eigentlich musste ich dringend!!!
Gerade hatte ich mich auf der Toilettenbrille niedergelassen, da ertönte von draußen der Alarm: „Lehrer im Anflug!“ Weil Kaugummis im Schulgebäude nicht erlaubt waren, ich aber gerade eins im Mund hatte, entsorgte ich es auf dem Boden.
Die Mädels außerhalb der Toilettenkabinen gerieten ebenfalls in Panik, weil sich eine von ihnen gerade genüsslich eine Zigarette angezündet hatte. „Ausgerechnet die Lindau hat Aufsicht, der scharfe Zahn!“ „Schnell, wirf die Kippe weg!“
Ich bemerkte plötzlich, wie eine brennende Zigarette unter der Kabinentür auf mich zurollte.
„Wer hat hier geraucht?“, hörte ich auch schon die Lindau in einem Anfall äußerster Erregung fragen. Da niemand der Mädels im Vorraum antwortete, klopfte die Lindau an jede Kabinentür: „Aufmachen! Los, sonst gibt´s Ärger! Ich möchte wissen, wer geraucht hat.“
Ich war so erschrocken, dass ich sofort von der Toilettenbrille aufsprang, meine Hose hoch zog , die Kabinentür öffnete und Frau Lindau entgeistert anschaute.
„Hast du mitbekommen, wer geraucht hat?“
Ich muss wohl ziemlich dämlich dreingeschaut haben, denn die Lindau ließ von mir ab und wandte sich der nächsten Tür zu. Da sie auch dort erfolglos war, machte sie schließlich auf dem Absatz kehrt.
Sie verließ unter der Drohung „ Ich erwische euch noch!“ die Toilettenräume, einen Parfümduft hinter sich herziehend, der in etwa so roch wie ein Laternenpfahl ganz unten, an dem kleine Hunde ihre Pippi entsorgen.
„He Kleine, wie hast du das hinbekommen, die brennende Zigarette so schnell verschwinden zu lassen, die ich in deine Kabine geschnipst habe?“
Vor mir stand eine Zehntklässlerin, gefühlt 1,90 Meter groß mit zwei Tunnelohrringen und einem Piercing an der Lippe, Minirock und löchrigen Netzstrümpfen, flippige Kurzhaarfrisur und grellem Kussmund.
Ich schaute mich in der Kabine um. In der Tat, der Zigarettenstummel war nicht mehr zu sehen! Dafür klebte aber eine zähe Masse unter meinem linken Fuß. Als ich ihn anhob, entdeckte ich das Kaugummi, das ich vorhin in meiner Angst ausgespuckt hatte. Ich war wohl beim Öffnen der Kabinentür versehentlich hineingetreten.
Zu meiner Überraschung entdeckte ich mitten im Kaugummi - den Zigarettenstummel!!!
„Du bist ein Hero, Kleines! Hast du super gemacht!“ begeisterte sich der lebende Netzstrumpf, dessen Zigarette es sich in meinem Kaugummi bequem gemacht hatte. „Einfach genial! Darauf muss man erst einmal kommen! Und dann ganz unschuldig tun! Du solltest Schauspielerin werden!“
Wunderbar: Endlich hatte auch an dieser Schule jemand mein Talent erkannt!!!
Heute Morgen hatte Frau Sender im Unterricht eine ganz tolle Idee: „So, liebe Kinder, heute wollen wir die Sitzordnung verändern. Es ist wichtig, dass ihr viele Kontakte innerhalb eurer neuen Klasse schließt. Besonders sollt ihr lernen, dass Jungen und Mädchen gleichberechtigte Partner sind. Gleichberechtigung ist für unsere Gesellschaft sehr wichtig.“
Um die Gleichberechtigung einzuüben, sollte ab dieser Unterrichtsstunde ein Junge neben einem Mädchen an einem Schultisch sitzen. Deshalb mussten sich zunächst alle Mädchen an einer Wand des Klassenraums aufstellen und die Jungen an der gegenüberliegenden. Dann wurde abgezählt, bei den Mädchen von rechts beginnend, bei den Jungen von links.
Ich erhielt Paul als Sitznachbarn. Ausgerechnet Paul!
Paul war so ziemlich das Schlimmste, was mir passieren konnte. Paul war der Kasper der Klasse. Er konnte keine Minute ruhig auf seinem Stuhl sitzen, sondern rutschte ständig hin und her. Zudem hatte er eine große Klappe!
Ständig meinte er, die Mädchen anmachen zu dürfen mit flotten Sprüchen, die er scheinbar von seinem älteren Bruder kannte: „Mädchen sind wie eine Tüte Milch. Wenn man sie stehen lässt, werden sie sauer!“ - „Wie viele Gehirnzellen hat eine Frau? – Für jede Herdplatte eine!“
Neben dem sollte ich jetzt also sitzen? Dem werde ich zeigen, was ICH unter „Gleichberechtigung“ verstehe!
Schon mit Beginn der nächsten Mathe-Stunde hatte Paul angefangen, mich mächtig zu nerven.
Wieder ließ er so einen selten dummen Spruch los: „Weißt du Emily, dass Mathe ein A…loch ist und Physik sein kleiner mieser Bruder.“ Das sollte besonders „gaga“ klingen. Ich fand den Spruch jedoch ausgesprochen niveaulos.
Unser Mathe-Lehrer, Herr Obisch, wollte uns gerade den Unterschied zwischen der Addition und Subtraktion erklären. „Bei der Addition wird etwas mehr, bei der Subtraktion wird etwas weniger!“
Da meldete sich Paul. „Her Obisch, dann sind Addition und Subtraktion ja wie Käse:
Je mehr Käse, desto mehr Löcher.
Je mehr Löcher, desto weniger wird der Käse.
Also: Je mehr Käse, desto weniger Käse!“
Äh????? – Was wollte uns der Spinner Paul damit sagen? Alter Angeber! - Hatte diese Weisheit wohl von seinem Vater, der ein Feinkostgeschäft besaß und scheinbar mit den Löchern im Käse Geld verdiente.
Herr Obisch jedenfalls reagierte verärgert: „Löcher mich nicht mit deinen Löchern! Was du gesagt hast, war totaler Käse!“
Als Paul zu allem Überfluss meinte, aus meinem Etui ungestraft ein paar Stifte klauen zu können, war es so weit. „Emily Klein, jetzt musst du handeln!“, sagte ich mir.
Gerade rutschte Paul wieder mit seinem Gesäß auf seinem Stuhl hin und her.
Das war die Gelegenheit: Ich holte aus und traf mit einem gekonnten Fußtritt seinen Stuhl so heftig, dass dieser zur Seite flog und Paul mit „Krawumm“ auf den Boden knallte.
Jetzt hatte Paul hoffentlich kapiert, was ICH unter „Gleichberechtigung“ verstand: An diesem Tisch wird gemacht, was ICH will! Basta!!!
Die Turnhalle unserer Schule war ca. 2 km vom Hauptgebäude der Schule entfernt. Wir wurden deshalb immer mit dem Bus zur Turnhalle gebracht. Das wäre ja ok, wenn wir nicht zeitgleich mit der Parallelklasse Sportunterricht gehabt hätten. Das bedeutete nämlich, dass wir uns mit circa 60 Schülern der 5. Klasse in einem Bus hineinzwängen mussten.
Auch das wäre nicht so schlimm, aber in der Parallelklasse gab es zwei Schülerinnen, die ich aus unserer gemeinsamen Grundschulzeit kannte und - „hasste“.
Die eine hieß Victoria, genannt „Vicky“. Mein Vater hatte mir einmal erzählt, dass Victoria im Lateinischen so viel wie „Sieg“ heißt. Und genauso benahm sie sich auch.
Sie vermittelte einem den Eindruck, dass man gegen sie nicht gewinnen konnte, weder im Unterricht noch beim Sport noch sonst wo.
Neben ihr im Bus saß Lara, von ihren Freunden „Lalla“, von vielen anderen Schülern aber wegen ihrer Körperfülle „Dickie“ genannt.
„Vicky“ und „Dickie“ waren so etwas wie „Germanys next Topmodels“. Jedenfalls bildeten sie sich das ein, weil sie immer die neusten Tops von Hollister trugen. Und entsprechend arrogant waren sie!
Auf der Fahrt zur Turnhalle lästerten die beiden ununterbrochen über andere Schüler im Bus ab: „Guck mal da vorne, Vicky, schöne Zähne hat die ja. Gab´s die auch in Weiß?“
„Es gibt fast 7 Milliarden Menschen auf der Welt, aber ausgerechnet Emily Klein muss ich hier im Bus begegnen.“
Das war des Guten zuviel!!! Ich sprang von meinem Sitz hoch und griff Vicky von hinten in ihre Lockenmähne und zog. „Das nimmst du zurück!“, schrie ich sie an.
„Hilfe, Frau Ponzava, Emily Klein ruiniert meine Frisur!“, rief Vicky nach der Sportlehrerin, die im Bus als Aufsicht mitfuhr.
„Wo ist hier eine Frisur? - Ich sehe nur Haare, die vor deinem Gesicht weglaufen und sich dann vor Lachen kräuseln“, antwortete ich.
Frau Ponzava sah sich jetzt genötigt, zu den beiden Streithähnen zu gehen und den Streit zu beenden. „Du könntest ein bisschen netter zu Victoria sein. Sie ist so ein wohlerzogenes Mädchen“, redete sie auf mich ein.
Ich überlegte kurz und ließ dann folgenden flotten Spruch ab: „Nett ist der kleine Bruder von blöd! Vicky soll wissen, dass ich nicht so blöd bin, mir alles von ihr gefallen zu lassen.“
Das saß! Frau Ponzava schaute mich entgeistert an, sagte nichts mehr und ging auf ihren Platz im Bus zurück, weil sie glaubte, mit pädagogischem Geschick das Problem gelöst zu haben.
Aber ich war mit Vicky noch nicht fertig!
Da wir die Turnhalle gleich erreicht hatten und der Bus an der Haltestelle abbremsen musste, hatte ich mich schon in den Gang gestellt und nur darauf gewartet, bis Vicky ihren Fuß ebenfalls – um aufzustehen – in den Gang stellte.
Beim Abbremsen machte ich einen raschen Schritt vorwärts und traf – oh Zufall! – Vickys kleines Füßchen, sodass sie aufschrie. „Sorry, Vicky! Aber der Busfahrer hat wohl heute einen schlechten Tag und hat viel zu stark gebremst. Passiert ihm bestimmt nicht noch einmal!“
MEIN TRIUMPH: An diesem Tag hatte ich Victoria zum ersten Mal besiegt.