Читать книгу Das Versteck im Uhrmacherhaus - Judith Janssen - Страница 7

3 Nachtwache

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„Henk!“ Irgendjemand rief aus der Ferne seinen Namen. Dann noch einmal: „Henk!“

Langsam kam er in die Gegenwart zurück. Er kannte diese Stimme. Es war die Stimme von … Herrn van Soest, seinem Lehrer! Blitzschnell schoss Henk hoch. Hatte er wirklich auf seinem Pult gelegen und geschlafen? Ihm wurde plötzlich siedend heiß, und er wusste, dass er die Lachsalve, die seine Klassenkameraden auf ihn losließen, verdient hatte.

Vor seinem Pult erschien ein dunkler Schatten, und Henk wagte nicht aufzublicken. „Tut mir leid, Herr Lehrer“, murmelte er so leise, dass der ihn gerade noch verstand.

„Ist schon in Ordnung. Schließlich ist Montagmorgen, und es war eine unruhige Nacht mit all diesen Flugzeugen. Da konntest du bestimmt nicht richtig schlafen.“ Henk sah auf. Er wusste ja, dass Herr van Soest ein netter Lehrer war, aber er war trotzdem überrascht. Er konnte nur dankbar nicken, obwohl er es selbst besser wusste. Es waren nicht die Flugzeuge, die ihn letzte Nacht um den Schlaf gebracht hatten.

„Schlaf gut, Junge“, hatte Mutter ihm gestern Abend zugeflüstert. „Vielleicht bekommen wir ja morgen Nachricht von Vater.“ Henk hatte geantwortet, dass er das auch hoffe, und hatte sich noch ein bisschen tiefer unter die Decke verkrochen. Es kam ihm vor, als hätte er überhaupt noch nicht geschlafen, als er plötzlich ein Poltern hörte.

„Mutter?“ Er rieb sich die Augen. War sie immer noch da? Im Zimmer war es stockfinster. „Mutter?“ Keine Reaktion, nur Liese stöhnte leise im Schlaf.

Hatte er das Geräusch nur geträumt? Er spitzte die Ohren, schob langsam die Decke zur Seite und kletterte aus dem Bett.

„Klick“, machte es irgendwo. Henk hielt sofort inne.

Wie spät war es, und woher kamen diese Geräusche? Auf dem kalten Boden setzte er einen Fuß vor den anderen und tastete sich zu dem verdunkelten Fenster vor. Einbrecher vielleicht? Aber die müssten dann ziemlich dumm sein, denn hier gab es nichts zu holen. Er zitterte. Es war kalt im Zimmer, und sein Schlafanzug war dünn.

Vorsichtig schob er in einer Fensterecke das schwarze Tuch zur Seite. Er drückte sein Gesicht ans Fenster, um besser sehen zu können. Schwarze Giebel, graue Wolken und ein fahler Mond. Bis jetzt nichts Besonderes.

Er kniff die Augen zusammen. Irgendetwas war los, er hatte das nicht geträumt. „Na bitte!“ Er grinste zufrieden. „Ich wusste doch, dass ich nicht spinne.“

Draußen lief jemand herum, das hatte er genau gehört. Nun sah er eindeutig einen geheimnisvollen Schatten, der anscheinend aus Jaaps Haus gekommen war. Aufmerksam verfolgte Henk die Gestalt und spürte, wie er vor Aufregung zu zittern begann. Nicht zu glauben – es war Jaap selbst! Jetzt begriff er es. Die Treppe und die Eingangstür von Jaaps Haus lagen direkt neben seinem Zimmer. Daher waren die Geräusche gekommen!

Was wollte Jaap denn da machen, mitten in der Nacht? Das war zumindest einmal ziemlich eigenartig. „Was hast du vor, Freundchen?“, flüsterte Henk, während sein Nachbarjunge hinter einer Häuserreihe verschwand.

Es wurde höchste Zeit, dass er Jaap wieder einmal unter vier Augen sprach. Vorausgesetzt, dass er ihn zu fassen bekam. Nach dem Schwimmbadbesuch am vergangenen Samstag hatte Henk noch zwei Mal vergeblich bei ihm geklingelt. Seine Mutter hatte jedes Mal behauptet, er wäre gerade weggegangen. Das war an sich nicht so merkwürdig, aber nun wusste er es genau: Jaap führte etwas im Schilde, und möglicherweise hatte es etwas mit dem Widerstand zu tun. Das würde mal wieder zu ihm passen. Aber er würde dahinterkommen, so wahr er Henk Overveen hieß! Diese Nacht würde er wach bleiben, bis sein Nachbarjunge wieder nach Hause kam. Ja, das würde er tun. Und morgen früh würde er bei Jaap vor der Tür stehen und ihm ordentlich einheizen.

Er zog sich einen Sessel ans Fenster und legte zwei Kissen darauf. So konnte er gut sehen. Dann schnappte er sich eine Decke von seinem Bett und kuschelte sich zufrieden in den Sessel. So ließ es sich aushalten. Er legte den Kopf an die kühle Fensterscheibe und starrte unablässig nach draußen. Ab und zu kam der Mond zwischen den Wolken hervor. Aber das war dann auch das Interessanteste, was er beobachten konnte. Es schienen Stunden zu verstreichen, ohne dass das Geringste geschah.

Natürlich schlief er dann doch ein, den Kopf ans Fenster gelehnt. Er schlief, bis in der Ferne Flugzeugmotoren zu hören waren und Liese dadurch erwachte. Sie hatte Angst vor diesem Geräusch, und es schien, als könnte sie die Flugzeuge schon hören, wenn sie eben erst in England aufgestiegen waren. Dann wollte sie zu Henk ins Bett. Zu zweit war es da ziemlich eng, sodass an Schlafen erst einmal nicht zu denken war.

„Heng, bist du?“, hörte er Lieses ängstliches Stimmchen.

Er seufzte und streckte die Hand nach seiner Schwester aus, die neben seinem leeren Bett stand. „Hier, Liese, ich sitze hier am Fenster. Leg dich schon mal in mein Bett und mach dir’s gemütlich.“ Es war einen Versuch wert. Liese war so wunderbar einfach. Sie stellte keine lästigen Fragen, und das war jetzt wirklich praktisch. Sie tat, was Henk sagte, und so konnte er weiterhin Wache halten. Es konnte natürlich sein, dass Jaap inzwischen nach Hause gekommen war, aber nach seinem Gefühl war er vorhin nur ganz kurz eingenickt.

„Heng, Liese kalt.“

„Was sagst du?“

„Liese kalt.“ Henk hörte, wie sie mit den Zähnen klapperte, und verstand. Sie hatte keine Decke.

„Hol dir einfach deine eigene Decke von deinem Bett.“ Er wollte jetzt an seinem Platz bleiben, Liese kam schon zurecht.

Sie brabbelte irgendetwas vor sich hin. Draußen flogen die ersten Flugzeuge mit Kurs auf Deutschland vorbei, und die grellen Scheinwerfer flackerten durch die dunkle Nacht. Liese jammerte.

„Es passiert schon nichts, Kleines“, versuchte Henk seine Schwester zu beruhigen, aber nun begann sie doch richtig zu weinen.

Henk blickte noch einmal auf die Straße hinaus. Nichts. Er seufzte. „Na gut, Liese, dann leg dich halt ohne Decke in mein Bett. Ich komme gleich nach.“ Im Stillen hoffte er, dass sie einfach einschlafen würde, auch wenn die Chancen dafür ziemlich schlecht standen.

„Heng, Hilfe!“ Henk hörte ihrer Stimme an, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie völlig aus der Fassung war. Mutter würde darüber nicht gerade erfreut sein. Und er selbst natürlich auch nicht.

Er sprang aus seinem Sessel. „Na, komm schon her.“ Er schnappte sich die Decke von Lieses Bett und schubste sein Schwesterchen mitsamt der Decke auf sein Bett. In diesem Moment ertönte wieder das Geräusch einer Tür, die zugezogen wurde.

Zu spät! Als er das schwarze Tuch noch einmal zur Seite schob, war nichts mehr zu sehen. Die Straße sah genauso verlassen aus wie vor einer Minute.

„Nicht zu glauben“, schimpfte Henk leise. Nun hatte er die ganze Nacht dort gesessen, ohne dass irgendetwas passiert war, und gerade in dem Augenblick, als er kurz weg war, kam Jaap zurück. Nun ja, es konnte auch jemand anders gewesen sein – aber das schien ihm doch ziemlich unwahrscheinlich. Es war natürlich möglich, dass Jaap jemanden mitgebracht hatte. Oder dass eine ganze Gruppe von Leuten ins Nachbarhaus gekommen war, oder … Nun ja, so schnell fiel ihm nichts anderes ein, aber was auch immer passiert war: Er hatte es verpasst.

„Heng, komm!“ Liese schlief immer noch nicht.

Er holte tief Luft. „Ja, ich komme.“ Das Verdunklungstuch befestigte er jetzt nicht noch einmal neu, darum konnte er sich morgen kümmern.

Durchs Fenster fiel ein Lichtstrahl ins Zimmer. Henk sah auf den Wecker. Halb drei. Lieses Atem wurde langsam ruhiger. Noch ein paar Stunden, dann würde er bei Jaap vor der Tür stehen. So früh wie möglich!

„So, Kinder, die Stunde ist fast herum“, sagte der Lehrer. „Wir singen zum Abschluss noch ein Lied, und dann sehen wir uns morgen wieder.“

Der Lehrer legte einen Finger an die Lippen, und die ganze Klasse wusste, was sie singen würden: die englische Nationalhymne. Nun, da regelmäßig Gerüchte über die bevorstehende Invasion die Runde machten, konnten sie ruhig schon mal damit anfangen, die Nationalhymne der Befreier zu üben, meinte Herr van Soest. „Dann können wir sie damit begrüßen, wenn sie demnächst durch Haarlem fahren“, hatte er gesagt.

Henk sah sich vorsichtig in der Klasse um. Das war vielleicht nicht so klug von seinem Lehrer. Was, wenn es unter den Kindern einen Verräter gab, der das weitererzählte? Mutter sagte immer wieder, dass man heutzutage niemandem mehr vertrauen konnte. Aber er sah nur strahlende Gesichter um sich herum, als sie gemeinsam „God save our gracious king“ anstimmten.

Gott behüte unseren gnädigen König. Natürlich ging es um den englischen König, aber alle dachten jetzt auch an ihre eigene Königin, die in England im Exil war. Und nicht zu vergessen: die Prinzessinnen, die weit weg in Kanada waren.

Es war schön, solch ein Lied zu singen, selbst wenn es nur leise war. Henk versuchte, sich vorzustellen, dass ein Tag kommen würde, an dem Königin Wilhelmina wieder zurückkam und alles wieder so war wie früher. Aber es gelang ihm kaum. Es war schon so lange Krieg, dass er sich kaum noch daran erinnern konnte, wie es davor gewesen war. Auf jeden Fall würde Vater dann wieder da sein, und schon das würde alles besser machen.

Der Lehrer beendete den Morgen mit einem Gebet, dessen Inhalt jedoch an Henk vorbeirauschte. Seine Gedanken waren wieder bei den geheimnisvollen Geschehnissen der vergangenen Nacht. Er hatte es heute Morgen nicht geschafft, zu Jaap zu gehen, denn er hatte verschlafen. Das ärgerte ihn – aber vielleicht sah er ihn heute Nachmittag …

Während er aus dem Klassenraum ging, warf er noch einen Blick auf die Tafel. Oh je, das hatte er auch verpasst, als er eingenickt war: Sie hatten Rechen-Hausaufgaben, und zwar ganz schön viele. Er musste auch noch Kohlen holen und mit Liese spazieren gehen. Sonst kam sie zu wenig an die frische Luft, und das war ungesund, meinte seine Mutter. Er hatte gedacht, dass er jetzt mehr Zeit haben würde, weil er nur noch morgens zur Schule musste. Aber das stimmte leider nicht. Mutter hatte immer noch irgendwelche Extra-Aufträge für ihn. Und sie waren meist nicht besonders angenehm. Aber heute Nachmittag musste er wirklich zu Jaap. Dann musste der Spaziergang mit Liese eben etwas kürzer ausfallen.

Das Versteck im Uhrmacherhaus

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