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Gelebte Utopie

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Langsam erwachte Ole aus einem unruhigen Schlaf, während er zufrieden mit der linken Hand sanft über Annes muskulösen, unbedeckten Rücken strich. Vorsichtig bewegte er sich dabei etwas hin und her, um so eine bequemere Position für sich zu finden. Denn sein eigener Rücken schmerzte gerade unangenehm, obwohl er es mittlerweile gewohnt war, auf dem Rücken zu schlafen.

Dann jedoch schloss er erneut seine Augen, um weiter einen Gedanken nachzuhängen, der sich mit seiner neuen Heimat beschäftigte.

Seine neue Heimat war seit kurzem La Gomera, ein fast paradiesisch anmutender Fleck aus Vulkangestein, der aufgrund seiner geographischen Lage mit ewig frühlingshaften Temperaturen gesegnet ist. Daher ist diese wunderschöne Kanareninsel auch seit Jahrzehnten das Ziel vieler Aussteiger, die hier dem ungemütlichen Klima Mitteleuropas entfliehen.

Doch als Aussteiger sah er sich nicht, wenn dann schon eher als Umsteiger, den es durch die Verstrickung mehrerer glücklicher Umstände hierhergeführt hat. Zuvor hatte er sein altes Leben, als Support Engineer für ein großes amerikanisches Unternehmen, gegen das einfache Leben hier in dieser nahezu tropischen Landschaft eingetauscht.

Dabei stellte er bald fest, dass das einfache Leben hier, bei näherer Betrachtung auch nicht immer einfach war, auch wenn dieses zauberhafte Tal im Südwesten von La Gomera, mit seinen Bananenplantagen und mit seinen jahrhundertealten künstlichen Terrassen, auf den ersten Blick etwas anderes versprach.

Zwar plagten sich hier die Bewohner noch nicht mit den schnöden Wohlstandskrankheiten oder dem medialen Overflow einer westlichen Industriegesellschaft herum, doch war auch hier die Zeit nicht stehen geblieben und die meisten der verbliebenen deutschen Migranten waren mittlerweile weitestgehend in die Gesellschaft integriert. Dabei hatten sie einen mehr oder weniger ausgeprägten Unternehmergeist entwickelt, nur eben anders als in ihrer alten Heimat.

Am meisten spürte er dies hier im El paraíso en el charco, einer kleinen Ansammlung von einfachen Fincas an einem wunderschönen, natürlichen Teich, hoch oben am nordöstlichen Ende der grünen Talzunge von Valle Gran Rey. Hierhin hatten sich Mitte der Siebziger Jahre einige der verbliebenen deutschen Immigranten zurückgezogen, um ihren Traum von einer anderen Gesellschaftsform in die Tat umzusetzen.

Als eine New Community wollten sie hier zusammenleben, lieben und arbeiten, um so eine im industrialisierten Westen längst verlorengeglaubte Ganzheit wieder zu beleben. Zwar hatte sich vieles seit damals verändert und weiterentwickelt, dennoch konnte man deutlich spüren, dass sie das Wesentliche ihres Traums nicht aus den Augen verloren hatten.

Für Ole hingegen als nüchterner, kopfgesteuerter Informatiker, stellte dieses Gegenmodel noch immer eine Art utopische Gesellschaftsform dar, die ihn jedoch sehr real umgab.

Denn während er weiterhin Anne zärtlich über den Rücken strich, kuschelte sich auf einmal auf der anderen Seite Lotta in seinen Arm. „Buenas Diaz! Hast du auch so gut geschlafen?“, gähnte sie leise, wobei sie ihm zärtlich einen Kuss auf die Wange gab.

„Hm“, brummte er gerade zustimmend, als ein lauter Gong erklang, der die zumeist noch schlafende Gemeinschaft zum Frühsport aufrief.

„Mist, schon so spät?“, sah sie überrascht auf die Uhr. „Mir kommt es vor, als wären wir gerade erst ins Bett gegangen“, wuselte sie dabei in ihren kurzen blonden Haaren herum, bevor sie sanft über Annes Wange strich, die daraufhin lächelnd die Augen öffnete.

„Nein, im Bett waren wir schon recht früh!“, küsste sie zuerst Lotta und dann Ole, bevor sie ihm überraschend munter direkt in die Augen sah. „Vamos!“, nickte sie ihn aufmunternd zu, bevor sie ihm einen weiteren Kuss auf die Lippen hauchte. „Dann mal raus aus den Federn! “, erhob sie sich und stieg über ihn hinweg aus dem Bett.

Ole dachte jedoch nicht daran aufzustehen, denn wie jeden Morgen genoss er zunächst einmal den Anblick ihres durchtrainierten Körpers, während sie vor dem bodentiefen Fenster, von dem man einen wunderschönen Blick ins Tal hatte, ein paar Dehnübungen machte, um sich fürs Laufen aufzuwärmen. Als der Gong zum zweiten Mal ertönte, wurde es auch für ihn und Lotta Zeit sich zu erheben, und anzuziehen.

Frühsport an sich und ausgedehntes joggen gleich nach dem Aufstehen in speziellem gehörten eigentlich nicht zu den Dingen, auf die Ole sich überschwänglich freute. Doch schien zumindest sein Körper sich zu assimilieren, so dass er es neuerdings sogar ein wenig genießen konnte, mit den anderen am Rande des immergrünen Nebelwaldes entlangzulaufen, ohne dass er von Seitenstichen oder Kurzatmigkeit geplagt wurde.

Den krönenden Abschluss, dieses sportlichen Ausfluges am Busen der Natur, bildete dabei stets ein gemeinsames Bad in dem großen, natürlichen Teich im Herzen ihrer kleinen Siedlung.

Als er zum ersten Mal an diesem öffentlichen Bad teilgenommen hatte, kam es seiner Vorstellung von einem Garten Eden sehr nahe. Denn egal, ob jung oder alt, alle gaben sich hier völlig natürlich und plantschten ausgelassen herum, wobei selbst die anwesenden Teenager keine Probleme mit ihren sich transformierenden Körpern hatten.

Während des darauffolgenden gemeinschaftlichen Frühstücks, fühlte Ole sich durch das Bad im eiskalten Wasser erfrischt und voller Tatendrang, was neu für ihn war, ebenso wie das Gefühl, sich als ein Teil einer großen informellen Gemeinschaft zu fühlen. Dieses Gefühl gefiel ihm mittlerweile sehr, nach all der Zeit, der zumeist selbst gewählten Einsamkeit und der körperlichen Gebrechen. So haderte er auch mit der Meinung von einigen der älteren Kommunarden. Denn diese sogenannten Stones betrachteten Anne und ihn bisher lediglich als Sommergäste von Lotta. Nur hoffte er nicht, dass sie am Ende Recht behielten. Lag sein altes Leben gerade nicht nur entfernungsmäßig sehr weit weg von diesem lebens- und liebenswerten Ort.

Als kleine Anerkennung, so empfand er es zumindest, war ihm seit kurzem die Aufgabe übertragen worden, sich um die wirtschaftlichen Belange der Gemeinschaft zu kümmern. Denn diese verpönte monetäre Aufgabe war den meisten der Stones, aufgrund ihrer antimaterialistischen Haltung, naturgemäß zuwider, wollten sie sich doch lieber mit höheren Dingen beschäftigen. Dies konnte er nachvollziehen, was ihn jedoch wunderte, war dass sie sich dann aus seiner Sicht eher niederen Tätigkeiten zuwandten, wie beispielsweise der Landwirtschaft, handwerklichen Tätigkeiten oder dem Betreiben von Restaurants, von denen die Gemeinschaft insgesamt drei Stück besaß.

Ole hingegen freute sich über seine neue Aufgabe, da es ihm die Möglichkeit bot, hinter die Funktionsweise des HFNCI zu schauen. Anne hingegen, als quasi zweite Novizin der Gemeinschaft, wurde als angehende Pädagogin und Mutter die Aufgabe zuteil, sich um die Betreuung der Kleinen der Kommune zu kümmern, was sie auch liebevoll tat.

Die Hippe Freak New Community International oder kurz HFNCI, war die Organisation, die Lottas Vater mit ein paar Gleichgesinnten vor gut dreißig Jahren gegründet hatte, um ihren Traum von einer idealen Welt im Kleinen zu erhalten, nachdem ihnen die Gründe, die Anfang der siebziger Jahre zum Scheitern der Countercultur in Amerika geführt hatte, wie ein Fanal erschien. Denn zu diesem Zeitpunkt kehrten auch hier viele ihrer Brüder und Schwestern ernüchtert oder aus sozialen Zwängen in das schnöde Leben ihrer Elterngeneration zurück. Deshalb unternahm Lottas Clan etwas, dass man ihnen als ein Teil eines bis dahin nicht arbeitenden, mystisch orientierten Strang dieser Subkultur eigentlich nicht zugetraut hatte, und schuf mit dieser Organisation etwas Nachhaltiges.

Etwas Nachhaltiges hatte diese Gemeinschaft auch bei Anne schon hinterlassen. Nachdem sie sich von dem Schock erholt hatte, dass sie von einem eher enttäuschenden one-night Stand schwanger war, konnte sie sich im Kreis der Gemeinschaft dazu durchringen, das ungeborene Leben zu behalten, entgegen ihren eigentlichen straff organisierten Zukunftsplänen.

Als äußeres Zeichen dieser inneren Einkehr und als eine Art Initiationszeichen, hatte sie sich einen fröhlichen Smiley, der frech seine Zunge rausstreckte auf den Po tätowieren lassen. Dieser sollte den Bruch mit ihrer Vergangenheit dokumentieren, in der sie sich ohnmächtig unter der Knute ihres übermächtigen Vaters wähnte.

Nach dieser Renaissance stand sie auch öffentlich zu ihrer, bis dahin sorgsam unterdrückten, sexuellen Neigung für beide Geschlechter und die Polyamory geprägte Umgebung hier ermöglichte ihr das unbeschwerte Ausleben ihrer Persönlichkeit.

Dieser Smiley, den Lottas Mutter als junge Designstudentin entworfen hatte, war mit der Zeit nicht nur ein modisches Accessoire, sondern auch das Markenzeichen des HFNCI geworden und zierte ebenfalls viele Produkte der Organisation.

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