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Der verschrobene Mathematiker

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Die Eleganz der komplizierten Formel begeisterte Dr. Rüdiger Bachmann immer wieder aufs Neue. In seinem Wohnzimmer stand statt eines Fernsehers eine Tafel, wie man sie früher aus Schulen kannte. Bachmann sorgte stets dafür, dass ausreichend weiße und farbige Kreide vorhanden, und der Schwamm zum Wegwischen nicht schon ausgefranst war. Mit weiß brachte er erst den Entwurf der Formel an die Tafel, um dann in genauer Sichtachse zur Tafel zunächst in einem Sessel in gut 2 Meter Abstand Platz zu nehmen. Rechts neben dem Sessel befand sich ein kleiner Beistelltisch, links ein absolut identisches Möbel. Niemals wäre es Bachmann in den Sinn gekommen, unterschiedliche Stile zu mischen, und so bestand die Ausstattung seines Wohnzimmers weiterhin nur aus einer Regalwand des gleichen Möbelherstellers, in der sich Unmengen von Fachbüchern aneinander reihten. Diese spartanische Ausstattung nahm Bachmann nur im Unterbewusstsein wahr, denn er versank jeden Abend in die Lösung mathematischer Probleme.

Mit diesen hatte er auf Arbeit als gut bezahlter Entwickler von Wertpapieranlagen zwar tagein tagaus zu tun, aber er hielt das für eine recht profane Sache, die ihm zwar ordentlich Geld einbrachte, der aber jeglicher wissenschaftlicher Glanz fehlte. Ausgleich fand er nach Feierabend darin, sich ein bislang ungelöstes mathematisches Problem herauszupicken, und über dessen Lösung nachzudenken. So gegen 17 Uhr traf er im Regelfall in seiner Wohnung ein. Es war für ihn höchster Genuss, sich dann dieser Tätigkeit hinzugeben, und bei einem Glas guten Whiskys, welches links von ihm auf dem Beistelltisch stand, und einer Zigarre, welche rechts von ihm in einem Aschenbecher qualmte, hatte er schon einige ganz brauchbare Ideen entwickeln können. Bachmann ließ seine Kreationen immer einige Zeit auf sich einwirken und suchte dann Ansatzpunkte zur weiteren Verfeinerung. Leider stand er immer etwas unter Zeitdruck, denn ab 19 Uhr würde er einer hörbaren Beschallung aus der nebenan liegenden Wohnung ausgesetzt sein, weil die Leute dann dort den Fernseher in Betrieb nahmen. Unter diesen störenden Bedingungen wäre er dann nicht mehr in der Lage, sich zu konzentrieren.

Wenn Bachmann eine Idee zum Umschreiben der Formel hatte begab er sich zur Tafel und wischte den betreffenden Teil weg. Danach schrieb er die Änderungen mit grüner Kreide auf die Tafel. Wieder zurück im Sessel griff sich der Mann ein Kabel, an dessen Ende sich ein runder Knopf befand. Er drückte den Knopf, und der neben dem linken Beistelltisch auf einem Gestell angebrachte digitale Fotoapparat schoss ein Bild von der aktuellen Formel auf der Tafel. Bachmann schmauchte seine Zigarre und nippte am Whisky. Um keiner Ablenkung durch Außengeräusche ausgesetzt zu sein waren alle Fenster in der Wohnung bis mindestens 19 Uhr, also dem Beginn des Fernsehprogrammes nebenan, geschlossen. Manchmal, wenn der Mathematiker erregt an der Zigarre saugte, weil er gerade wieder einem außergewöhnlichen Gedankengang folgte, bildete sich eine Art Nebel im Raum, der den Blick auf die Tafel beeinträchtigte. In solchen Momenten schloss der Mann die Augen, und hatte somit auch noch eine eventuelle visuelle Ablenkung ausgeklammert. Wenn Bachmann dann irgendwann später das Fenster öffnete zog der Dunst in Schwaden am Haus entlang, und ein verwirrter Passant hatte auch schon einmal die Feuerwehr gerufen, weil er einen Wohnungsbrand vermutet hatte. Über dem Mobiliar in der Wohnung des Mathematikers lag überall ein leichter Film aus Ascheflocken und Kreidestaub.

Seine Nachbarn hatte Dr. Rüdiger Bachmann einige Male im Treppenhaus getroffen. Der Mann war um die vierzig, die Frau vielleicht 5 Jahre jünger, ihr Sohn so um die zwölf, dreizehn Jahre. Es reichte nicht einmal mehr zu einem förmlichen „Guten Tag“, denn Bachmann war kurz nach seinem Einzug mit ihnen aneinander geraten. Sein Wohnzimmer wies zirka 25 Quadratmeter auf, die Küche vielleicht 10, und das Schlafzimmer war ähnlich groß. Bachmann stellte also gegen 19 Uhr seine Überlegungen ein und studierte danach noch bis kurz vor 22 Uhr Fachbücher. Dann ging er ins Bett. Am zweiten Tag nach seinem Einzug hörte er durch die offensichtlich dünne Wand, dass sich wohl das Schlafzimmer seiner Nachbarn dahinter befand. Dazu bedurfte es keiner besonderen Überlegungen, denn Bachmann hörte das Paar erst eine Weile herumkichern. Dann knarrte das Bett vernehmlich, und bald darauf fing die Frau an laut zu stöhnen. Rüdiger Bachmann lebte vollkommen asexuell und hatte auch keinerlei Erfahrungen mit Frauen gesammelt, geschweige denn, jemals mit einer geschlafen. Mehr der wissenschaftlichen Erkenntnis wegen hatte er sich Aufklärungsfilme aus den siebziger Jahren angesehen und war regelrecht angewidert gewesen, wie sich die Leute beim Kopulieren anstellten. Dass so etwas angenehm sein sollte bezweifelte er schon. Seine Nachbarn schienen das anders zu sehen, denn die Frau kam jetzt immer mehr auf Touren und feuerte ihren Partner mit Sprüchen wie „Fick mich, du geiler Bock“ und „tiefer, ja, tiefer“ an. Einen Moment war es ruhig, dann hörte Bachmann: „Los, rammle mich jetzt von hinten du Stier, los, schneller, schneller, ah, ah!“

Der Mann brüllte jetzt auch auf und Bachmann lag regungslos auf seinem Bett. Nach einer Weile wurden drüben wieder gekichert, und dann hörte der Mathematiker einen Korken ploppen. Leises Stimmengemurmel von nebenan schläferte Bachmann zunächst ein, aber nur so lange, bis die Frau wieder zu stöhnen begann. Bei der Variation ihrer Anfeuerungsrufe war die Frau durchaus erfinderisch, denn jetzt rief sie ihrem Partner „Ich will richtig durchgevögelt werden, richtig, verstehst du das, du alte Sau, du!“ zu.

Irgendwann war Dr. Rüdiger Bachmann eingeschlafen, um dann abermals durch heftige Geräusche aus der Nachbarwohnung geweckt zu werden. Beim Blick auf die Uhr stellte er fest, dass es schon 0 Uhr 17 war. Erst kurz nach 1 Uhr kehrte dann endgültig Ruhe ein. Am nächsten Morgen fühlte sich Bachmann wie gerädert, aber tröstete sich damit, dass der Kerl von nebenan wohl sein Pulver für eine ganze Weile verschossen haben müsste. Der Abend verlief diesmal ruhig und Bachmann schlief fest und traumlos. Am nächsten Tag wendete sich das Blatt aber wieder, denn genau um 22 Uhr 8 begann das Liebesspiel nebenan erneut. Der Mathematiker hielt sich die Ohren zu, um wenigstens etwas Ruhe finden zu können, aber wie schon bei der vorherigen Veranstaltung ging es nebenan wieder über drei Runden. Bachmann war naturgemäß in Statistik firm und erfasste unter zu Hilfenahme eines Zettels und Stiftes die Anzahl der „Ereignisse“ in den folgenden 2 Wochen. Das Ergebnis war für ihn ernüchternd. Aller zwei Tage kam es zu drei „Ereignissen“. Ausreißer hatte es keine gegeben.

Dr. Rüdiger Bergmann traf das Paar am nächsten Tag beim Nachhauskommen vor dem Haus, und stellte es zur Rede.

„Wie bitte“ fragte die Frau verständnislos „wir sollen unsere „obszönen Handlungen“ einstellen oder wenigstens reduzieren? Drei „Ereignisse“ pro Nacht wären zu viel des Guten? Was geht Sie das denn überhaupt an? Ham Sie einen an der Klatsche, hä?“

„Hör mal zu Kumpel“ ging der über und über tätowierte Mann den Mathematiker an „wann, wo, und wie oft wir bumsen, geht dich einen alten Scheißdreck an! Verstanden? Und jetzt sieh zu, dass du Boden gewinnst! Oder willst du ein paar blaue Augen riskieren, du Vogel?“

Das war der Moment, in welchem Dr. Rüdiger Bachmann den Entschluss traf, sich eine andere Bleibe zu suchen. Es sollte nicht wieder eine Mietwohnung sein, wo er Störungen ausgesetzt wäre, sondern etwas Eigenes, Ruhiges, wo er gedankenversunken an den Formeln arbeiten könnte. In Wildbach gab es ein augenscheinlich gutes Angebot.

Hilfe, meine Nachbarn nerven!

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