Читать книгу Hilfe, meine Nachbarn nerven! - Jörn Kolder - Страница 8
Der japanische Professor
ОглавлениеDai Kanegawa vermisste ab und an seine ursprüngliche Heimat Japan. Dennoch fühlte er sich in der Landeshauptstadt ausgesprochen wohl. Das lag an der Schönheit der Stadt und seiner Arbeit. Dai Kanegawa hatte an der Universität seit drei Jahren einen Lehrstuhl für Kybernetik und Computerlinguistik inne, und ging in seinem Beruf vollständig auf. Dass er gerade in dieser Stadt wissenschaftlich tätig war ging auf zwei Sachverhalte zurück. Einer war reiner Zufall gewesen, der andere einer sentimentalen Laune des Japaners entsprungen. Kanegawa hatte sich über die Jahre zu einem Experten in seinem Fachgebiet profiliert, und demzufolge waren die Universitäten in allen Herren Länder scharf auf seine Anwesenheit. Er hatte in Amerika, in Asien und einige Zeit in Italien geforscht, weil ihm dort überall gute Bedingungen geboten worden waren. Vor vier Jahren war er wieder zu einem Wechsel entschlossen gewesen, denn er konnte nicht in den eingefahrenen Gleisen der Gewöhnung erstarren. Er wollte in Europa bleiben und sah sich um. Speziell in Deutschland. Das war keine nur rationale Entscheidung gewesen, sondern die Sache hatte vor allem mit seiner Herkunft zu tun.
Am 3. April 1945 hatte ein deutsches U-Boot in den Nachtstunden vorsichtig den Schutz eines riesigen U-Boot-Bunkers an der französischen Küste verlassen, und war mit anfangs noch geheimen Ziel in See gestochen (nur der Kommandant kannte es). Da statt der Torpedos diesmal jeder Winkel des Bootes mit verplombten Kisten gefüllt worden war, kamen unter der Besatzung natürlich sofort Gerüchte auf. Einige wollten wissen, dass die Kisten randvoll mit Goldbarren gefüllt waren, andere vermuteten Kunstgegenstände. Der Kommandant jedoch schwieg eisern und ließ das Boot einen Kurs um Skandinavien herum steuern. Nachts fuhr das Boot an der Oberfläche, tagsüber schnorchelte es, um der Gefahr eines Luftangriffes zu entgehen. Erst als man nördlich von Russland die Barentssee erreicht hatte ließ der Kommandant tauchen und erklärte den Auftrag.
In den Kisten befanden sich vor allem Konstruktionspläne und Musterstücke für die Produktion von Strahltriebwerken und Raketen. Ihr Ziel wäre Japan, denn der Verbündete sollte mit Hilfe der Güter, die sich an Bord des U-Bootes befanden, seinen technologischen Rückstand aufholen und das Blatt vielleicht doch noch wenden können. Das Boot kam nur langsam voran und erreichte Ende April die Beringsee vor der Küste Alaskas. Als sich das Boot Japan näherte und ein letztes Mal von einem U-Boot Tanker mit Brennstoff versorgt worden war, nahm der Funker am 8. Mai 1945 einen Funkspruch auf, der die bedingungslose Kapitulation Deutschlands zum Inhalt hatte. Der Kommandant fühlte sich nun nicht mehr an seinen ursprünglichen Befehl gebunden. Er nahm seine Besatzung zusammen und nannte den Männern drei Alternativen. Man könnte in Japan an Land gehen, aber müsste bedenken, dass die Amerikaner wohl bald dort landen würden. Außerdem würde man auf eine unbekannte Kultur stoßen, die der deutschen sicher ziemlich fremd wäre. Man könnte zweitens die weiße Flagge hissen, sich demzufolge aber in Kriegsgefangenschaft begeben, und deren Dauer wäre vollkommen unbestimmt. Außerdem würde man für den Fall der Aufgabe auch noch verlangen, eine Totenkopfflagge am ausgefahrenen Sehrohr anzuschlagen. Für ihn als Offizier wäre dies absolut unannehmbar, denn er würde sich nicht als Verbrecher hinstellen lassen. Man könnte, und diese dritte Variante würde er bevorzugen, mit sparsamster Fahrt nach Südamerika reisen, und sich dort internieren lassen. Vielleicht gäbe es eine Möglichkeit, die brisante Fracht mit ins Spiel zu bringen und sich so Vorteile zu verschaffen. Er würde jetzt eine Bedenkzeit von 3 Stunden ansetzen, und danach sollte jeder der Männer seine Entscheidung vortragen.
Für Kapitänleutnant (Ing.) Ernst Kaltenbaum, den Leitenden Ingenieur des Bootes, war die Sache sofort klar gewesen. Er war 26 Jahre alt, und seine Eltern bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Er war also nur für sich selbst und seine Zukunft verantwortlich. Die Gefangenschaft kam für ihn nicht in Frage, denn er wollte nicht Monate oder gar Jahre hinter Stacheldraht eingesperrt sein. Wenn er aber schon eine neue Heimat wählen sollte, würde er sich für die Interessantere entscheiden, und das wäre zweifellos Japan. Außer ihm konnte sich nur noch einer der Dieselheizer dafür begeistern. Der Kommandant ließ Kaltenbaum nur ungern ziehen, denn der Weg bis Südamerika war weit, und der LI ein hervorragender Fachmann. Trotzdem akzeptierte er die Wahl der beiden Männer, und beide wurden mit einem Dingi am 10. Mai 1945 in Japan an Land gesetzt. Nach einer kurzen Odyssee kamen die Männer in einem Internierungslager unter, und da sie über deutsche Dokumente verfügten, wurden sie nicht weiter belästigt, sondern kurzerhand in einer Motorenfabrik zur Arbeit eingesetzt.
Beide wohnten bei einer japanischen Familie am Rande einer Kleinstadt. Anfangs waren die fremden Sitten für sie sehr gewöhnungsbedürftig, aber das japanische Pflichtbewusstsein entsprach durchaus ihrem eigenen Naturell. Kaltenbaum und sein Kamerad rückten in der Motorenfabrik schnell nach oben, denn die beiden Männer waren auf dem Boot speziell für die Diesel- und Elektromotoren sowie den vielen anderen technischen Kram zuständig gewesen, und konnten eine Menge an Erfahrung und Können vorweisen. Langsam ordneten sie sich in den Lebensrhythmus der Japaner ein, und Kaltenbaum konnte sich nunmehr ganz gut vorstellen, hier ein neues Leben zu beginnen. Das würde aber voraussetzen, dass er die Landessprache beherrschte. Da er über eine hohe Intelligenz verfügte kam er mit Hilfe seiner Quartiergeber schnell voran, und nach einem viertel Jahr konnte er sich einigermaßen verständigen. Als Japan am 2. September 1945 kapitulierte hatte Ernst Kaltenbaum den Krieg ein zweites Mal (jetzt beim Bündnispartner Deutschlands) verloren. An diesem Tag nahm er sich vor, diese Niederlagen durch wirtschaftlichen Erfolg wett zu machen. Nach einem Jahr in dem Land sprach er ein durch den einheimischen Dialekt gefärbtes nahezu perfektes Japanisch.
Das, und seine hervorragenden Fähigkeiten in der Motorenfabrik, ließen ihn 1947 zum technischen Direktor aufsteigen. Keiner der Japaner neidete der Langnase diesen Posten, denn Kaltenbaum beherrschte seine Arbeit mit höchster Perfektion. Er lebte und fühlte sich mittlerweile wie ein Japaner. 1948 war er 29 Jahre alt, und hatte sich ein kleines Haus leisten können. In diesem Jahr traf er auf Aimi (die Schönheit) Takahashi. Diese mandeläugige und schlanke Frau zog ihn sofort in ihren Bann. Sie arbeitete in einer Textilfabrik als Buchhalterin. Kaltenbaum hatte von den Balzritualen in diesem Land keine Ahnung und ließ sich von einem seiner japanischen Freunde und Kollegen (dem Oberingenieur Matsumoto) bei etlichen Gläsern Sake darüber aufklären. So, wie er instruiert worden war, ging er vor. 1949 wurde Aimi Takahashi seine Frau. Ernst Kaltenbaum war nun endgültig in Japan angekommen und ihm war klar gewesen, dass er seinen Namen ablegen und ändern würde. Um aber eine kleine Erinnerung an seine deutschen Wurzeln zu behalten, sollte sein neuer Name zumindest mit K beginnen.
Aus Kaltenbaum wurde so Kanegawa. Bei der Suche nach einem passenden Vornamen schlug ihm sein Freund Oberingenieur Matsumoto bei einer weiteren Zusammenkunft und nach wiederum etlichen Gläsern Sake den Namen Hideaki (der Intelligente) vor. Kaltenbaum war ob dieser Wertschätzung so berührt, dass er mit Matsumoto an diesem Abend mächtig einen über den Durst trank. Hideaki Kanegawa war überglücklich, als seine Frau 1950 einen Sohn zur Welt brachte, der den Namen Dai (Groß) erhielt, weil er bei der Geburt ausgesprochen stramm gewesen war. Das lag mit Sicherheit an den Genen seines Vaters.
Der Junge wuchs behütet auf und seine Eltern kamen in dem nun wieder aufstrebenden Land beruflich gut voran. Hideaki Kanegawa war Direktor der expandieren Motorenfabrik geworden, und seine Frau in die Geschäftsführung des Textilunternehmens aufgerückt. Dai Kanegawa zeigte schon als Junge Interesse an technischen Dingen, und sein Vater freute sich, dass sein Sohn offensichtlich auch eine Neigung zum Maschinenbau hatte. Das schlussfolgerte er aus der Beschäftigung des Kindes mit Baukästen verschiedener Art. Es kam aber anders, denn der Junge studierte später Elektrotechnik, und war in der Zeit der sich rasant entwickelnden Mikroelektronik einer der führenden Köpfe des Landes geworden. Hideaki Kanegawa war fast vor Stolz geplatzt, als sein Sohn Dai schon mit 23 Jahren promovierte, und drei Jahre später als Professor berufen wurde. Zum Leidwesen seiner Eltern zog es Dai Kanegawa mehr in die Wissenschaft, als in die Wirtschaft. Damit war nämlich verbunden, dass er an verschiedensten Orten der Welt forschte, und so seine Eltern nur noch selten sah.
Der ehemalige deutsche U-Boot Mann und seine immer noch schöne japanische Frau erkannten aber, dass dies Dais Berufung war, und ließen ihn gewähren. Beide starben kurz nacheinander mit 85 Jahren hochbetagt im Jahr 2004. Dai Kanegawa ging davon aus, dass er auch so ein Alter erreichen könnte. 2014 war er 64 Jahre alt und suchte nach einem Alterswohnsitz in der Heimat seines Vaters. Nach Japan zog es ihn überhaupt nicht mehr, denn dort hatte er weder Verwandte noch Freunde.
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