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6 Echte und falsche Freunde

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Henk lehnte sich an die Wand des Schulgebäudes und schaute einer Gruppe Jungen zu, die mit ihren Murmeln spielten.

„Was machst du heute Nachmittag?“ Plötzlich tauchte Gerrits Gesicht vor seinem auf.

„Meine Güte, ich hab’ dich gar nicht kommen sehen“, antwortete Henk.

„Tut mir leid. Willst du heute zu mir kommen? Wir könnten ein bisschen Schach spielen, wenn du magst?“

„Ich muss heute Nachmittag zu Hause bleiben. Aber wir könnten uns ja bei uns treffen?“

Mutter ging heute Nachmittag weg, darum konnte er nicht zu Jaap, denn er durfte Liese nicht allein lassen. Vielleicht fing sie dann wieder mit dem Uhrengeschäft an. Er hatte nicht viel Lust, mir ihr dorthin zu gehen. Wenn er sich mit Gerrit verabredete, hatte er auf jeden Fall einen guten Grund, warum das nicht ging. Und im Übrigen hatte Mutter auch gesagt, dass sie nicht damit einverstanden war. Mit Gerrit eine Partie Schach zu spielen, würde bestimmt mehr Spaß machen, als stundenlang mit einer missgelaunten Liese allein zu sein.

Gerrit räusperte sich, gab aber keine Antwort.

„Hey, ich hab’ dich was gefragt. Kommst du zu mir?“

„Nein, das wollen meine Eltern nicht.“

Henk drehte sich abrupt zu Gerrit um. „Was?“

Gerrit blickte auf seinen Jackenärmel und zog an einer Fussel. „Ich darf nicht bei dir spielen.“

„Warum nicht?“, stieß Henk hervor. Wie bescheuert war das denn?

„Wegen deiner Schwester. Weil sie … na ja, weil sie was hat.“ Gerrit sah auf. „Es tut mir leid, ich finde das auch komisch von meinem Vater, aber er sagt, Hitler hätte gesagt, die Behinderten …“ Er beendete den Satz nicht.

„Haha!“ Das war so blöd, dass Henk einfach nur lachen musste. „Dein Vater hört auf Hitler? Denkt er, dass eine Behinderung ansteckend ist oder so?“

„Nein, ähm ja, ich …“ Gerrit begann zu stottern und an seinen Händen herumzufingern.

„Na, was denn nun? Wie denkst du eigentlich selbst darüber, Gerrit?“

„Mein Vater …“

Henk hatte die Nase voll und ging schnell weg. Es kribbelte ihm dermaßen in den Fäusten, dass er Angst hatte, eine Dummheit zu machen.

„Ich finde deine Schwester nicht dumm, Henk.“ Gerrit lief hinter ihm her. „Ich glaube nicht, dass sie in ein Lager gehört.“

Henk drehte sich um und verschränkte die Arme. „Na, das ist ja sehr beruhigend! Aber das mit dem Schachspielen kannst du knicken.“ Er begann zu schreien, und in Windeseile waren sie von ein paar Kindern umringt.

Henk baute sich wütend vor Gerrit auf. „Spiel doch mit deinem Vater, der ist wenigstens noch zu Hause. Ach ja, wieso muss der eigentlich nicht in Deutschland arbeiten?“

„Hey, die kloppen sich gleich!“, johlte jemand, aber ehe die beiden aufeinander losgehen konnten, war Lehrer van Soest bereits zur Stelle. „Was ist hier los?“

„Henk und Gerrit haben Streit, Herr Lehrer“, sagte ein Mädchen.

Eine Hand schloss sich fest um seine Schulter. „Kommt mal eben mit, Jungs.“

Im Flur des Schulgebäudes stellte der Lehrer die beiden einander gegenüber. Plötzlich schien Henks Energie über die schwarz-weißen Fliesen in den Fußboden zu fließen. Er hatte keine Lust mehr auf diesen Streit.

„Jetzt sagt mir mal, was los ist.“

„Nein, Herr Lehrer, es ist meine Schuld“, erklärte Gerrit sofort. „Ich hab’ was Dummes gesagt. Es tut mir leid.“

Henk hörte nur mit halbem Ohr hin und reagierte nicht.

„Stimmt das, Henk? Sag die Wahrheit, was ist dein Anteil an der Geschichte?“

„Es ist so, wie Gerrit sagt“, murmelte er.

„Darf ich dann noch erfahren, was Gerrit genau gesagt hat?“

Beide schüttelten schweigend den Kopf.

„Gut, dann gebt ihr euch jetzt die Hand, und die Sache ist vergessen, Männer. Geht nur gleich ins Klassenzimmer, ich läute jetzt die Glocke.“

Henk streckte die Hand aus und schüttelte kurz die von Gerrit. Dann drehte er sich um und schlurfte in den Klassenraum.

Henk sah auf die Uhr. Noch drei Minuten, dann war es drei. Er hatte Mutter versprochen, dass er Liese etwas vorlesen würde.

„Um drei höre ich auf zu lesen“, erklärte er seiner Schwester, obwohl sie die Uhr nicht lesen konnte. Er kannte Heimatlos inzwischen beinah auswendig, aber seine Schwester bekam nicht genug davon. Winnetou und Old Shatterhand war mehr nach seinem Geschmack. Das Buch lag auf dem Regal an seinem Bett und wartete auf ihn. Noch ein bisschen Geduld, ermahnte er sich selbst.

Als die Uhr zu schlagen begann, schlug er das Buch zu und rannte nach oben. Er war kaum in seinem Zimmer, als er Liese seinen Namen rufen hörte.

„Warte, Liese, ich bin gleich wieder da!“, rief er zurück. Manchmal war ihm danach zumute, einfach zu schreien: „Lass mich in Ruhe!“ Das war gerade solch ein Moment. Sie konnte doch wohl mal eine Minute ohne ihn aushalten?

Er trampelte die Treppe hinunter, legte die Hand auf die Türklinke und nahm einen tiefen Atemzug, bevor er in die Küche ging.

„Da bin ich schon wieder, Liese, du brauchst nicht …“

Henk erstarrte. „Jaap.“

„Hey, Henk. Ich wollte dich zum Fußballspielen abholen. Aber du musst wohl auf Liese aufpassen?“

Henk nickte langsam. Er ging weiter in die Küche hinein, warf sein Buch auf den Tisch und schob einen Stuhl zurück, während er den Blick auf Jaap gerichtet hielt.

„Setz dich doch.“

„Ja, okay.“ Jaap zog seine Jacke aus.

„Willst du was trinken?“

„Gern. Habt ihr vielleicht so was Ähnliches wie Kaffee?“

Henk zog eine Schublade auf und machte sich an der Anrichte zu schaffen.

„Ach ja“, fragte Jaap in gewollt lässigem Ton, „hast du eigentlich meinen Brief gestern noch gekriegt?“

„Hmm“, brummte Henk.

„Heißt das ja?“

Henk ließ ein bisschen Wasser in den Kessel laufen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, bereitete er Getreidekaffee zu. Er hoffte, dass Jaap die Stille unangenehm finden würde und dadurch anfing zu reden. Aber er hatte sich verrechnet. Jaap schwieg auch.

Mit Schwung stellte Henk die Kaffeebecher auf den Tisch und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

Jaap lachte. „Versuchst du mir irgendwas zu sagen?“

„Ich dachte, wir wären Freunde!“

Jaap zog die Augenbrauen hoch. „Ja, klar, stimmt denn irgendwas nicht?“

„Wenn wir Freunde sind, warum machst du dann alle möglichen Sachen, von denen ich nichts weiß?“ Henk blickte Jaap direkt ins Gesicht, um zu sehen, wie er reagierte, aber Jaaps Miene verriet nichts.

„Was solltest du denn wissen?“

„Warum du mit einer Spottschrift in der Tasche herumläufst, zum Beispiel. Und wo du mitten in der Nacht hingehst!“

Jaap nahm einen Schluck von seinem heißen Kaffee. „Hast du den Zettel gefunden?“

Henk nickte kurz.

„Das hab’ ich gehofft. Darum hatte ich dir gestern den Brief in den Kasten gesteckt.“ Jaaps Stimme wurde leiser, und er stützte den Ellbogen auf den Tisch. „Da steht nämlich eine wichtige Nummer drauf.“ Er räusperte sich. „Falls du verstehst, was ich meine.“

„Aha“, antwortete Henk. Er rutsche zur Stuhlkante vor. „Ja“, sagte er, „ich hab’ mir schon gedacht, dass ich ihn gut aufbewahren muss.“ Er hatte das Gefühl, dass er sich umschauen müsste, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war. „Aber es war ganz schön gefährlich, dass du den einfach so verloren hast.“

Erstaunt sah Jaap ihn an. „Gefährlich? Ein kleines Flugblatt, mehr war das nicht.“

„Aha, und was ist mit der geheimen Nummer? Bringst du die Widerstandsbewegung nicht in Gefahr, wenn die in die falschen Hände kommt?“

Jaap riss die Augen auf. „Widerstandsbewegung? Wovon redest du da?“

Henk beugte sich über den Tisch zu Jaap vor. „Von der Nummer auf dem Zettel natürlich! Und dass du mitten in der Nacht zu einer Widerstandsversammlung gegangen bist. Ich hab’ dich weggehen gehört!“

Plötzlich begann Jaap laut zu lachen. Er schlug mit der Hand auf den Tisch. „Widerstand? Hahaha! Wie kommst du denn auf die Idee?“ Er wurde leiser und sah Henk verschwörerisch an. „Diese Nummer ist die Hausnummer von einem Mädchen, mit dem ich mich verabredet hatte! Ich wollte ihr einen Liebesbrief in den Briefkasten stecken. Spionierst du mir nach, oder was?“

Henks Gedanken überschlugen sich: die Spottschrift, die Geräusche in der Nacht, die dunkle Gestalt auf der Straße. Hatte er sich viel zu viel dabei gedacht? Es lag bestimmt an diesen spannenden Büchern und an seiner blühenden Fantasie, dass er sich solch eine abenteuerliche Geschichte zusammengereimt hatte. Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich spioniere dir überhaupt nicht nach. Ich hab’ mir bloß zu viele Gedanken gemacht. Nimm’s mir bitte nicht übel.“

„Ich find’s vor allem witzig.“ Jaap grinste immer noch.

Henk konnte jetzt auch darüber lachen. „Deine Mutter hat sich gestern auch so komisch benommen. Aber als ich später deinen Brief sah, dachte ich mir, dass du dich nicht besonders geschickt anstellst, wenn du wirklich im Widerstand bist.“

„Na ja, meine Mutter ist natürlich total neugierig. Aber ich hab’ echt nicht vor, ihr von Jannecke zu erzählen.“ Jaap sah Henk mit verschwörerischem Blick an, und Henk begriff die Botschaft. „Von mir erfährt sie nichts!“, sagte er schnell.

„Prima. Aber gibst du mir den Zettel dann noch zurück?“

„Klar. Ich hol’ ihn dir. Aber nur, wenn du mir versprichst, dass ich als Erster erfahre, wenn ihr euch geküsst habt.“

„Das binde ich dir doch nicht auf die Nase! Komm, jetzt rück den Zettel schon raus!“

„Das ist besser als Schachspielen mit Gerrit“, sagte Henk. Er schaute in den Atlas, den Jaap von zu Hause geholt hatte. Vor ihnen lag ein Stück Papier, auf das sie die Karte von Europa nachzeichnen wollten. Jaap hatte zu Hause ein Radio versteckt und hörte regelmäßig den Sender Radio Oranje und den britischen Nachrichtensender BBC. Er war schon auf der weiterführenden Schule und konnte ein bisschen Englisch, sodass er die Nachrichten der Alliierten verfolgen konnte – wie weit sie inzwischen vorgedrungen waren und welche deutschen Armeen sie gerade schlugen. Auf der Karte wollte Henk festhalten, wie der Stand der Dinge war. Dann konnte er sehen, wie die Freiheit immer näher kam. Jaap hatte versprochen, ihn dabei auf dem Laufenden zu halten.

„Wolltest du mit dem Depp vom Schwimmbad Schach spielen?“

„Ja, aber er darf nicht zu mir nach Hause kommen. Das hat sein Vater verboten, weil Liese behindert ist.“ Henk spürte, wie der Zorn vom Vormittag erneut in ihm aufstieg.

„Toller Freund.“ Jaap schaute Liese an, die mit einem Stofftüchlein spielte.

„Früher waren Gerrit und ich gute Freunde. Ich glaube, ich sitze schon seit der ersten Klasse neben ihm. Aber in der letzten Zeit benimmt er sich oft ziemlich komisch. Ich frage mich, was mit seinen Eltern los ist. Vielleicht sind sie in der NSB1.“

„Ich würde es nicht mit ihm verderben, aber halt ihn ein bisschen auf Abstand.“

„Ja, das habe ich auch gedacht. Aber er hat gesagt, Hitler hätte etwas über Behinderte gesagt. Weißt du irgendwas darüber?“

Jaap schüttelte den Kopf. „Ich will so wenig wie möglich über den blöden Moffen2 nachdenken. Aber ich weiß, dass er so gut wie alles verabscheut, was nicht blond, deutsch und arisch ist.“

Henk nickte schweigend und wünschte sich, dass er nicht damit angefangen hätte. Es machte ihn traurig.

„Was meinst du, Jaap, wird es diesen Winter noch eine Elf-Städte-Tour3 geben?“

Jaap sah ihn erstaunt an. „Na, das hoffe ich doch. Dann machen wir mit, okay?“

„Abgemacht. Sobald wieder Frost ist, fangen wir an zu trainieren, damit wir Sietze de Groot schlagen können. Vorausgesetzt, ich kann an Schlittschuhe kommen, die mir passen. Meine alten sind viel zu klein.“

„Ich hab’ noch ein Paar auf dem Speicher liegen, vielleicht passen sie dir.“

Während er das sagte, kam Mutter herein. Sie gab Henk einen Kuss. Schnell fuhr er sich mit der Hand über die Wange.

„Hoffen wir, dass es diesen Winter nicht so kalt wird.“ Sie pustete in ihre Hände. „Ich kann ja jetzt schon kaum noch Kohlen bekommen. Eis und Schlittschuhlaufen – du lieber Himmel, das fehlt mir gerade noch!“

Henk und Jaap wechselten einen Blick und waren sich einig. Wenn es nach ihnen ging, mindestens fünfzehn Zentimeter Eis. Die Kälte würden sie gern in Kauf nehmen.

1 Am Ende des Buchs findest du eine Liste mit Worterklärungen.

2 „Moffen“ (Singular: „Mof“) war die verächtliche niederländische Bezeichnung für die deutschen Besatzer (Anmerkung der Übersetzerin).

3 Traditionelles Schlittschuh-Rennen in den Niederlanden (Anmerkung der Übersetzerin)

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