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2 Einfach Liese

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„Kommst du zum Essen, Henk?“, hörte Henk seine Mutter von der Treppe her rufen, und er sprang erschrocken von seinem Bett herunter. Schnell das Flugblatt verstecken, bevor sie in dem Zimmer stand, das er mit Liese teilte. Er hatte sie schon oft gebeten zu klopfen, bevor sie hereinkam, aber das machte sie immer noch nicht.

Auch jetzt trat sie einfach ein. „Sind die Fenster gut verdunkelt?“

„Würdest du bitte klopfen, ehe du reinkommst, Mutter?“ Während seine Mutter zum Fenster ging, um die Verdunklung zu überprüfen, schob Henk mit dem Oberschenkel seine Nachttischschublade zu. Das war kein gutes Versteck, aber im Moment ging es. Er würde es Jaap sowieso zurückgeben.

„Wieso soll ich denn klopfen, es ist doch auch Lieses Zimmer! Kommst du runter? Ich hab’ Bohnensuppe gekocht, und Liese ist müde.“

Mutter seufzte und Henk sah in ihr blasses Gesichts. Seit Vater weg war, hatte sie eine tiefe Falte zwischen den Augen.

„Danke, dass ich heute mal wieder schwimmen gehen durfte, Mutter.“

Sie nickte und fuhr ihm mit der Hand durchs Haar. „Dann brauchst du heute Abend auch nicht mehr zu baden, ist doch praktisch. Komm.“

In dem kleinen Wohnzimmer war es warm und gemütlich. Liese saß in dem großen Sessel am Ofen und hielt ihre Puppe an sich gedrückt. Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Augen glänzten fiebrig. Er sah seine Mutter fragend an. War Liese krank?

Obwohl seine Schwester fast elf war, nur ein Jahr jünger als er selbst, war sie noch wie ein kleines Kind. So würde sie auch immer bleiben.

Henk erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem ihm klar wurde, dass seine Schwester nicht so war wie andere Mädchen. Er war sieben und hatte mit Liese draußen gespielt. Eine Mutter mit zwei Kindern war vorbeigekommen, und den Kindern waren beinah die Augen aus dem Kopf getreten, als sie Liese anstarrten.

„Was glotzt ihr denn so?“, hatte Henk gerufen.

Die Mutter hatte ihre Töchter an den Händen gepackt. „Kommt, das Kind ist nicht in Ordnung, sie kann nichts dafür.“

„Nicht in Ordnung? Du bist selber nicht in Ordnung!“ Henk war auf die Frau zugelaufen und hatte ihr frech die Zunge herausgestreckt. Eines der Mädchen sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an und schoss wie ein Blitz nach vorn. Sie stieß ihn mit aller Kraft an die Schulter, und er fiel zu Boden. Aber die Wut, die in ihm aufflammte, sorgte dafür, dass er keinen Schmerz spürte. Er sprang wieder auf, aber sein Knöchel knickte um.

In diesem Moment spürte er etwas Weiches an seinem Arm. „Heng!“ Er hörte eine leise, heisere Stimme neben sich. Es war Liese. Es war Liese!

Verwirrt blickte er in ihr strahlendes Gesicht und hatte die Mutter und ihre Kinder im selben Augenblick vergessen. Es war Liese, und sie sagte seinen Namen! Sie hatte noch nie ein verständliches Wort gesagt, aber das, das war ganz eindeutig sein Name.

„Ja, ich heiße Henk. Gut gemacht, Liese, du kannst meinen Namen sagen!“

Er nahm ihre Hände und wollte herumhüpfen, aber dann spürte er wieder seinen Knöchel.

„Komm, wir gehen schnell zu Mama.“ Humpelnd zog er sie mit sich nach Hause und fragte sie dabei die ganze Zeit: „Wer bin ich?“ Liese antwortete jedes Mal: „Heng“, und Henk lachte schallend vor Begeisterung.

„Was ist denn los?“, fragte Mutter, als sie herauskam.

„Sie hat meinen Namen gesagt, Mama.“ Henk blickte zu seiner Mutter hoch, die Liese auf den Arm nahm.

„Heng“, murmelte Liese, und damit zauberte sie auch auf Mutters Gesicht ein strahlendes Lächeln.

Kurz darauf saß Liese auf ihrem Stuhl. Sie hatte zwei Finger in den Mund gesteckt und starrte verträumt vor sich hin.

Henk saß mit seiner Mutter am Tisch und versuchte zu berichten, was geschehen war. Aber ihr Gesicht wurde immer trauriger, und darum kam er so schnell wie möglich zum besten Teil der Geschichte.

Dann war es still geblieben.

Er hatte einen Schluck von seiner Milch getrunken und tief Luft geholt.

„Warum hat die Frau das gesagt, Mama?“ Er musste es von ihr hören. Was er eigentlich schon die ganze Zeit gewusst hatte, war erst wirklich wahr, wenn seine Mutter es sagte.

Sie blickte zu Liese hinüber, die nichts zu hören schien und in ihre eigene Welt versunken war. Mutters Stimme klang wie ein leiser Wind, als sie langsam sagte: „Nein, Liese ist nicht so wie andere Kinder. Sie wird immer ein kleines Mädchen bleiben.“

Wie das möglich war, hatte Henk nie begriffen. Wie konnte man immer klein bleiben? Und wieso war das schlimm? Und warum war Liese so? Er begriff nichts von alldem, und dennoch, Liese war immer Liese gewesen. Für ihn war sie eigentlich ganz normal. Nur nicht für andere Leute, für Kinder, denen die Augen aus dem Kopf traten. Das war doch auch nicht normal, oder?

Mutter hatte ein Pflaster auf sein blutendes Knie geklebt und ihn auf die Wange geküsst. Draußen rief Jaap, ob er spielen käme. Mutter nickte lächelnd. „Geh ruhig“, sagte sie.

Liese war einfach seine kleine Schwester, aber manchmal war sie etwas Besonderes, zum Beispiel, wenn sie krank war. Dann lief Mutter unruhig im Zimmer auf und ab. Henk musste sich dann ganz brav und still verhalten, und manchmal musste er zwei Mal am Tag zu Doktor Levi laufen. Widerspruch war zwecklos und hätte nur dazu geführt, dass sein Vater einen Wutausbruch bekam, wenn er von der Arbeit nach Hause kam.

Nun sah Henk zu, wie seine Mutter eine Hand auf Lieses Stirn legte. Was war, wenn sie richtig krank war? Doktor Levi wusste immer sofort, was mit Liese los war und wie er mit ihr umgehen musste.

Aber er wohnte nicht mehr in der Stadt, sein Haus stand leer. Eines Tages war der Arzt verschwunden, niemand wusste, wohin. Henk hoffte, dass er an einem sicheren Ort untergetaucht war. Eigentlich hatte Doktor Levi in den Monaten vor seinem Verschwinden nicht mehr als Arzt arbeiten dürfen, aber wenn Henk bei ihm klingelte, nahm er immer sofort seinen Mantel und die schwarze Arzttasche und kam ohne zu zögern mit.

„Hier ist es auch ziemlich warm, Mutter.“ Henk blickte zum Ofen hinüber.

„Ja, es liegt wahrscheinlich daran. Komm, lass uns essen.“

Gute Idee, fand Henk. Sein Magen verlangte sehnsüchtig nach einem leckeren Teller Bohnensuppe. Oder eigentlich einfach nach etwas zu essen – was auch immer es war.

Das Versteck im Uhrmacherhaus

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